Illegale Migration: Findet die EU den Dreh zum wirksamen Grenzschutz?

An der litauisch-weißrussischen Grenze kommen weiter jede Woche hunderte Migranten an. Die litauischen Behörden wollen ihre Grenzen schützen, koste es, was es wolle. Die EU will mit Geldern und Frontex-Beamten helfen, doch bleibt ein Papiertiger – trotz der Sanktionen gegen Belarus, die am Beginn des Problems standen.

picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Mindaugas Kulbis
Litauische Grenzschützer beim Dorf Purvenai an der Grenze zu Belarus, 9. Juli 2021

Jetzt gerade, in diesem historischen Moment, könnte eine weitere Schlüsselfigur aus dem Pro-Migrations-Flügel der EU fallen. Die schwedische Sozialdemokratin und EU-Innenkommissarin Ylva Johansson, die sonst für abwiegelnde Äußerungen in Sachen illegaler Migration bekannt ist, hat den Dreh gefunden, um die irreguläre Migration zu kritisieren. Doch ob sie ihn auf Dauer beibehält, ist ungewiss.

Das Problem an der litauisch-weißrussischen Grenze, so Johansson, seien nicht die Migranten, sondern der belarusische Präsident Aljaksandr Lukaschenka, besser bekannt als Alexander Lukaschenko. Und so fällt sie doch wieder zurück in den alten Singsang: Es handle sich nicht primär um eine Migrationskrise, sondern um einen »Akt der Aggression«, der durch die weißrussische Regierung gesteuert und zur Destabilisierung des Nachbarlandes benutzt werde. Erleben wir also einen gezielten Angriff auf das NATO-treue Litauen, in dem man nicht mit Kritik an Lukaschenka oder Putin spart? Oder ist eher die EU mit ihren Sanktionen gemeint? Vielleicht beides.

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— Ylva Johansson (@YlvaJohansson) August 2, 2021

Bei Johanssons neuer Migrationskritik muss man jedenfalls einiges Wasser in den Wein gießen: Die illegale Migration ist für Johansson nur in dem Moment zu verurteilen, in dem sie von einem EU-unfreundlichen Regime als Waffe eingesetzt wird. Die Migranten würden »in zynischer Weise« vom Lukaschenka-Regime ausgenutzt und mit »falschen Hoffnungen« und »falschen Routen« zu EU-Außengrenze gelockt. Nun müsste man nur noch erfahren, welches für Ylva Johansson die ›richtigen‹ Routen für die irreguläre Migration sind. Führen auch sie am Ende in den sicheren Hafen EU? Für den litauischen Staatspräsidenten Gitanas Nauseda steht fest, dass es sich bei der »illegalen Migration« um einen »hybriden Angriff« auf sein Land handelt.

Inzwischen ist die Zahl der irregulären Grenzübertreter auf fast 4.000 angestiegen. Letzte Woche sind mehr als 800 Migranten über die litauische Grenze gekommen, wo es im Juli noch 2.000 waren, im vergangenen Jahr 81. Und die Flüge aus Bagdad, Basra, Erbil und Sulaimaniyya sollen immer noch weiter zunehmen. Es sind sämtlich irakische Flughäfen, die letzten beiden im kurdisch kontrollierten Norden gelegen. Seit Beginn dieser neuen Migrationskrise an den EU-Außengrenzen wurde vor allem auf den Irak als Herkunftsland verwiesen.

Die litauischen Grenzwächter haben zum wiederholten Mal erklärt, dass sie dem Ansturm nicht mehr Herr werden können. Neu ankommende Migranten müssten in neue Aufnahmelager dirigiert werden. Direkt an der Grenze hatten litauische Kräfte ein Lager für mehrere tausend Irreguläre eingerichtet. Das Land hat mit 2,8 Millionen etwas weniger Einwohner als Schleswig-Holstein.

Die litauische Premierministerin Ingrida Simonyte drückte laut Euronews die Hoffnung aus, dass die Europäische Kommission die sich ständig verschlechternde Situation in die Hand nähme. Nach der Regierungschefin gibt es keinen freien Zugang zur Schengen-Zone. Die Minderung der irregulären Ankünfte sei das wichtigste Ziel. Und so hofft Simonyte, dass die EU-Spitzen eine gewisse Verhandlungsmacht bei der irakischen Regierung ins Spiel bringen könnte. Davon sprechen allerdings auch EU-Größen wie der belgische Ratspräsident Charles Michel seit Beginn der Krise vor etwa einem Monat. Bisher merkt man wenig bis gar nichts von diesen Bemühungen.

Aufstand der Irakis im Lager Rudininkai

Seit die EU im Juni Sanktionen gegen Weißrussland verhängt hat, erweist sich der Staatenbund als Papiertiger, wo es um die Lösung der eigenen Probleme geht. Der Professor für Internationale Politik an der Bundeswehr-Universität München, Prof. Dr. Carlo Masala, erinnert daran, dass ein funktionierender Grenzschutz in Litauen und anderswo der häufig auch rechtlich schwierigen Durchführung von Abschiebungen nach Afghanistan und anderswo überlegen ist.

Innenkommissarin Johansson versprach den Litauern nun eine »Delegation« – mehr als 100 Frontex-Grenzschützer sollen bald in das baltische Land kommen – und 20 bis 30 Millionen Euro für den Aufbau eines Grenzschutzsystems, nicht unähnlich den Anstrengungen an der griechisch-türkischen Grenze.

Die litauische Regierung geht von Kosten von mehr als 100 Millionen Euro für eine wirksame Grenzsicherung aus. Doch Simonyte zeigt sich entschlossen: »Wir werden [eine Grenzbefestigung] bauen, ganz gleich wieviel Hilfe wir dabei von der EU bekommen. Die Grenze muss geschützt werden.« Im Aufnahmelager Rudininkai, in der Nähe der Hauptstadt Vilnius, mussten inzwischen ein Wasserwerfer und Tränengas gegen revoltierende Insassen benutzt werden. Einige junge Irakis wurden von der Polizei zur Befragung abgeführt.

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