Israel und die Hamas stehen kurz vor einem Geisel-Deal. Die Situation im Nahen Osten ist komplex und vielschichtig: Auch innerisraelisch sorgt das Geiseldrama für politische Konflikte, für die man nicht einfach pauschal Benjamin Netanyahu verantwortlich machen kann.
Wie komplex der Nahe Osten ist, kann man an den letzten 24 Stunden ablesen, sofern man versteht und emotional verarbeiten kann, was veröffentlicht wird. In der Nacht zum Dienstag lösen Raketen aus dem Jemen Alarm im Großraum Tel Aviv aus, in dem fast fünf Millionen Menschen leben. Mit der Nachtruhe ist es wieder einmal vorbei, es entsteht „nur Sachschaden“. Am Morgen berichten arabische und israelische Medien, dass „sehr bald 33 israelische Geisel freikommen“, die seit 465 Tagen und Nächten vermutlich in Tunnels dahinvegetieren.
Die Mehrheit in Israel freut sich, aber Ministerpräsident Netanyahus Koalitionspartner, die national religiöse Partei „Religiöse Zionisten“, bezeichnet den Deal als „Katastrophe“ und droht mit dem Ausstieg aus der Regierung. Gleichzeitig trauert Israel um weitere fünf Soldaten, die in diesem Zeitraum in Gaza gefallen sind. Ganz nebenbei: mit dem Libanon hat Israel einen 60-tägigen Waffenstillstand, bei dem fast täglich geschossen wird.
Aus diesem Nachrichten-Gebräu suchen sich Journalisten aus aller Herren Länder ihre Schlagzeilen und lassen weg, was in ihre politische Deutung nicht passt. Der Erwartungsdruck der Heimat-Redaktionen tut ein Übriges und der Fantasie sind ohnehin keine Grenzen gesetzt. Der kürzlich verstorbene, frühere deutsche Botschafter, Rudolf Dreßler, bezeichnete solche Situationen gerne mit dem hebräischen Wort „Balagan“, was so viel heißt wie geordnetes Chaos.
Der Versuch, Ordnung in das Chaos zu bringen, beginnt mit einem Blick nach Washington, dem Zentrum der einflußreichsten Ordnungsmacht im Nahen Osten. Dort scheidet gerade ein Präsident aus, der neue Alte wirft weitreichende Schatten voraus. Joe Biden würde gerne sein Karriere-Ende mit einer Freilassung israelischer Geiseln schmücken. Donald Trump protzt schon jetzt damit, dass seine Drohungen („Hamas will all hell pay“) bereits wirken, bevor er ins Weisse Haus eingezogen ist.
Netanyahu, will er an der Macht bleiben, muss seiner harten Linie der Vernichtung der Terror-Organisation Hamas treu bleiben und gleichzeitig sein Versprechen einlösen, er – nur er – könne und werde die verbliebenen 94 Geiseln – viele von ihnen bereits tot – nach Hause bringen. Dieses Versprechen einzuhalten ist aus mehreren Gründen eine schier unlösbare Mammutaufgabe.
Die „Religiösen Zionisten“, die ihre Wähler zumeist in Judäa und Samaria, besser bekannt als Westjordanland, haben, wollen keinen Deal mit der Hamas, sondern deren totale Vernichtung. Wie abstrus die innenpolitische Lage ist, kann man auch daran erkennen, dass die Opposition – wahrlich keine Netanyahu-Freunde – der Regierung Unterstützung für den Geisel-Deal zugesagt hat. Gänzlich abgelehnt wird von den „Religiösen Zionisten“ insbesondere die Freilassung verurteilter arabischer Mörder, die in Gaza und im Westjordanland viele Familien der „Religiösen Zionisten“ zerstört haben.
Im Gegensatz dazu demonstrieren seit 15 Monaten jedes Wochenende Zigtausende in Tel Aviv und Jerusalem, die die Forderung der Angehörigen der Geiseln unterstützen: „Bring them home now“. Das „now“ dauert inzwischen emotional unerträgliche 465 Tage, und in ARD und ZDF sieht man fast ausschließlich vorwurfsvolle Korrespondentenberichte, die das schlimme Schicksal arabisch-palästinensischer Frauen und Kinder in Gaza beklagen.
Oder kennt jemand das Schicksal von Sharon K., die mit ihren Kindern auf Ehemann und Vater David wartet? Wer kümmert sich um die Familie von Shirel G., die ihre Geiselhaft 51 Tage physisch überlebt hat, aber seelisch zerbrach und Selbstmord verübte? Welche Talkshow beschäftigt sich mit der Realität, die die jungen Frauen in den Klauen ihrer Entführer und Peiniger durchmachen? Nahezu vergessen ist, wer am 7. Oktober 2023 und danach Täter, und wer Opfer ist.
Verdrängte Tatsache ist auch, dass ein Geisel-Deal nur möglich wurde, weil die Israelische Verteidigungsarmee (IDF) die Hamas in Gaza und die Hisbollah im Libanon massiv geschwächt hat. Damit hat sie die Proxys Teherans führungslos geschossen und den Sturz Bashir Assads in Syrien, des dritten arabischen Massenmörders nach Muammar Gaddafi und Saddam Hussein, ermöglicht. Eine Leistung Israels, die weit über den Nahen Osten hinausreicht.
Die aktuelle Causa Nahost könnte längst in einen Waffenstillstand gemündet sein, wenn die Täter und ihre Hintermänner in Teheran akzeptieren würden, was allen UN-Mitgliedsländern außer Israel gewährt wird: das Recht zu existieren. Es geht den Feinden Israels nicht um eine Zwei-Staaten-Lösung, sondern vielmehr um die Tilgung des Judenstaates von der Landkarte.
Vor diesem Hintergrund laufen unablässig auch in diesen Stunden die demokratischen Prozesse im israelischen Parlament ab. Trotz der Krise, trotz der vielfältigen äußeren Bedrohungen bleibt die israelische Demokratie intakt, ringen politische Kräfte von links bis religiös-ultraorthodox im politischen Diskurs. Davon bleibt auch der Kampf um Leben und Verbleib der Geiseln nicht unberührt.
Die Beschäftigung mit dieser komplexen politisch-religiös-kulturell motivierten Sachlage ist anstrengend und verlangt historisches Wissen. Da ist es viel bequemer einem die Schuld zu geben, weil der Staatsanwalt hinter ihm her ist: Benjamin Netanyahu.
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