Der vierfache Polizisten-Mörder Mickaël Harpon, der ursprünglich von den Kleinen Antillen nach Paris gekommen ist, war offensichtlich Anhänger des radikalen Islam und hat über Jahre unentdeckt ausgerechnet in einer nachrichtendienstlichen Geheim-Abteilung der Pariser Polizei gearbeitet. Diese jüngsten Erkenntnisse der Ermittler, die den Fall des Messerangriffs im Polizeihauptquartier der Hauptstadt untersuchen, „haben am Wochenende dem Vorfall eine völlig andere Dimension verliehen und den Innenminister Christophe Castaner in Bedrängnis gebracht“ („Neue Zürcher Zeitung“).
Polizeiminister Christophe Castaner sprach zunächst verharmlosend von einem „Parcours“ in der Präfektur
Unmittelbar nach dem vierfachen Mord hatte sich Innenminister Castaner noch geweigert, von einem Anschlag zu sprechen. Er nannte die bestialischen Attacken verharmlosend nur einen „mörderischen Parcours“. Der Täter habe „niemals Verhaltensauffälligkeiten gezeigt“.
Noch am Freitag, einen Tag nach den furchtbaren Morden an den Beamten der Pariser Polizei-Präfektur, hatte die französische Regierungssprecherin Sibeth Ndiaye ebenfalls versucht, die Tat zu verharmlosen – mit den Worten: „Es gibt keine Hinweise auf eine Radikalisierung des Angreifers. Nur weil Sie ein Muslim sind, bedeutet das nicht, dass Sie ein Terrorist sind.“
Einem Bericht der Zeitung „Le Parisien“ zufolge sollen Kollegen des Mörders sogar dazu gedrängt worden sein, die „islamistischen Verdachtsmomente“ zu verschweigen. Der spektakuläre Fall wurde anfänglich also als „normales Tötungsdelikt“ behandelt. Die für Terrorermittlungen zuständige Staatsanwaltschaft ist am Anfang außen vor gehalten worden.
Regierung und Polizeipräsident haben also zunächst Informationen über den Mörder Harpon präsentiert, die falsch waren. Der Attentäter in Frankreichs Hauptstadt war beispielsweise gar nicht – wie länger behauptet – ein eher schwerhöriger Beamter, der wegen seiner Behinderung keine Aufstiegschancen sah, sich deshalb frustriert fühlte und am Ende deshalb ausgerastet ist.
Der Hintergrund für die Mordtat ist vielmehr der Islamismus. Der Mörder war, so meldeten selbst einzelne deutsche Medien schon ziemlich früh, Anhänger einer besonders radikalen Strömung des Islam.
Für eine seltsame Nachrichtenpolitik spricht auch, dass berichtet wurde, die Frau des Täters, eine Marokkanerin namens Ilham E. – offenbar auch muslimisch –, sei schnell nach ihrer Festnahme wieder auf freien Fuß gesetzt worden. Richtig ist vielmehr, dass sich die Ehefrau zumindest noch am Sonntag in Untersuchungshaft befunden hat.
Jetzt ist bekannt geworden, dass die Frau und zwei Freunde des Attentäters als „Komplizen“ („Cicero“) des Attentäters eingestuft worden sind. Verbindungen des Trios zu Auftraggebern im Nahen Osten wurden bisher nicht nachgewiesen.
Bestialische Einzelheiten der Mordtaten werden bekannt
Wenige Stunden vor den Morden soll nach Auskunft von Nachbarn der Attentäter zweimal „Allahu Akbar“ in die Nacht gebrüllt haben. Entgegen ersten offiziellen Informationen hat der Täter nicht ein Messer bei seinen Bluttaten benutzt, sondern zwei. Eines aus Metall und eines aus Keramik.
Beide Messer hatte der Islamist am Donnerstag während seiner Mittagspause in der nahe gelegenen Rue Saint-Jacques um 12.24 Uhr erworben. Peinlich für die Polizeiführung: „Trotz Metalldetektoren und Routinenkontrolle konnte er ganz offensichtlich das Gebäude mit beiden Waffen betreten, ein weiteres Versagen innerhalb der Polizeipräfektur, das aufgeklärt werden muss“ („Die Welt“).
Der Mörder muss sich schnell in einen wilden Blutrausch hinein gesteigert haben. Um 12.53 Uhr hat er einem Kollegen, mit dem er sich das Büro teilte, die Kehle durchgeschnitten. Drei Personen stach er wie besessen jeweils in den Brustkorb. Sie waren sofort tot. Eine fünfte Person, eine Frau, verletzte er schwer, eine weitere Person wurde leicht verletzt. Der Täter wollte offenbar den Märtyrertod sterben.
Genau um 13 Uhr, so heißt es jetzt, hat ein junger Polizist den muslimischen Mehrfachmörder auf dem Hof der Präfektur erschossen, nachdem der Täter der mehrfachen Aufforderung des Polizeibeamten, das Messer wegzuwerfen, nicht nachgekommen war. Der Nachwuchsbeamte hatte nach einer ersten, einjährigen Ausbildungsphase seinen Dienst als „Stagiaire“ („Praktikant“) erst sechs Tage zuvor angetreten.
Hatte der Mörder genaue Anweisungen?
Am Donnerstag zwischen 11.21 Uhr und 11.50 Uhr, also kurz vor der Tat, hat der Attentäter mit seiner Ehefrau noch insgesamt 33 Kurznachrichten ausgetauscht. Alle Nachrichten sollen stark religiös gefärbt gewesen sein. Des Islamisten letzte Nachricht soll wörtlich gelautet haben: “Folge unserem geliebten Propheten Mohammed und meditiere über den Koran.“
Seine Frau antwortete vielsagend: „Allein Gott wird über Dich urteilen.“ Sicher scheint auch, dass „Harpon mit radikalisierten Salafisten in Verbindung stand und Nachrichten über Telegram ausgetauscht hat“ („Die Welt“).
Die Tageszeitung berichtet, jetzt werde nicht nur in Polizeikreisen heftig die Frage diskutiert, ob Harpon ein Einzeltäter war oder ein „ausführender Soldat einer islamistischen Terrorgruppe“, der detaillierte Befehle ausgeführt hat. Die „Welt“ fragt sich auch, ob der Mörder womöglich sogar ein Spitzel gewesen ist, der für den Geheimdienst der Terrororganisation IS, Amniyat, gearbeitet „und sensible Informationen des Anti-Terror-Kampfs weitergeben hat“.
Der Anti-Terror-Experte und ehemalige Geheimdienstler Alain Rodier sagte in einem Interview mit der Sonntagszeitung „Le Journal du Dimanche“: „Die Akten der Polizeipräfektur sind für den IS extrem wertvolle Ziele.“ Rodier hat sich öffentlich gefragt, ob der Täter nicht auch als „Maulwurf“ für Dschihadisten gewirkt haben könnte.
Denn, so berichtet die „Luzerner Zeitung“, der Islamist habe Zugang zu allen Polizeiinformationen gehabt. Der Experte rät zu prüfen, ob es hier Zusammenhänge gibt mit dem mörderischen Attentat am Wohnsitz eines Polizistenpaares in Magnanville im Jahr 2016. Hier hatte der islamistische Mörder seine Taten sogar gefilmt.
Unter den 150.000 französischen Polizeibeamten, sagt Rodier, habe es bisher 29 aktenkundige Fälle von auffälliger islamistischer Radikalisierung gegeben, eine Zahl, die seiner Meinung nach viel zu niedrig liegt. In Wirklichkeit gebe es eine hohe Dunkelziffer. Und das gefährde die Sicherheit in Frankreich erheblich.
Die Medien hatten sich auf die falschen Informationen der Regierung verlassen
Alle seriösen Medien in Frankreich haben sich in den ersten Stunden nach dem Attentat auf die offiziellen Informationen des Innenministers und seines Polizeipräfekten verlassen. Jetzt fragen sich die französischen Journalisten, ob die Regierung den Fall nicht nur verharmlosen wollte, sondern womöglich auch versucht hat zu vertuschen, dass es sich bei dem Polizisten-Mörder um einen Islamisten handelt.
Jedenfalls haben sich die Gerüchte bestätigt, dass der 45-jährige Harpon, der einst auf der Karibik-Insel Martinique gelebt hat, „ein radikalisierter Islamist“ („Die Welt“) gewesen ist. Er war keineswegs erst vor wenigen Monaten zum Islam konvertiert, wie es zunächst immer wieder bei Nachrichtenagenturen und in Medien hieß, sondern schon vor etwa zehn Jahren. Das berichtet zum Beispiel die Zeitung „Le Journal du Dimanche“.
Jetzt ist ebenfalls bekannt geworden, dass Harpon in der Präfektur bereits vor Jahren politisch schwer auffällig geworden ist. Er hat nach der Ermordung von Journalisten des französischen Satiremagazins „Charlie Hebdo“ im Kollegenkreise die schrecklichen Mordtaten gutgeheißen, und zwar mit den Worten: „Ist recht geschehen!“ Das war 2015. Damals wurde freilich nur ein Aktenvermerk gefertigt. Vorgesetzte sahen kein Sicherheitsrisiko.
Der Mörder wurde ausgerechnet in einer Abteilung eingesetzt, wo besonders sensible Informationen über islamistische Gefährder, Daten über „Syrien-Rückkehrer“ und ihre Familien sowie sogar Privatanschriften von Mitarbeitern dieser Geheimdiensteinheit verarbeitet werden.
Ob sich der Attentäter auch auf seinen Computern mit radikalen, islamistischen Texten und Taten beschäftigt hat, wird nun mit Hochdruck geprüft. Kein leichtes Unterfangen, denn der Täter ist schon von Berufs wegen ein Informatiker, dessen Aufgabe es auch im Dienst gewesen ist, Informationen zu verschlüsseln.
Das Attentat weitet sich aus – zu einem handfesten, riesigen politischen Skandal
Das Attentat ausgerechnet im Hauptquartier der Pariser Polizei könnte sich schnell zu einem riesigen politischen Skandal in Frankreich ausweiten. Innenminister Christophe Castaner gilt ohnehin schon wegen diverser Skandale seit längerer Zeit als ein schwaches Glied der nationalen Regierung.
Der Polizeiminister sieht sich mittlerweile heftigen Angriffen und sogar Rücktrittsforderungen ausgesetzt. „Le Parisien“ bereits so über den Minister, als sei er nur noch ein Regierungsmitglied auf Abruf.
Marie Le Pen (Rassemblement National) spricht von einem „Staatsskandal“, der konservative Abgeordnete Éric Ciotti wirft dem Innenminister vor, die Öffentlichkeit getäuscht zu haben. Christan Jakob, Fraktionschef der Republikaner, fordert die Einsetzung eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses.
Während eines Fernsehinterviews am Sonntagmittag beim französischen Sender „TF1“ gestand Castaner zwar „offensichtliche Schwachstellen“ ein, doch er versicherte sogleich, dass sich „die Frage des Rücktritts“ für ihn nicht stelle.
Auf die Nachfrage, warum er noch einige Stunden nach der Messerattacke beteuert habe, dass es keinerlei Hinweise auf eine mögliche Radikalisierung des Täters gebe, antwortete Castaner knapp: „Weil es keinen Hinweis in seiner Angestelltenakte gab.“ Der Innenminister entschuldigte sich damit, dass Harpon „gute Beurteilungen“ gehabt habe.
Das zeugt aus der Sicht der Republikaner von Ignoranz, wenn nicht von einer Lüge. „Castaner musste wissen, dass der Täter den Opfern die Kehle durchgeschnitten hatte und als Sympathisant der Charlie-Hebdo-Attentäter in den Akten figurierte“, meinte Jean-Philippe Moinet von der „Beobachtungsstelle für Extremismus“. Eine überzeugende Antwort auf die Frage, warum der Innenminister mehr als einen Tag lang darauf verzichtet hatte, die Antiterrorjustiz einzuschalten, wusste der Regierungspolitiker, der als Vertrauter des Präsidenten Emmanuel Macron gilt, nicht zu geben.
Der Minister räumte inzwischen lediglich ein, dass auch die Information, Harpon habe sich seit langer Zeit in der Präfektur Frauen gegenüber generell höchst abweisend verhalten, falsch gewesen ist. Vielmehr habe der Mörder „in den vergangenen Wochen“ noch „Frauen mit einem Wangenkuss begrüßt“ – sich allerdings geweigert, ihnen die Hand zu geben.
Untersuchungskommissionen werden eingesetzt
Wie ernst die Lage für die Nationalregierung geworden ist, zeigt ein Versprechen, das Premierminister Edouard Philippe jetzt abgegeben hat. Der Regierungschef kündigte zwei Untersuchungskommissionen an. „Die eine wird untersuchen, in welcher Form der Geheimdienst der Polizei, für den der Täter arbeitete, Radikalisierungen von Mitarbeitern zu detektieren versucht“ („Die Welt“). Der Bericht soll Ende Oktober vorgelegt werden.
Eine zweite Kommission hat die Aufgabe, alle Geheimdienste prüfen, die für den Anti-Terror-Kampf zuständig sind. Hier lautet eine vorrangige Fragestellung, ob die zuständigen Sicherheitsorgane wichtige Warnhinweise genügend ernst genommen und angemessene Konsequenzen daraus gezogen haben.
Minister Castaner muss sich nun ebenfalls „der Befragung des Geheimdienstsausschusses der französischen Nationalversammlung stellen“ („NZZ“). Vielleicht wird schon kurz danach über das politische Schicksal des Polizeiministers entschieden, der immer mehr in die Bredouille gerät.