Der neue spanische Innenminister Fernando Grande-Marlaska weiss Prioritäten zu setzen. Einer seiner ersten Amtshandlungen war der Besuch in “La Linea”, der Ort gegenüber dem Felsen von Gibraltar, wo 35 Prozent der Menschen keine Arbeit haben und derzeit 200 illegal eingereiste Minderjährige in einem Heim untergebracht wurden, das eigentlich nur für 25 Menschen konzepiert wurde. “Wir haben hier seit Juni enorme Probleme und brauchen die Unterstützung des Zentralstaates”, sagt der Bürgermeister der kleinen Stadt, Juan Franco. Grande-Marlaska hat sich auch vor wenigen Tagen mit seinen marokkanische Amtskollegen getroffen, die absolut gegen die Einrichtung von Transitlagern zur „Sortierung“ von Einwandern sind.
Illegale Einwanderung ist in Spanien kein strafrechtliches Delikt
Nicht viel weiter weg, zwischen Algeciras und Tarifa, kommen zudem derzeit immer mehr illegale Einwanderer in motorisierten Schlauchbooten an. Gerade wurde ein Ring von Schleppern in Spanien aufgedeckt, der Minderjährige, vor allem aus Marokko, unter enormen Gefahren nach Europa bringt. Marokkanische Erwachsene können aufgrund eines Abkommens mit dem arabischen Königreich wieder zurück geschickt werden, ihre Kinder jedoch nicht.
Gefährlicher Handel mit Kindern
Eltern, die ihre Kinder an Schlepperbanden indirekt verkaufen, damit sie ein besseres Leben in Europa haben – ist das ein brutales Vorgehen oder verständlich, wenn es in dem eigenen Land wenig Freiheiten und wenige berufliche Aussichten gibt? Oder ist es ein kalkuliertes Vorgehen einiger afrikanischen Regierungen, um von den eigenen Unzulänglichkeiten abzulenken und sich Probleme vom Hals zu schaffen? “In jedem Fall ist es eine Unverantwortlichkeit”, sagt der sozialdemokratische Abgeordnete der Provinz Cádiz, zu der “La Linea” gehört, Salvador de la Encina. Denn die lebensgefährliche Überfahrt von Tanger über die Meeresenge von Gibraltar nach Tarifa oder Algeciras eines solchen marrokanischen Kindes kann die Eltern je nach Wetterbedingungen und Modernität des Bootes bis zu 8.000 Euro kosten, viel schlimmer ist jedoch, wenn sie ihren Sohn oder Tochter ans Meer verlieren, was nicht selten der Fall ist.
“Wenn Europa sie nicht rufen würde, würden sie nicht kommen”, kritisiert Taxifahrer Hassan Maalouf den Menschenhandel, den der 54jährige Muslime mit spanischem Pass in Ceuta – einer der zwei spanischen Exklaven auf marokkanischen Boden – jeden Tag hautnah erlebt. Die Minderjährigen, die je nach dem aus welchem Dorf in Marokko sie kommen, kaum genug zum Essen haben, werden in Spanien in Heime integriert und eingeschult. Wenn sie die Schulausbildung abgeschlossen haben, bekommen sie ausserdem mit 18 Jahren ein Jahr lang eine monatliche Unterstützung von 480 Euro, diese kann um weitere sechs Monate verlängert werden. Viele beantragen dann die spanische Staatsbürgerschaft. Meist wird sie vergeben.
Der gefährliche Weg über die Grenze “ins gelobte Land”
Auch wenn in Ceuta fast jeden Tag Dutzende von Erwachsenen versuchen, versteckt in Autos oder gleich direkt über den Grenzzaun illegal von Marokko rüberzukommen, bietet Ceuta nur eins, was die autonome spanische Stadt von dem benachbarten Königreich unterscheidet: den spanischen Pass und damit den Zugang in die Europäische Union. Viele glauben, dass sie dort ein besseres Leben erwartet, aber Ceuta lebt nur von spanischen und europäischen Hilfen, hat kaum eigene Industrie und vermittelt eine ähnliche Trostlosigkeit zwischen Drogenhandel und Dekadenz, die auch auf der anderen Seite der Meeresenge von Gibraltar anzutreffen ist.
Kein neues Problem, aber weiterhin ohne Lösungen
In Ceutas Stadtviertel “El Principe”, direkt neben dem Grenzzaun, spiegelt sich die ganze Problematik der Meeresenge von Gibraltar wider: Es ist der gefährliche Weg der Drogen und Menschen in schnellen und nicht so schnellen Booten, je nach Preis, nach Europa bringt, und das bereits seit 20 Jahren und mit immer gewalttätigeren und kostspieligeren Methoden. “Pedro Sánchez muss deswegen unbedingt mit Marokko sprechen, von wo alles gesteuert wird. Aber derzeit ist Mohamed VI in Frankreich aufgrund gesundheitlicher Probleme”, sagt de la Encina. Währenddessen werden den Hilfesuchenden weiter falsche Träume vermittelt und solche, die gegangen sind, erzählen denen Daheimgebliebenen nicht die ganze Wahrheit. „Ähnlich wie damals die spanischen Gastarbeiter, die in Deutschland arbeiteten und ihren Aufenthalt dort auch verherrlichten, um sich selber in ein besseres Licht zu rücken“, findet Nacho Rivas, der viele Jahre mit Immigranten gearbeitet hat.
Widersprüchlichkeiten kennzeichnen die spanische Einwanderungspolitik
Maalouf, dem nach eigenen Aussagen von spanischer Seite verboten wurde, in seinem Taxi schwarze Einwanderer zu transportieren, hat seine eigene Meinung zu der Problematik: “Hier in Ceuta herrscht eine unglaubliche Doppel-Moral. Spanien vernachlässigt seine Exklaven. Statt Unternehmen zu motivieren, hier zu investieren, werden wir hier unserem Schicksal überlassen”. Marokko, derweil zu einem großen Wartesaal für Menschen aus Guinea, Liberia, dem Senegal und Kamerun geworden, kann das Problem nicht mehr alleine bewältigen. Aber de La Encina gibt auch zu, dass sie mit Spanien spielen: “Es ist ein ständiges Tauziehen, um bei den europäischen Fischfangquoten in ihrem Meer und andere Themen möglichst viel herauszuschlagen für sich”.
Derzeit versuchen marokkanische Banden den Trick mit den Minderjährigen, die sie über die Grenze nach Ceuta oder Melilla bringen oder direkt von Tanger an die Strände der Provinz Cádiz. Vor wenigen Jahren haben sich vor den spanischen Exklaven in Marokko regelrechte Zeltlager mit afrikanischen Flüchtlingen angesiedelt. So schlimm ist es derzeit nicht, aber noch immer gibt es Tage, wo Dutzende den Sprung über den Zaun in den spanischen Exklaven in die vermeintliche Freiheit versuchen: “Das ist organisiert. Es passiert nie am Wochenende, immer an Wochentagen, wenn der normale Pendlerverkehr die Polizei ablenkt”, weiss Taxifahrer Maalouf, der jeden Tag an der Grenze vorbeifährt.
Das Auffanglager CETI in Ceuta, wo die meisten, die es über den Zaun schaffen, umgehend nach ihrer Ankunft hingebracht werden, ist für Journalisten nicht zugänglich. Aber am Eingang und durch die Gitterstäbe sieht man, dass es sich hier nicht um syrische Flüchtlinge handelt, sondern um junge Männer, viele sind minderjährig. Sie verstehen schnell, wie sie sich durchschlagen in Europa. “Du willst mir Fragen stellen? Dafür musst du bezahlen”, sagt einer von ihnen. Er kommt aus Guinea und will weiter nach Frankreich.
Über die Meeresenge von Gibraltar kommen kaum politische Flüchtlinge
“Es ist ein sehr gefährliches Spiel und es ist ein sehr komplexes Problem”, sagt Francisco Mena, Vorsitzender der Vereinigung “Por tu seguridad” (Für deine Sicherheit). Der Anti-Drogen-Aktivist sieht zwar keinen direkten Zusammenhang zwischen Dealern aus Marokko und Menschenhändlern, gibt aber zu: “Alles wird von dort gesteuert.” Mena fordert deswegen konzertierte Aktionen zwischen beiden Ländern, die über gemeinsame Polizeistationen in Algeciras hinausgehen. Er hat deswegen auch gerade mit dem spansichen Innenminister gesprochen, um ihm zu berichten, wie die Netze des Drogenhandels in “La Linea” funktionieren und wie der wachsende Strom von illegalen Einwandern aus Nordafrika, der diese Region zusätzlich belastet, gestoppt werden kann: “Hier geht es um die Zukunft unserer Kinder und den Ruf von Spanien. Es ist eine Schande, dass sich all dieses menschliche Elend in engster Nachbarschaft von Reichtum und Luxus-Tourismus abspielt.”
Im Dreieck von Gibraltar, Algeciras und Tarifa befindet sich die Südgrenze Europas, die Pedro Sanchez zusammen mit Deutschland und Frankreich verteidigen will, damit nicht noch mehr Menschen auf illegale Weise in den Norden Europas weiterziehen.
Hinter dem Urlauberstrand die bittere Realität: Drogen, Arbeitslosigkeit und viele minderjährige ausländische Kinder, die von ihren Eltern nach Europa verschickt wurden.
Im marokkanisch geführten Restaurant-Café „Casablanca“ warten Guineaner auf Arbeit und ein besseres Leben. Rumhängen mit Smartphone und Kopfhörer gehört zum Alltag – hier wie dort.
An den Stränden von Tarifa können Urlauber immer wieder live miterleben, wie minderjährige Marrokaner über die Meeresenge von Gibraltar mit Schnellbooten oder Jetskis an Land gebracht werden und auch motorisierte Schlauchboote mit Schwarzafrikanern stranden immer öfter zwischen den Badegästen.
Alle Bilder: © Stefanie Claudia Müller