Tichys Einblick
Italienische Parlamentswahl

Wer ist Giorgia Meloni?

Mutter, Italienerin, Christin – von keiner Politikerin Italiens wissen wir so viel wie über Giorgia Meloni, doch über keine wird so wenig im Detail berichtet. Was treibt die Römerin an, die man mit dem Etikett „Postfaschistin“ abstempeln will? Ein Portrait.

IMAGO / Matteo Gribaudi

Rechts, hart rechts, ultrarechts, rechtsextrem, postfaschistisch, faschistisch – Giorgia Meloni. Seit dem Rückzug Mario Draghis als Premierminister beherrscht die 45 Jahre alte Römerin nicht nur die italienischen und deutschen Schlagzeilen. International tritt eine Frau ins Rampenlicht, die im Ausland nur wenige auf dem Schirm hatten. Doch angesichts der Furcht vor der Änderung des Status quo steht nicht die Persönlichkeit, sondern der Widerstand gegen eine mögliche Wiedergängerin Mussolinis im Vordergrund. Dabei hat Meloni etwas, das sie von vielen ihrer Altersgenossen in der deutschen Politik unterscheidet: Charakter.

Eine Anekdote mag verdeutlichen, dass Meloni facettenreicher ist, als es die Medien nördlich der Alpen wiedergeben. Im Oktober 2019 organisierten die drei Parteien des rechten Bündnisses eine gemeinsame Veranstaltung. Die Koalition aus Matteo Salvinis Lega und den linkspopulistischen 5 Sternen war vor wenigen Monaten zerbrochen. Salvinis Partei führte immer noch im Spektrum von 30 bis 40 Prozent in den Umfragen, die Veranstaltung stand also vor allem im Zeichen der Lega und ihrer Anhänger. Melonis Fratelli d’Italia rangierten dazumal noch im hohen einstelligen Bereich.

„Wir sind kein Strichcode! Wir sind Personen!“

Doch bereits an diesem Oktobertag war es Meloni, die mit einer temperamentvollen Rede die Anwesenden mitriss. Auf dem Platz bot sie ein Bild, wie es auch deutsche Medien wiedergeben: angriffsbereit, laut, scharf.

„Jetzt wollen sie Mutter und Vater aus den Dokumenten tilgen. Weil die Familie ein Feind ist. Die nationale Identität ist ein Feind, die Geschlechtsidentität ist ein Feind; alles, was uns definiert, ist für sie ein Feind. Das ist das Spiel des Einheitsdenkens. Sie müssen uns alles wegnehmen, was wir sind, denn wenn wir keine Identität mehr haben, dann sind wir unseres (Selbst)Bewusstseins beraubt und nicht mehr in der Lage, unsere Rechte zu verteidigen! Das ist ihr Spiel! Sie wollen, dass wir ‚Elter 1‘ und ‚Elter 2‘ sind, irgendein LGBT-Geschlecht, Bürger X oder ein Strichcode. Aber wir sind kein Strichcode! Wir sind Personen! Und wir verteidigen unsere Identität!

Ich bin Giorgia! Ich bin eine Frau! Ich bin eine Mutter! Ich bin Italienerin! Ich bin Christin! Das nehmen sie mir nicht weg! (…) Ich glaube nicht an einen Staat, der den – legitimen – Wunsch eines Homosexuellen, ein Kind zu adoptieren, über das Recht eines Kindes auf Mutter und Vater stellt. Einfach, weil der Homosexuelle wählt – und das Kind nicht. Ein gerechter Staat kümmert sich um den Schwächsten, den, der sich nicht allein schützen kann.“

Ein Trash-Video im Internet wird zum Meme

Die Reaktionen dürften auch Salvini, den eigentlichen Paten, beeindruckt haben. Denn bei vielen Lega-Anhängern hatte Meloni einen Nerv getroffen. Es war ein Signal, dass der in Massenpsychologie bewanderte Salvini mit Sicherheit als gefährlich wahrnehmen durfte. Meloni stahl ihm nicht die Show. Aber sie machte deutlich, dass das Lager rechts der Mitte ein fluides Gebilde war, das je nach Stimmung mal für Berlusconi, mal für Salvini – vielleicht in Zukunft für Meloni stimmen könnte. Dass der Meloni-Diskurs nur wenige Monate später in der Corona-Krise Aktualität gewinnen sollte, machte ihn prophetisch.

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Die Meloni-Rede wurde aber zuerst nicht ihres Inhalts wegen populär – sondern als trashiger Hit aus dem Internet. In bester Stefan-Raab-Manier hatte die YouTube Gruppe MEM & J Schnipsel aus dem Video genommen, sie musikalisch unterlegt und daraus ein Musikvideo unter dem Titel „Io Sono Giorgia“ (Ich bin Giorgia) herausgebracht. Der „Giorgia Meloni Remix“ hat bis heute fast 12 Millionen Aufrufe erreicht – und das nur auf dem Hauptaccount. Die Parodie erreichte eine solche Verbreitung, dass auch die etablierten Medien berichteten.

An dieser Stelle kommt die Meloni ins Spiel, die man außerhalb Italiens nicht kennt. Denn Meloni wurde in eine Talkshow eingeladen und mit dem Song, der bereits den Mainstream seit Tagen prägte, konfrontiert. Ihre Reaktion? Sie sang das Lied mit. Sie kenne den Song bereits, sie singe ihn ja gerne selbst und es handele sich um ein exzellentes Musikstück. Denn im Gespräch vis-a-vis übernimmt die freundliche Römerin von nebenan das Wort. Sie ist nicht weniger klar in den Worten, aber nachdenklicher, nahbar, milder und zugänglicher. Wir sehen die Meloni, wie sie viele Italiener wahrnehmen. Sie hat dabei den Vorteil, dass Moderatorinnen, die nicht ihrer Parteiideologie entsprechen, sie dennoch als feminine Verbündete wahrnehmen – anders als bei Frauke Petry, Alice Weidel oder Beatrix von Storch sorellisiert sich das weibliche Medienmilieu immer wieder im von Chauvinismen beherrschten Italien.

Die junge Giorgia aus dem Arbeiterviertel musste sich durchbeißen

Und natürlich weiß Giorgia: Mit diesem Song hat sie eine Jugendkultur erreicht, die für die Politik normalerweise nicht zugänglich ist. Nach dem US-Wahlkampf 2016 weiß die amerikanische wie auch die italienische Rechte, was erfolgreiche Memes im Internet bedeuten. Donald Trumps Wahlsieg war auch einem metapolitischen Sieg im Internet geschuldet. Mit „Io sono Giorgia“ könnte vor drei Jahren etwas sehr Ähnliches passiert sein. „Io sono Giorgia“ ist auch der Titel der 2021 erschienen Autobiografie von Meloni – sie weiß also, wie man mit diesen Phänomenen umgeht. In dem Buch geht die Chefin der „Fratelli d’Italia“ ins Persönliche, vor allem, um die vielen Vorurteile ihr gegenüber auszuräumen. Es gibt kaum einen italienischen Politiker, der sich so tief in die Seele hat blicken lassen.

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Das Bild, das Meloni von sich zeichnet, ist das eines Kindes aus bürgerlichen Verhältnissen, das aber im roten Arbeiterviertel Roms, Garbatella, landet. Ihre Mutter ist Schriftstellerin aus Sizilien, ihr sardischer Vater war Steuerberater. Der Vater verlässt die Familie und zieht auf die Kanaren ein Jahr nach ihrer Geburt. Sie und ihre Schwester werden von der Mutter allein großgezogen, sehen den Vater nur eine Woche im Jahr. Dass der Vater Kommunist war, hat bei dem einen oder anderen Journalisten küchenpsychologische Rückschlüsse zugelassen, doch auch Meloni selbst schürt immer wieder den Verdacht, dass sie die Verantwortungslosigkeit linker Ideologen schon als Kind mitbekommen – und daraus ihre Schlüsse gezogen hat.

Meloni muss sich in der schwierigen Situation immer wieder bewähren. An der Schule wird sie als Dicke gemobbt. Als sie mit 15 bei der Jugendorganisation des Movimento Sociale Italiano (MSI) anklopft, muss sich die kleine, zierliche Meloni gegen die von national gesinnten jungen Männern beherrschte Welt durchsetzen. Sie arbeitet als Babysitterin, um ihr Studium zu finanzieren. Die Schule schließt sie mit Bestnoten ab. An der Universität steht sie der Azione Studentesca vor, der Studentenbewegung der Alleanza Nazionale (AN), der Nachfolgepartei des MSI.

„Entschieden wie ein Zwerg aus dem Herrn der Ringe“

Was war die Motivation Melonis, ausgerechnet dem als postfaschistisch verschrieenen MSI beizutreten? 1992 stürzte die etablierte Politikerkaste über Korruption und Machtmissbrauch. Die gesamte politische Landschaft wandelte sich nachhaltig: Die dominierende christdemokratische Partei, aber auch die Sozialisten verschwanden von der Bildfläche. Die Kommunisten benannten sich um, die norditalienische Lega gewann an Zulauf und der Medienunternehmer Berlusconi drängte ins Rampenlicht. Die Italiener, insbesondere die jungen Italiener, suchten nach Alternativen. Meloni sagt, sie habe sich geekelt angesichts der Korruption und „Gaunereien“ der Parteien.

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Die regionalistische Lega war für Meloni als Römerin keine Option. Die Forza Italia von Silvio Berlusconi sollte erst ein Jahr später ins Leben gerufen werden. Linke Parteien kamen für sie nicht infrage. Der MSI und die daraus hervorgehende AN waren gerade deswegen, weil sie vom Parteienkartell ausgeschlossen wurden, die einzigen Parteien mit weißer Weste. Viele ihrer Landsleute sahen es ähnlich: Die „Nationalallianz“ gewann in den Folgejahren gute zweistellige Ergebnisse in der Hauptstadtregion Latium und südlich davon. Dass Rom und Umgebung bis heute „rechts“ ticken, liegt auch am nationalen Stolz auf die eigene Geschichte, vom Römischen Imperium über die Renaissance bis hin zum Nationalstaat.

Innerhalb ihrer Partei stieg sie schnell zum Protegé von Parteichef Gianfranco Fini auf. Ein alter Parteigefährte sagte, dass Melonis Entschiedenheit und Charisma ihr den Weg ebneten. Sie habe die „Entschiedenheit eines Zwerges“ aus Tolkiens Herrn der Ringe. Wo sie hintrat, gewann die AN Wahlen. Als die AN zusammen mit den anderen Rechtsparteien unter Silvio Berlusconi die Regierung stellten, wurde sie 2008 Ministerin für Jugend und Sport – mit 31 Jahren die jüngste Ministerin der italienischen Geschichte. Dabei sorgte sie schon im ersten Jahr für einen Skandal. Sie kritisierte die Sommerspiele in Peking, weil das chinesische Regime die Sportveranstaltung für die eigene Propaganda ausnutzen würde – und forderte die italienischen Sportler auf, ein Zeichen zu setzen. Was heute visionär klingt, war damals verpönt, schließlich war China noch der wohlwollende Handelspartner. Berlusconi pfiff die Ministerin zur Ordnung.

Melonis wichtigste Eigenschaft: Geradlinigkeit

Doch es ist diese Geradlinigkeit, die Meloni zum Markenzeichen machte. Geradlinig verließ sie 2012 Berlusconi mit einer Parteineugründung, eben jenen Fratelli d’Italia, weil sie die von Brüssel diktierte und von der technischen Regierung Mario Monti ausgeführte Politik nicht mehr mittragen wollte. Geradlinig stemmte sie sich gegen jeden „inciucio“, das heißt: jeden Betrug am Wähler, in dem man mit einer anderen Partei als den Rechten koalierte. 2018 kritisierte sie daher Salvinis Zusammengehen mit den 5 Sternen; 2021 verwehrte sie sich aus denselben Gründen gegen eine Teilnahme an der Draghi-Regierung. Während Salvini in der Regierungspolitik Kompromisse machte und einknickte, blieb Meloni klar in der Opposition. Im Angesicht von Corona-Regeln, Impfung und Green Pass zog sie eine klare Linie – und baute die eigene Partei zur einzigen wählbaren Oppositionspartei auf.

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Ihre Herkunft zeichnet Meloni. Sie wandelt bis heute zwischen zwei Welten: Sie hat in Garbatella nicht den Kontakt zu den einfachen Menschen verloren, spricht ihre Sprache, behält einen volksnahen Habitus. Zugleich ist die Frau, die die erste Premierministerin Italiens werden will, nicht nur den Zertifikaten nach gebildet. Meloni war als Jugendliche bereits von den Werken J. R. R. Tolkiens inspiriert, deren katholisches und reaktionäres Substrat den heutigen Generationen, die nur noch die Verfilmungen kennen, verschlossen bleibt. Sie stützt sich auf Denker wie Roger Scruton und G. K. Chesterton und hat die Politik und Rhetorik von Charles de Gaulle wiederentdeckt. Ihre Vorbilder sind Ronald Reagan und Johannes Paul II.

Und Mussolini? Meloni wird vorgeworfen, sich nicht vom italienischen Diktator zu distanzieren. Das „lockere“ Verhältnis zum Faschismus ist aber beileibe kein Einzelphänomen ihrer Partei, sondern spiegelt den eher indifferenten Umgang Italiens mit seiner Vergangenheit wider. „Mussolini hat verschiedene Fehler gemacht, die Rassengesetze, den Kriegseintritt, und sein System war autoritär. Historisch hat er auch einiges hervorgebracht, aber das rettet ihn nicht“, sagte sie 2016. Das ist für deutsche Ohren mit Sicherheit unbefriedigend – aber so ziemlich die Meinung des gemeinen Straßenitalieners. Man kann daraus schließen, dass Meloni eine Kryptofaschistin ist, aber das träfe nach dieser Definition auf eine absolute Mehrheit der Bevölkerung zu. Zudem: Es gibt insbesondere in den älteren Riegen der FdI bis heute Leute, die mit Sicherheit das Prädikat des „Postfaschisten“ erfüllen; aber Meloni selbst gehört nicht dazu.

Meloni steht für den Typus der neuen christlichen Nationalkonservativen, die in Polen und Ungarn Erfolg haben

Giorgia Meloni steht damit für mehr als nur eine Partei und eine mögliche Regierungsübernahme. Sie steht für eine italienische Version jenes Systems der „christlichen Demokratie“, die bereits in Ungarn und Polen etabliert ist. In Frankreich steht Marion Maréchal, die Nichte von Marine Le Pen, für diesen Kurs. Die spanische Vox zeigt in den letzten Jahren ähnliche Ansätze. Er ist ein Rückgriff auf den ursprünglichen, abendländischen Gedanken, der von der Christdemokratie verraten wurde; zugleich handelt es sich jedoch nicht um eine bloße Imitation, sondern um eine Angleichung an die aktuellen Verhältnisse.

Italien steht also weniger die Machtübernahme einer Thatcher-Gestalt oder eines Mussolini-Gespenstes bevor, denn vielmehr einer De-Gaulle-Erbin. Dazu passt, dass die Fratelli d’Italia den Umbau Italiens in Richtung eines Präsidialsystems vorantreiben wollen. Bekanntlich war es De Gaulle, der als starker Mann die instabile Vierte Republik zugunsten der bis heute andauernden Fünften Republik mit ihrer starken Exekutive ablöste. Aus heutiger Sicht hätten die Massenmedien eine solche Veränderung nicht weniger als einen faschistischen Putsch bewertet.

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