Polnisches Verfassungsgericht erklärt EU-Recht für verfassungswidrig – Polexit?

Das Verfassungsgericht in Warschau hat gleich mehrere Bestimmungen des EU-Vertrags für unvereinbar mit der polnischen Verfassung erklärt. Polnische Richter sollen das Recht haben, Gesetze zu verwerfen, die nicht im Einklang mit dem Urteil des EU-Gerichtshofs stehen. Droht jetzt der "Polexit"?

picture alliance / NurPhoto | STR

Der Ausgang der mehrstündigen und teilweise überaus hitzigen Debatte hatte sich bereits angedeutet: Einige der Bestimmungen, mit denen die EU-Kommission ihr Mitspracherecht bei Fragen der Rechtsstaatlichkeit begründet, sind mit der polnischen Verfassung unvereinbar. Der darüber entbrannte Streit hat sich in den Korridoren des Warschauer Verfassungsgerichts zuletzt wieder zugespitzt. Am Ende wurde die zuvor mehfach vertagte Entscheidung aber von den meisten Richtern unterstützt.

Das heutige Urteil markiert einen neuen Höhepunkt im Konflikt zwischen Brüssel und der polnischen Regierung über die Frage, ob die von der Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) forcierte Justizreform den Kriterien der Rechtsstaatlichkeit entspräche. Polens Ministerpräsident Mateusz Morawiecki hatte vorher die Richter in Warschau gebeten, ein Urteil des Gerichtshofs der EU vom März 2021 auf seine Ordnungsmäßigkeit zu überprüfen. Die Juristen in Luxemburg behaupteten, die EU könne einzelne Mitgliedstaaten dazu zwingen, bestimmte nationale Gesetze zu missachten, selbst wenn diese in dem jeweiligen Verfassungsrecht verankert seien. Kurzum: Die mühsam vorbereitete und längst überfällige Reform der polnischen Gerichtsbarkeit könnte gleichsam mit einem Fingerschnips eines „obersten“ EU-Richters im Papierkorb landen.

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Nach der Meinung des EuGH könnte das Verfahren zur Besetzung des Obersten Gerichts in Polen gegen EU-Recht verstoßen. Konkret geht es um eine Kammer, die für Disziplinarverfahren zuständig ist und der seit 1989 vorherrschenden, unkoordinierten und politisch motivierten Willkür bei der Vergabe von Richterposten ein Ende bereiten sollte. Die EU-Kommission hat bereits mehrere Vertragsverletzungsverfahren gegen die konservative Regierung in Warschau eröffnet und Klagen beim EuGH eingereicht. Die Informationen über die vermeintlich „prekäre“ Situation der polnischen Rechtsstaatlichkeit gehen nicht selten auf die teilweise bizarren „Einflüsterungen“ der heimischen Opposition zurück, die offenbar bis heute ihre Wahlniederlagen nicht verkraftet hat und der obendrein diverse Juristen nahestehen, welche die einst unübersichtliche Situation an den polnischen Gerichten herbeisehnen, in der sie sich einst eingerichtet hatten.

Manch ein westlicher Journalist, der nach dem heutigen Urteil erneut auf die Barrikaden springt, kann die Lage der Rechtsstaatlichkeit an der Weichsel kaum abschätzen. Denn um dies tun zu können, lohnt vorab der Blick zurück. Seit den frühen 1990er Jahren konnte man im polnischen Justizwesen einen unerträglichen Abbau der demokratischen Errungenschaften beobachten. Jede Veränderung wurde blockiert, einzelne Reformversuche in grotesken Nacht-und-Nebel-Aktionen im Keim erstickt. Einige offensive „Bremser“ machten nach der politischen Transformation eine eigentümliche Verwandlung zu „Sozialdemokraten“ durch oder schafften gar den Sprung ins EU-Parlament. Und genau diese Personen werden oft in den deutschen Medien als Anti-PiS-Autoritäten herbeizitiert.

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Das Urteil des polnischen Verfassungsgerichts ist kein Präzedenzfall. Das deutsche Bundesverfassungsgericht hatte im Mai 2020 milliardenschwere Anleihekäufe der Europäischen Zentralbank beanstandet. Die Karlsruher Richter haben sich damit gegen ein EuGH-Urteil ausgesprochen. Und sie hatten tatsächlich recht: Die Notenbank hatte damals ihr Mandat für die monetäre Politik überspannt. Allerdings war dieses Urteil lediglich mit starker Symbolik behaftet, weil ein sozialdemokratischer Finanzminister und baldiger Bundeskanzler ihn selbstredend missachten würde. Es bleibt zu bezweifeln, dass künftig eine Ampel-Koalition darauf hinwirken wird, die Methoden der europäischen Währungshüter genauer zu überprüfen.

Der Motor der europäischen Integration stottert nicht erst seit heute (Stichwort: Brexit) . Und er wird irgendwann ausgehen, wenn manche Neomarxisten in Brüssel weiterhin ignorieren, dass Nationalstaaten nicht die „Wurzel allen Übels“ sind. In der aktuellen „Wirtschaftswoche“ unterstreicht der polnische Regierungschef Mateusz Morawiecki nachdrücklich, dass Polen in der EU verbleiben wolle, aber in einer, die ihre Heterogenität auch anerkennt. Dies gelte im Übrigen auch für die Wirtschaft. Zwar seien alle Mitgliedstaaten auf eine konvergente ökonomische Entwicklung bedacht, doch es gebe keine „goldene Regel“. „Über Jahre haben wir im Schatten von neoliberalen Dogmen gelebt – die wollten wir eins zu eins auf die polnische Wirtschaft umsetzen. Heute haben wir erkannt, dass nicht allen dieselbe Größe passt. Wirtschaftspolitik muss pragmatisch sein und offen für Wandel. Vor sechs Jahren war das wichtigste Ziel, Polens Staatsfinanzen zu regeln. Heute ist unser Haushalt einer der stabilsten in ganz Europa. Das eröffnet uns neue Möglichkeiten“, glaubt Mateusz Morawiecki.

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Auch die historischen Prämissen und Wandlungsprozesse im Bereich der Rechtsstaatlichkeit lassen sich nicht über einen Kamm scheren. Zumindest macht es bisweilen wenig Sinn. Die EU-Mitgliedsländer haben unterschiedliche politische und soziale Vorstellungen, wobei aber hin und wieder Analogien zu beobachten sind. Der ehemalige Richter am Bundesverfassungsgericht Dieter Grimm bemängelt, die EU habe sich zur politischen Union entwickelt, ohne dass vorher geeignete Entscheidungsstrukturen geschaffen wurden. „Demokratisch legitimierte Organe und Öffentlichkeit werden ausgeschlossen. Das Demokratiedefizit wächst sich zum Legitimationsdefizit der EU aus“, meint der deutsche Rechtswissenschaftler. Zu ähnlichen Schlussfolgerungen kommt übrigens auch der frühere Bundestagspräsident Norbert Lammert.

Nur die einzelnen Nationalstaaten sind dazu in der Lage, die Nachfrage nach Sicherheit und Gerechtigkeit zu befriedigen, wobei nicht jedes Land gleich aus der Europäischen Union abwandern möchte. Es geht nur darum, den Blick stärker auf die sich differenzierenden Präferenzen zu richten, die sich nicht immer in einen Hut bringen lassen. Das heutige Urteil des polnischen Verfassungsgerichts macht Hoffnung. Vor allem aber ist ein weiterer Weckruf, die bisherige Integrationsstrategie und Kompetenzordnung der EU zu überdenken.

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Wojciech Osiński ist Deutschland-Korrespondent des Polnischen Rundfunks

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Kommentare ( 58 )

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Gerd Heidenreich
3 Jahre her

Weiter so, ihr aufmüpfigen EU-Mitglieder!
Spätestens dann, wenn Deutschland und nur noch ein paar weitere uneinsichtige EU-Staaten die letzten in der EU Verbliebenen sind, wird man einsehen, dass das nicht der rechte Weg war, Völker zu vereinen.

Ben Goldstein
3 Jahre her

Danke!

Ben Goldstein
3 Jahre her

In einer perfekten Welt würde sich die EU zusammenreißen und darauf besinnen, dass sie nur ein Staatenbund ist. In der Realität ist es eine fanatische Religion, die bei jedem Widerspruch mit Strafen droht. Für Osteuropa gilt daher die Devise: Rausholen soviel es geht, dann rausgehen. Ich glaub nicht, dass man noch etwas reparieren kann. Die meisten EU-Institutionen gab es auch schon als unverbindlichere Versionen vor der EU (1991 gegründet). Um Organisationen wie die Polizei, Universitäten oder Geheimdienste kooperieren zu lassen, muss man nicht 80% der Gesetze aus Brüssel machen lassen. Für uns Deutsche wäre es am Besten, wenn Polen und… Mehr

Sonny
3 Jahre her

Als junger Mensch vor dreißig Jahren nahm ich die Polen nur so wahr: Die kommen, holen unseren Sperrmüll und klauen unsere Autos. Ich weiß, Klischee. Aber in jedem Klischee steckt ein Körnchen Wahrheit.
Ich weiß garnicht genau, wann sich mein Bild über die Polen geändert hat, aber heute denke ich über die Polen völlig anders. Sie wurden mir über die Jahre zunehmend sympathischer und mit dem vorsichtigen, wirtschaftlichen Aufstieg der Polen meine ich auch Nationalstolz und Selbstbewußtsein wahrzunehmen.
Das sie sich gegen eine übergriffige EU-Bürokratie wehren, verstärkt bei mir diesen Eindruck nur noch mehr.

outoffocus
3 Jahre her

Wenn sich Frau Barley und Herrn Asselborn dazu öffentlich in den ÖRR melden, dann hat Polen alles richtig gemacht!

Dirk Bender
3 Jahre her

Die EU versucht am Beispiel Polens den Verfassungsumsturz in EU-Europa. Die EU-Kommission will feststellen lassen, dass der Gerichtshof der EU (EuGH) die oberste Instanz in allen Rechtsfragen in EU-Europa ist. Demnach wären die Verfassungen der EU-Mitgliedsstaaten den EU-Verträgen unterstellt. Sie wären damit als Verfassungen praktisch außer Kraft gesetzt. Es sind aber die Mitgliedsstaaten die konstituierenden Vertragsparteien der EU. Damit sind auch die Verfassungen dieser Mitgliedsstaaten die tragenden Säulen des EU-Vertrags-Rechts. Doch nun sollen die EU-Verträge auf einmal selber eine Verfassung sein. Damit würde die Souveränität der Mitgliedsstaaten durch eine Souveränität der EU-Organe ersetzt. Diese würden fortan aus eigener Kompetenz die… Mehr

Marie-Jeanne Decourroux
3 Jahre her

Sogar der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts Andreas Voßkuhle stellte inzwischen fest: „Wir stehen heute vor einer beispiellosen Offensive der EU-Kommission und des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) – einer Art juristischem Angriffskrieg -, die kollusiv zusammenwirken, um im Wege einer Revolution von oben doch noch einen europäischen Bundesstaat herbeizuzwingen.“

Rosalinde
3 Jahre her

Nach Ungarn löckt somit auch Polen wider den Stachel der politischen Kommissare. Gut so. Es wird nicht dabei bleiben.
Weitere Kandidaten dürften Tschechien und Slowakei sein.

KorneliaJuliaKoehler
3 Jahre her

Die EU-Genossen wollen auf Teufel komm heraus den Regierungswechsel in Polen und Ungarn herbeiführen. Ursula von der Leyen hat bei ihrem Amtsantritt deutlich gemacht, dass sie die linke Opposition und NGO‘s in Polen finanziell unterstützen will. Sie unterstellt der polnischen Regierung undemokratisch zu sein! Wer gibt ihr das Recht, sich so abfällig über die polnische Regierung und deren Wähler zu äußern? Wer hat die Demokratie in Deutschland in den letzten 16 Jahren mit Füßen getreten? Hätte sie den Mut gehabt, dasselbe der deutschen Regierung, der sie auch angehörte, zu sagen? Ein nicht unerheblicher Teil der Medien in Polen ist in… Mehr

B. Reuber
3 Jahre her

Die angebliche Vorrang-Diskussion, dass EU-Recht vor Nationalem Recht geht ist sehr abstrus, da wir keine Förderation sind, sondern selbständige Nationalstaaten. Was die EU damit bezweckt ist ja langsam recht klar, es sollen die Nationalstaaten aufgelöst werden. Derjenige der dagegen interveniert wird medial kaputtgemacht. Mal schauen ob es Nachahmer gibt. Die Briten sollen froh sein, dass sie mit dem Laden (so wie er aktuell ist) nur noch das Nötigste zu tun haben. Einfach mal darüber nachdenken, wer die gesamten Geldströme in Richtung EU und EZB legitimiert hat, wer hat die EU legitimiert, wer hat UvdL dort legitimiert…mit Rechtsstaatlichen Prinzipien, Transparenz hat… Mehr

jorgos48
3 Jahre her
Antworten an  B. Reuber

Nur ein Staat kann Rechtsetzend sein, die EU ist kein Staat, noch nicht einmal eine Demokratie. Das EU Parlament ist nur eine Diskussionsrunde, eine Quatschbude.

Ben Goldstein
3 Jahre her
Antworten an  B. Reuber

Das sehen Sie falsch. Es soll ein Nationalstaat errichtet werden. Die Alten sollen dafür weg.