Notstand auf Lampedusa nach Anlandung von tausenden Migranten an nur einem Tag

Die Lage in Lampedusa ist explosiv, und jeden Tag kann sie es von neuem werden. Für Matteo Salvini ist es ein „Kriegsakt“, wenn 120 Boote gleichzeitig auf Lampedusa ankämen. Doch die Regierung weiß, was sie zu tun hat: Die Migranten werden zu Tausenden aufs Festland gebracht. Neue Spannungen mit Paris und Berlin.

IMAGO/Zuma Wire
Lampedusa am 13.09.2023

Der Stadtrat von Lampedusa hat angesichts tausender illegaler Migranten auf der Insel den Notstand ausgerufen. Inzwischen wird die Belegung des Hotspots mit rund 6.800 Personen angegeben. Aber viele Migranten sind noch am Hafen, vielleicht auch sonstwo auf der Insel verteilt. Im stark überfüllten Hotspot war es am Mittwoch zu Spannungen gekommen. Während der Essensausgabe erhitzte sich die Atmosphäre durch den Protest einiger. Videos zeigen angeblich, wie Afrikaner über den Zaun der Anlage klettern.

Verschiedene Medien sprechen von deutlich mehr als 7.000 Menschen auf der kleinen vorgelagerten Insel, wie es auch logisch ist, wenn man allein die Ankunftszahlen vom Mittwoch (angeblich 2.154) zu den mehr als 5.000 am Dienstag hinzuzählt. Die anderen Tage der Woche sind da noch nicht eingerechnet. Auch am Montag waren es 1.900 Neuankömmlinge gewesen. Aber vielleicht, wahrscheinlich wurden die am Dienstag schon wieder fortgebracht. Man kommt zu einer Zahl von vielleicht an die 20.000 Migranten, die auf Lampedusa innerhalb einer Woche illegal ankommen. Inzwischen sind allein in diesem Jahr rund 125.000 Migranten in Italien gelandet.

Auch auf dem Kai blieb die Lage für die im Einsatz stehenden Finanzpolizisten nicht immer ruhig. Sie mussten hunderte Migranten davon abhalten, den Ort zu verlassen. Immer wieder versuchten einzelne zu entkommen, während andere von den Sicherheitskräften weggeführt wurden. Im Grunde ist es immer nur ein vorübergehender Notstand für die Inselbewohner, so effizient ist der Weitertransport der illegalen Zuwanderer. Doch auch das zehrt auf Dauer an den Nerven.

Nun erbt ganz Italien – dann die EU und Deutschland – das „Problem“

Der Bürgermeister von Lampedusa, Filippo Mannino, sagte, dass die Inselbewohner „physisch und psychisch erschöpft“ seien: „Wir brauchen eine echte Migrationspolitik und nicht ein System, das immer nur in Notständen funktioniert.“ Die Situation werde unbeherrschbar und unhaltbar. Allein auf dem Kai waren zeitweise rund tausend Migranten – praktisch nur Männer aus Subsahara-Afrika – versammelt, die auf die Busse des Roten Kreuzes warteten: „Das sind Bilder, die schmerzen.“

Der Bürgermeister forderte einen außerordentlichen Ministerrat auf Lampedusa, um diese humanitäre Krise umgehend zu beenden und die Insel von ihrem Los zu befreien. Hier sei auch das Verteidigungsministerium gefragt. „Rettung und rasche Überführung“ seien nun vonnöten. Doch darauf erhielt Mannino noch keine Antwort. Für ihn ist das Geschehen auch eine „Niederlage Europas“.

Doch was nun passiert, ist einfach: Die Migranten, die zu Tausenden auf die Insel kamen, werden zu Tausenden von ihr weg transportiert. Es gibt auch gar keine andere Möglichkeit, so klein ist Lampedusa. Schon am Mittwoch wurden insgesamt 1.650 Migranten verschifft – nach Porto Empedocle auf Sizilien, nach Bologna in Norditalien und an andere Orte. So erbt ganz Italien das „Problem“ von Lampedusa. 3.750 sollen an diesem Donnerstag verschifft werden, am Freitag noch einmal über 2.000.

Premierministerin Giorgia Meloni (Fratelli d’Italia) sagte freilich, die Transfers von der Insel seien nur eine Scheinlösung: „Die Frage ist nicht, wie wir uns des Problems (der Migranten) entledigen, sondern wie wir die Ankünfte in Italien stoppen können.“ Und wer wollte auch das bestreiten? Aber hatte Meloni nicht auch genug Zeit bis jetzt, um sich dafür – auch für solche Notstände wie den jetzigen – eine Strategie zu überlegen?

Ob es also eine Strategie oder Taktik in Rom in diesen Fragen gibt, bleibt unklar. Sicher ist, dass das Verhältnis zu Paris und Berlin allmählich immer mehr leidet. Nachdem Berlin und Paris beide auf ihre Weise signalisiert haben, dass sie keine weiteren Migranten aus Italien aufnehmen wollen – Frankreich mit vorgezeigter Härte an der Grenze, Deutschland mit der Aussetzung eines saft- und kraftlosen „Solidaritätsmechanismus“ –, kommentierte Meloni das so: „Auf irgendeine Art haben wir das erwartet.“

Noch ein Komplott gegen Giorgia Meloni?

Schon vor einiger Zeit hatte Rom seinen Partnern in der EU mitgeteilt, dass „wir die so genannten ‚dublinanti‘ (rücküberstellte Asylbewerber nach dem Dublin-Mechanismus) nicht mehr automatisch zurücknehmen können, weil unsere Hotspots voll sind“, so Meloni. Den von Nancy Faeser initiierten „Solidaritätsmechanismus“ bezeichnete die Italienerin in fast schon offener Feindseligkeit als „zweitrangig“. Nur „sehr wenige Menschen“ seien dadurch überhaupt aus Italien umgesiedelt worden, nämlich in der Tat nur etwas über 1.000 Personen.

Tatsächlich ist die Ministerpräsidentin gerade erst aus der Sommerpause zurückgekehrt, verriet aber in einem Fernsehinterview, dass sie derzeit nicht über ein Privatleben verfügt. Charakteristisch ist die Frage des Rai-Journalisten nach dem EU-Engagement des parteilosen Ex-Premiers Mario Draghi. Draghi soll für die Kommission einen Bericht über die „Zukunft der europäischen Wettbewerbsfähigkeit“ schreiben, weil er einen Zeitungsartikel in diesem Sinne verfasst hatte. Manche Jobs scheinen auf der Straße zu liegen. Der Moderator fragt, ob das schon wieder ein neues EU-Komplott gegen ihre Regierung sei. Meloni verneint, Draghi sei einer der glaubwürdigsten Politiker des Landes. Auch das sind neue Töne der allzeit wendigen Römerin.

Im Grunde lassen aber alle Regierenden die Lage laufen, wohl auch, weil bisher keine EU-weiten Mehrheiten für ein Umsteuern da sind. An diesem Donnerstag reist Meloni zufällig nach Ungarn, um Viktor Orbán zu treffen. Auch dieses Zusammentreffen wird keine Lösung für die verfahrene Lage des Kontinents bringen.

Salvini: Hinter diesem Exodus steckt eine Regie

Vizepremier und Verkehrsminister Matteo Salvini (Lega) betrachtet den extremen Zustrom als „kriegerischen Akt“ gegen Italien: „Wenn 120 Boote zur gleichen Zeit auf Lampedusa ankommen, ist dies kein einzelner Vorfall, sondern ein Kriegsakt. Das führt nicht nur Lampedusa, sondern die gesamte italienische Gesellschaft zum Zusammenbruch.“ Er sei „davon überzeugt, dass hinter diesem Exodus eine Regie steckt.“ Salvini will nun angeblich „keine Art der Intervention ausschließen“, um den Migrationsstrom zu stoppen: „Wenn man allein gelassen wird, kann man nicht anders handeln.“ Aber wie er nun wirklich handeln will, dazu gibt es keine Aussage, auch nicht von Salvini, der sich an dieser Stelle ein wenig kratzbürstiger als Meloni gibt.

Wer führt nun aber die Regie bei dieser wahrhaften Invasion Lampedusas, wenn Salvini damit Recht haben sollte? Einen Hinweis hat nun der Polizeipräsident von Agrigent auf Sizilien, Emanuele Ricifari gegeben. Danach stammen die meisten der in Lampedusa angekommenen Boote „mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit von Mutterschiffen, die sie in unseren Hoheitsgewässern zurücklassen“. Das wären in der Tat Neuigkeiten. Was für Mutterschiffe? Tunesische? Europäische? Von den Schiffen der berüchtigten Migrations-NGOs war bislang eher bekannt, dass sie zwischen der libyschen Sicherheitszone und den italienischen Küsten ihre Fahrten unternehmen.

Il Giornale lenkt dennoch die Aufmerksamkeit auf die 21 NGO-Schiffe, die rund um die italienische Südküste ihre zweifelhaften Dienste versehen – elf davon unter deutscher Flagge. Neun Schiffe verfügen über eine Kapazität von mehr als 200 Personen, die deutsche Sea-Watch 5 kann sogar 500 Menschen aufnehmen. Bisher ist aber nur von einigen Segelschiffen bekannt, dass sie zwischen Tunesien und Lampedusa operieren.

Auch kleine Schiffe wie die Mare*Go (ehemals Mare Liberum) haben Lampedusa anderen Häfen vorgezogen, weil die Insel auch näher an der libyschen Zone liegt als zum Beispiel Trapani auf Sizilien. Die kleinen Schiffe haben ungleich den großen Lastkähnen nicht die Möglichkeit, weit entfernte Häfen etwa in Norditalien anzulaufen. Wer die Regie führt, ist also auch damit nicht klar. Sicher ist an den tunesischen Präsidenten Kais Saied zu denken, der zwar mehr als 100 Millionen Euro an Zuschüssen von der EU annahm, aber die Bootsmaschine nun erst recht angeworfen hat. Vielleicht braucht er gerade ganz dringend noch mehr Geld? Doch auch Giorgia Meloni gerät damit unter Druck. Denn sie hatte das Abkommen angeschoben und ausgehandelt, eigentlich um genau diese Bilder und Szenen zu verhindern. Doch nun hat sich Saied genau jener Migranten entledigt, die er ohnehin schon seit Wochen loswerden wollte, weil sie auch in Tunesien für Unruhe und Unmut sorgen. Für ihn ist es eine Win-Win-Angelegenheit. Er kann nicht verlieren, solange die Europäer derart kraftlos agieren.

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