Niederlande: Ein Skandal stürzt die Regierung, verändert aber nichts

Zwei Monate vor den niederländischen Parlamentswahlen ist die progressive Regierung Rutte III über einen atemberaubenden Skandal gestürzt. Trotz einer zu erwartenden noch größeren rechten Mehrheit wird Rutte sehr wahrscheinlich mit einer progressiven Koalition weiterregieren.

imago images / Pro Shots
Mark Rutte, zurückgetretener und vermutlich künftiger Ministerpräsident der Niederlande

Premierminister Mark Rutte hatte gehofft, dass nach seiner zweiten Regierung auch seine dritte Regierung die volle vierjährige Amtszeit absolvieren kann. Es sollte nicht sein. Die Koalition aus Ruttes rechtsliberaler VVD, der christdemokratischen CDA, der linksliberalen D66 und der orthodox-protestantischen Christlichen Union trat am Freitag zurück. Grund dafür war ein Bericht eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses über das skandalöse Vorgehen der Steuerbehörden bei angeblichen Betrügereien von Bürgern, die Kinderbetreuungszuschüsse erhielten.

Die Regierung, Spitzenbeamte, die Justiz und das Unterhaus des Parlaments haben jahrelang ignoriert, dass Tausende von wohlmeinenden Bürgern, die einen harmlosen Fehler bei einem Subventionsantrag machten, sofort als Betrüger gejagt wurden. Sie waren gezwungen, Subventionen zurückzuzahlen, manchmal über Jahre hinweg – manchmal Zehntausende Euro. Die daraus resultierenden Spannungen führten zu Scheidungen, Hauspfändungen und Arbeitsplatzverlusten.

Noch nie dagewesene Ungerechtigkeit

Dank der linksgerichteten protestantischen Zeitung Trouw und dem Nachrichtensender RTL wurde der Skandal aufgedeckt. Das Parlament, das Unterhaus, setzte daraufhin einen Untersuchungsausschuss ein, der alle Beteiligten unter Eid befragte, darunter Ministerpräsident Rutte, Finanzminister Wopke Hoekstra (CDA), den Vorsitzenden der sozialdemokratischen PvdA Lodewijk Asscher und die Spitzenbeamten. Dies führte zu dem Bericht ‚Unprecedented Injustice‘. Er offenbart, wie Politiker und Beamte Tausende von völlig unschuldigen Bürgern in den Ruin getrieben haben. Die Richter stellten sich immer auf die Seite der Regierung, wenn Opfer Klage einreichten und die Regierung das Parlament nicht oder falsch informierte.

Der Skandal ist schon seit einem Jahr eines der wichtigsten politischen Themen in den Niederlanden. Aber bisher ist nur der sozialdemokratische Vorsitzende Lodewijk Asscher (PvdA) für immer aus Den Haag verschwunden. Der Rücktritt von Rutte III ist daher hauptsächlich symbolisch. Die VVD von Ministerpräsident Mark Rutte liegt in den Umfragen für die Wahlen am Mittwoch, dem 17. März, immer noch weit vorne – sie kann 33 der 150 Sitze erwarten. Er scheint die Niederlande weiterhin mit den vielen kleinen so genannten ‚Mittelparteien‘ regieren zu können, so wie er es schon seit acht Jahren tut.

Rutte wurde 2010 Premierminister, nachdem die Liberalen zum ersten Mal seit hundert Jahren wieder die stärkste Kraft wurden. Mit den Christdemokraten CDA bildete er eine Minderheitsregierung nach dänischem Vorbild, die von Geert Wilders‘ wirtschaftlich linker und kulturell konservativer PVV bei vorher abgesprochenen Themen unterstützt wurde. Diese Regierung fiel nach zwei Jahren. Die Banken- und Eurokrise hat die Niederlande hart getroffen. VVD und CDA wollten stark sparen und die Steuern erhöhen. Wilders weigerte sich, dies zu unterstützen. Abgang Rutte I.

Ein meisterhafter Dummy

Bei den folgenden Wahlen im Jahr 2012 wurde Ruttes VVD wieder die größte Partei und bildete eine Koalition mit der sozialdemokratischen PvdA. Diese Regierung reformierte, kürzte die Ausgaben und erhöhte die Steuern. Aber diese Koalition hatte keine Mehrheit im Senat. Rutte gelang es, Mehrheiten zu finden, indem er den Wünschen verschiedener Oppositionsparteien entgegenkam. Das ist das Rezept, mit dem es Rutte seither gelingt, wechselnde Mehrheiten in Unter- und Oberhaus zu schaffen.

Die Parteien, mit denen er dies tut, werden die moderaten Parteien genannt. Diese sind die VVD, CDA, D66, ChristenUnie, PvdA und GroenLinks. Rutte ist der Meisterdummy dieser sechs Parteien. Als er 2010 sein Amt als Premierminister antrat, hatte er ein Ziel: ein Verbot von Zirkustieren. Dies ist ihm gelungen. Davon abgesehen scheint der Junggeselle und hochdisziplinierte Meisterkommunikator Rutte keine besonderen Ansichten zu vertreten. Weder er noch die CDA wollen mehr mit Wilders‘ PVV, der zweitstärksten Partei in den Umfragen, kooperieren. Das schließt eine (kulturelle) Rechtskoalition aus.

Größere rechte Mehrheit, progressive Regierung Rutte IV im Entstehen

Selbst wenn Wilders die meisten Wahlstimmen erhält, werden sich die sechs so genannten Zentrumsparteien vermutlich noch enger um eine Agenda scharen, die sich als pro-EU, pro-Klimawandel, pro-Einwanderung und pro-Gleichbezahlung zusammenfassen lässt. Rutte will so gerne Premierminister bleiben und die CDA so gerne regieren, dass die vier kleinen linken Parteien den Ton angeben können. Das garantiert fast, dass die Niederlande eine deutlich progressivere und linkere Regierung bekommen werden, unabhängig von den Umfragen. Die kleinen rechten Parteien jenseits von Wildres können laut Umfragen alle mit Gewinnen rechnen, so dass die bereits bestehende rechte Mehrheit im Abgeordnetenhaus weiter wächst – aber wahrscheinlich ohne Wirkung.

Tatsächlich kandidieren fast alle politischen Führer der „Mittelparteien“ erneut trotz des Berichts „Beispiellose Ungerechtigkeit“. Die Niederlande werden also nach den Wahlen am 17. März wahrscheinlich eine Rutte-IV-Regierung bekommen. Als ob es keine „noch nie dagewesene Ungerechtigkeit“ oder Wahlen gegeben hätte.

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Kommentare ( 29 )

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Olaf W1
3 Jahre her

Verblüffende Parallelen zu Deutschland. Die Parteien, die die Regierungskoalition stellen, fallen mit Skandalen auf, die in Untersuchungsausschüssen behandelt werden. Einziger Unterschied bei uns: Weder für CumEx, Maut oder WireCard muss man politische Verantwortung tragen und zurücktreten. Bei uns sind Untersuchungsausschüsse nur Kindergeburtstage, es sei denn, es geht um die böse AfD…. In Holland hat das Konsequenzen, die jedoch nicht anhalten sondern den Wolf weiter zum Hirtehund machen. Lustig. Ich vermute das die Holländer entweder – scheinbar wie wir Deutschen – extrem masochistisch veranlagt sind oder aber viele gar nicht mehr wählen und sich diese politischen Stereotypen immer nur wieder erholen,… Mehr

Anna-Maria
3 Jahre her

Und diese Rutte schreibt Ungarn und Polen vor, was sie zu tun haben! Die Staatsanwaltschaft in der Niederlande darf nicht – wie die Deutsche auch übrigens – nicht internationale Fahndung ausschreiben, weil sie nicht UNABHÄNGIG sind.
Holland ist Hotspot nicht nur für Covid sondern auch für Steuervermeidung.
Super Gerechtigkeit und super Demokratie!

Oliver Koenig
3 Jahre her

Schön, wenn die dusseligen Wähler das so haben wollen, ist es eben so. Genau wie in Deutschland. Ehe da die Mehrheit aufwacht, muss es noch sehr viel schlimmer kommen. Wird es auch.

Lee Bert Aire
3 Jahre her
Antworten an  Oliver Koenig

Wobei Manipulation und auch Wahlbetrug eine immer größere Rolle spielen dürften. Das wird in Holland nicht anders sein als in Deutschland.

November Man
3 Jahre her

Wenn in den Niederlanden Politiker und Beamte Tausende völlig unschuldigen Bürgern in den Ruin getrieben haben, dann aber die Rutte Partei VVD trotzdem in den Umfragen für die Wahlen am Mittwoch, dem 17. März, immer noch weit vorne liegt – sie kann 33 der 150 Sitze erwarten – dann stimmt was in diesem Land und bei seinen Wahlberechtigten nicht. Entweder stimmen diese Umfragewerte nicht oder die Niederländer sind nicht in der Lage vernünftig zu wählen. Leider ist es in Deutschland genauso. Genau die Parteien, die ganz Deutschland schon seit langen in den wirtschaftlichen, kulturellen und finanziellen Ruin treiben werden leider… Mehr

Epouvantail du Neckar
3 Jahre her

Nach einem unendlich lang erscheinenden Artikel nun die Frage: Wurde betrogen und sind die Rückforderungen berechtigt oder nicht. Ich gehe davon aus, dass die Geschichte in den Niederlanden genau so geschmiert läuft wie bei uns.

Ben Clirsek
3 Jahre her

„Größere rechte Mehrheit, progressive Regierung Rutte IV im Entstehen“Muss das sein? Es fällt immer öfter auf, dass auch kritische Journalisten linke Weltverbesserer als progressive Parteien/Bewegungen bezeichnen. Nein, an diesen „woken“ Stimmungsmachern ist nichts, aber rein gar nichts fortschrittlich. Sie präsentieren alten sozialistischen Wein, der noch nie funktioniert hat, in vorgeblich neuen, besseren Schläuchen. Also hören sie bitte auf dieses Framing des linken Spektrums auch noch zu übernehmen.

Sonny
3 Jahre her

Die einzige, weitestgehend wirkliche Demokratie, die ich kenne, gibt es in der Schweiz.
Alles andere ist Blendwerk und offenbart mehr und mehr eine korrupte Parteiendiktatur.
Anscheinend müssen die Geschichtsbücher neu geschrieben werden. Die viel besungene Demokratie ist genauso wenig zu verwirklichen, wie die spinnerten Pläne des Sozialismus.

Phil
3 Jahre her
Antworten an  Sonny

Es ist nicht alles Gold was glänzt, auch in der Schweiz nicht. Wenigstens hat man da die Möglichkeit zum Referendum. Ändert etwas an der Bundesverfassung so ist ein Referendum sogar obligatorisch. Die Politik der Töpfe und Umverteilung kann dadurch auch in der Schweiz nicht verhindert werden. Das Stimmvolk ist ebenso käuflich wie anderswo und der Zeithorizont in Sachen Voraussicht ist bei Politik und Stimmvieh relativ kurz. In einer Demokratie wird über kurz oder lang jene Partei populär, welche ihre Klientel am besten auf Kosten der anderen zu bedienen weiß. Beim Staat nennt man Raub und Diebstahl einfach anders, aber nur… Mehr

Harald Kampffmeyer
3 Jahre her

„Tausende unschuldige Bürger in den Ruin getrieben?“
Dadurch, dass sie nicht wie gewünscht auf Staatskosten leben konnten?
„Die Richter stellten sich immer auf die Seite der Regierung?“
Nun ja, die müssen halt geltendes Recht anwenden.

Soweit ich die mir zugänglichen Nachrichten richtig verstehe, sind die geschundenen unschuldigen Bürger ziemlich neu in den NL und hängen dem „rechten Glauben“ an. Sie leben von großzügigen Sozialleistungen besonders dem Kindergeld ihrer so vielen Kinderlein, die – Allah sein Dank – vorhanden sind und sich mehren.

outoffocus
3 Jahre her

Selbst dann hätten die noch immer eine höhere Rente als in D! Die Wohnwagen zieht dann ein Pferd oder ein Traktor! Traktoren wird es weiterhin geben!

Wer will die Niederlande verlassen? Die deutschen Dauercamper haben ihre Wohnwagen eh dort schon dauerhaft stehen.

Die Holländer werden ihr Land besser kennenlernern.

Was ist unter „Westler“ gemeint???

Es gibt eine BRD oder was soll ein Westler sein? Alles westlich der Grenzen der BRD? Belgier Franzosen Niederländer etc.

Schwabenwilli
3 Jahre her

In 10, 20 Jahren werden sich die Holländer mit ganz anderen, Bärtigen, Problemen herumzuschlagen haben. Da helfen ihre Tricksereien genau so wenig wie der Nach Merkel Generation.