Was steckt hinter den israelischen Protesten?

Die Justizreform in Israel soll das Parlament gegenüber ungewählten Richtern stärken. Dagegen demonstriert eine elitäre Bewegung, die antidemokratische Züge aufweist. Von Daniel Ben-Ami

IMAGO / Xinhua

Am Montagabend hat das israelische Parlament, die Knesset, inmitten großer Proteste den ersten Teil des Justizreformpakets der Regierung verabschiedet. Das Gesetz zur „Angemessenheit“, das mit 64 zu 0 Stimmen verabschiedet wurde, soll die weitreichenden Befugnisse des Obersten Gerichtshofs Israels einschränken. Wie Jeremy Sharon in der Times of Israel dargelegt hat, kann der Oberste Gerichtshof Israels mit Hilfe des Instruments der „Angemessenheit“ die Entscheidungen gewählter Minister oder Funktionsträger als „unangemessen“ verwerfen. Er kann dies selbst dann tun, wenn diese Maßnahmen „nicht gegen ein bestimmtes Gesetz verstoßen oder im Widerspruch zu anderen Verwaltungsentscheidungen stehen“. Falls das Gesetz – der Oberste Gerichtshof könnte das Angemessenheitsgesetz allerdings noch für „unangemessen“ erklären – in Kraft tritt, wäre dies nicht mehr möglich.

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Auf jeden Fall stärkt das Angemessenheitsgesetz die israelische Demokratie. Es ermächtigt gewählte Parlamentarier zu Lasten einer nicht gewählten Justiz. Aber so stellen es diejenigen, die gegen die Justizreformen in Israel protestieren, nicht dar. Für diese Demonstranten und ihre Anführer in der israelischen Wirtschafts- und Militärelite sind die Justizreformen, die das Parlament stärken sollen, ein „Staatsstreich“.

Gleichzeitig vertreten die Demonstranten die antidemokratische Auffassung, dass ein mächtiger Oberster Gerichtshof die Macht des gewählten Parlaments beschneiden sollte. Sie protestieren im Namen der Demokratie, aber ihr Hauptanliegen ist es, das Handeln der gewählten Vertreter einzuschränken.

Das Angemessenheitsgesetz ist nur einer von mehreren Bestandteilen des Gesetzespakets der Regierung zur Justizreform. Zu den anderen gehören die Außerkraftsetzungsklausel (die es der Knesset ermöglichen würde, den Obersten Gerichtshof mit einfacher Mehrheit zu überstimmen), die Änderung der Richterernennung, und die Möglichkeit für Minister, ihre juristischen Berater selbst zu ernennen. Insgesamt sind die Reformen demokratisch ausgerichtet, indem die Macht der gewählten Politiker gestärkt und die der nicht gewählten Richter eingeschränkt wird.

Das Ganze gestaltet sich komplizierter, wenn man die Besonderheiten der israelischen Politik berücksichtigt. Die Koalitionsregierung, die diese Reformen vorantreibt, ist im Großen und Ganzen nationalistisch, religiös sowie gesellschaftlich konservativ und unterstützt die Siedlungen im Westjordanland. Sie umfasst sogar eine kleine, aber bedeutende Minderheit von Politikern, die man mit Recht als rechtsextrem bezeichnen könnte. Das bemerkenswerteste Beispiel ist Itamar Ben-Gvir, der Minister für Innere Sicherheit, der in der Vergangenheit wegen Unterstützung der jüdischen Terrorgruppe Kach verurteilt wurde.

Aus der politischen Einstellung der Regierung ergibt sich jedoch nicht, dass die Reformen selbst undemokratisch sind. Im Gegenteil: Die Reformen stärken das Parlament. Das kommt der Demokratie im Allgemeinen zugute, nicht einer bestimmten Partei im Besonderen.

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Die Protestbewegung ist im Großen und Ganzen als links einzuordnen. Ihre Anhänger sind in der Regel eher säkular und gesellschaftlich liberal eingestellt. Sie sind in vielen Fällen auch elitär und betrachten die Masse der Bevölkerung mit Verachtung. Aus diesem Grund sind die Demonstranten bestrebt, einen Obersten Gerichtshof zu unterstützen, der die Souveränität des Volkes aushöhlt.

Außerdem besteht kaum ein Zweifel daran, dass die Protestbewegung von wichtigen Teilen der israelischen Elite unterstützt wird. Alle führenden Bereiche des Militärs und der Geheimdienste, die eine Schlüsselrolle in der israelischen Gesellschaft spielen, sind stark vertreten. Öffentliche Unterstützung erhielt sie von drei ehemaligen Stabschefs des israelischen Militärs, fünf ehemaligen Leitern des Mossad (des Auslandsgeheimdienstes) und drei ehemaligen Leitern des Shin Bet (des Inlandsgeheimdienstes).

Zudem haben Tausende von Reservisten aus militärischen Eliteeinheiten erklärt, dass sie ihren Dienst verweigern werden, sobald die Reformen verabschiedet sind. Für ein Land wie Israel, das an mehreren Fronten mit Sicherheitsbedrohungen konfrontiert ist, unter anderem durch die Hamas, die Hisbollah und den Iran, stellt dies ein großes Problem dar. Die israelische Geschäftswelt, einschließlich des wichtigen High-Tech-Sektors, befürwortet die Proteste ebenfalls mit überwältigender Mehrheit, ebenso wie die akademische Welt und die Medien.

Den militärischen, wirtschaftlichen, akademischen und medialen Eliten gegenüber steht die schnell wachsende konservative Mehrheit in Israel. Diese tendenziell nationalistisch und religiös geprägte Bevölkerung wächst viel schneller als die säkulare Linke in Israel. Letztere hat daher das Gefühl, dass sie das politische System nicht mehr so dominieren kann, wie sie es seit der Gründung Israels getan hat. Daher konzentriert sie sich darauf, den Obersten Gerichtshof zu nutzen, um die Macht der gewählten Politiker zu beschneiden.

Natürlich sollten sich säkulare Israelis nicht auf den Obersten Gerichtshof verlassen müssen, um ihre Weltanschauung durchzusetzen. Sie könnten versuchen, ihre Landsleute davon zu überzeugen, liberalere Anschauungen anzunehmen. In der Tat wäre es ein Schritt nach vorn, die verschiedenen Teile der israelischen Gesellschaft davon zu überzeugen, eine liberalere Haltung einzunehmen, zum Beispiel in der Palästinenserfrage. Aber stattdessen fällt es der Linken leichter, ein richterliches Veto gegen gewählte Politiker zu fordern.

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Wogegen Israel kämpft
Yuval Noah Harari, ein internationaler Bestsellerautor, verkörpert die schlimmste Form dieser elitären Reaktion. Anfang dieses Monats kam er in Haaretz, dem israelischen Pendant zum Guardian oder zur New York Times, mit dem außergewöhnlichen Argument, dass Israel zunehmend antisemitisch wird. Er vollbrachte dieses bemerkenswerte Kunststück, indem er die Demonstranten in die historische Rolle der Juden in der Diaspora rückte, die „als ausländische Agenten, Kosmopoliten, nicht mit dem Land verbunden und als Verräter, die verschiedenen Arten von linken und Weltverschwörungen dienten“, verunglimpft wurden. Er kommt zu dem Schluss, dass „genau die gleichen Anschuldigungen heute von der israelischen Regierung gegen liberale Bürger des Landes erhoben werden“.

Es überrascht nicht, dass die traditionelleren Mitglieder der israelischen Bevölkerung wenig begeistert darauf reagieren, als Rassisten hingestellt zu werden. Wenn überhaupt, dann wird solch verächtliches Gerede ihren Illiberalismus noch verstärken, aus Gegnerschaft zu liberalen Scharfmachern wie Harari.

Erschwerend kommt hinzu, dass sich die Regierung Biden nun offen auf die Seite der Demonstranten stellt und sich damit in die inneren Angelegenheiten eines souveränen Staates einmischt. Das Weiße Haus hat diesen Monat sogar Thomas Friedman, einen altgedienten Kolumnisten der New York Times, ins Oval Office geholt, um Bidens Botschaft der israelischen Öffentlichkeit zu überbringen. Friedman zufolge fordert Biden die israelische Führung auf, „einen Konsens in kontroversen Politikbereichen“ zu finden und „nichts zu überstürzen“. Damit fordert Biden die israelische Regierung auf, die demokratischen Reformen im eigenen Land nicht weiter voranzutreiben.

In aller Deutlichkeit: Diese Proteste sind Ausdruck einer elitären Bewegung, die mit Unterstützung der USA darauf abzielt, den Willen der Massen zu unterdrücken. Israels „prodemokratische“ Proteste sind alles andere als demokratisch.


Dieser Beitrag ist zuerst beim britischen Magazin Spiked erschienen.
Mehr von Daniel Ben-Ami lesen sie in den Büchern „Raus aus der Mitte! Wie der Parteienkonsens unsere Demokratie untergräbt“ und „Cancel Culture und Meinungsfreiheit – Über Zensur und Selbstzensur“. Er betreibt die Website Radicalism of Fools, die sich dem Überdenken des Antisemitismus widmet. Folgen Sie ihm auf Twitter: @danielbenami

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Kommentare ( 19 )

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Bedenkentante
1 Jahr her

Vorweg: Teile der Reform finde ich berechtigt. Es war meines Erachtens auch nicht hinnehmbar, dass es Stimmen von nur zwei Richtern braucht um eine parlamentarische Entscheidung zu kippen. Zum Vergleich: In den USA braucht es dafür fünf Richter, in Deutschland vier und in Österreich sogar acht. Auch soll es Ministern freistehen, welche Mitarbeiter sie für sich wählen. Solange es keine Mauschelei à la Habeck und Graichen gibt. Wenn allerdings Militär und Geheimdienst vorgeworfen wird, dass sie sich mit ihrer Ablehnung der links-woken Elite anbiedern, dann frage ich mich schon, wo die Expertise von Daniel Ben-Ami liegt. Es wäre mir neu,… Mehr

Roland Mueller
1 Jahr her

Die Versuche, den Rechtsstaat auszuhebeln, kann man derzeit überall im Wertewesten beobachten. Es kommen nur je nach Land unterschiedliche Methoden zum Einsatz. Um die Proteste in Israel zu beenden, empfehle ich den israelischen Politikern auf die deutsche Methode zurückzugreifen, statt die Befugnisse der Gerichte per Gesetz einzuschränken. Die Besetzung der obersten Gerichte mit treu ergebenen Parteisoldaten erfüllt den gleichen Zweck wie die Einschränkung der Befugnisse der Richter per Gesetz und verursacht keine Geräusche.

Magdalena
1 Jahr her

Ich finde den Artikel sehr gut. Er enthält Informationen, die man ansonsten in deutschen Medien nicht bekommt. Den MSM ist meiner Meinung nach ohnehin nicht zu trauen – auch und besonders was Berichterstattung aus Israel anbelangt. Leider ist es so, dass viele junge Israelis, die bisher kaum politisch aktiv gewesen sind und keinesfalls dem linken Lager zuzurechnen sind, heute auf die Straße gehen, weil sie meinen, dass ihre Freiheitsrechte, die Demokratie in Israel insgesamt in Gefahr sei. Es sind junge Leute, die im Grunde konservative Werte vertreten. Unter ihnen geht die Angst um, über kurz oder lang in einem antidemokratischen… Mehr

Rachel
1 Jahr her
Antworten an  Magdalena

Und mit diesen Befürchtungen haben sie Säkularen durchaus recht. Wenn diese Leute ihre Pläne umsetzen, wird man Israel nicht wider erkennen.
DA dann das Gros der, zumindest jungen, Leistungsträger abwandert, wird der Staat auch langfristig nicht zu halten sein.
Jüdische Zuwanderung, Aliyah, har sich schon deutlich vermindert.

Paul Brusselmans
1 Jahr her

In Frankreich betonen Marine LePen (RN) und Eric Zemmour (Reconquete – ich liebe diesen Namen),dass die Justiz Politik betreibt, was nicht ihre Aufgabe ist. Beispiel: der in Nanterre Erschossene hatte 15 Vergehen (Hehlerei, Drogenhandel, Fahren ohne Führerschein, Ignorieren von Polizeianweisungen,…), aber keinerlei Vorstrafen. Er würde noch leben, hätte die Justiz ihre Arbeit gemacht. Die Gesetze bieten genügend Möglichkeiten der Bestrafung. Beispiel EUGH oder das Beispiel der Bundesverfassungsgerichts mit der offensichtlichen Verschleppung der Verurteilung Merkels wegen der „Wahlwiederholung“ oder der Inaktivität bzgl jahrelanger Ignoranz von GG 16a durch die Politik…

Boris G
1 Jahr her

„Insgesamt sind die Reformen demokratisch ausgerichtet, indem die Macht der gewählten Politiker gestärkt und die der nicht gewählten Richter eingeschränkt wird.“ Seit Montesquieu liegt hier der Hase im Pfeffer der Gewaltenteilung. Einer der Gründe für den Brexit war der EuGH, mit seinen für Briten unerträglichen Urteilen (durch britische Gerichte praktisch ausgebürgerten Terroristen wurde ein Bleiberecht garantiert). Das deutsche Verfassungsgericht kassiert regelmäßig ordentlich zustande gekommene Gesetzgebung des gewählten Parlamentes. In Polen droht der Kampf um die Besetzung der Gerichte zum Casus belli mit der EU zu werden. In den USA bestimmt die Besetzung des Obersten Gerichtshofs praktisch über die Standards des… Mehr

Venator
1 Jahr her

Immer wenn ich in einer politischen Frage wie z.B. bei der Einordnung der Demonstrationen in Israel selber keine Ahnung habe, nutze ich die deutschen Staatsmedien als Kompass.
Berichten ARD, ZDF & Co positiv, weiß ich, dass da etwas faul ist.
Danke für Ihre Einschätzung.

Last edited 1 Jahr her by Venator
Jens Frisch
1 Jahr her

Yuval Harari soll ein „Liberaler“ sein!?
„Humans are now hackable animals.“
Dieses eine Zitat der rechten Hand von WEF Klaus Schwab sollte ausreichen um zu erkennen, wessen Geistes Kind er ist.
(Was ich tatsächlich von dieser Person halte, darf ich nicht straffrei kommunizieren.)

Last edited 1 Jahr her by Jens Frisch
Ralf Poehling
1 Jahr her

Was ist an einem Obersten Gerichtshof demokratisch, der selbst von niemandem im Volk gewählt wird, der aber die vom Volk demokratisch gewählte Regierung jederzeit aushebeln kann? Nichts! Nachdem was ich weiß, besetzt sich der Oberste Gerichtshof in Israel selbst. Da man davon ausgehen kann, dass Mitglieder dieses Obersten Gerichtshofes niemanden in den eigenen Kreis berufen werden, der nicht auf der eigenen politischen Linie tickt, verfestigt sich dort auf Ewigkeit ein einseitiges politisches Weltbild mit einseitigen politischen Entscheidungen. Und da sollten die „weltlichen“ Protestler gegen die Justizreform mal auf den Erzfeind Iran schauen, denn dort ist das genauso. Will man in… Mehr

Roland Mueller
1 Jahr her
Antworten an  Ralf Poehling

Die Richter sind an geltende Gesetze gebunden, für die die Politiker verantwortlich sind. Zumindest dann, wenn es sich um einen Rechtsstaat handelt. Sie können die demokratisch gewählte Regierung also nur dann aushebeln, wenn diese sich nicht an die geltenden Gesetze hält.

Exilant99
1 Jahr her

Super Artikel hier. Danke an Tichys Einblick. Endlich ein deutsches Medium welche die Justizreform in Israel klar benennt und keine blinde Israel Hetze betreibt.

Die Linken in Israel haben verloren. Allein schon durch den demografischen Wandel in Israel, in dem religiöse Juden oft 5 Kinder und mehr haben während Linke Juden 1, maximal 2 Kinder haben. Diesen Kampf haben die Linken in Israel verloren. Sie sind Opfer ihrer eigenen Ideologie geworden in dem sie sich demografisch ins Abseits manövriert haben. Mit den Konsequenzen ihres Handels wollen sie sich allerdings nicht zufriedengeben.

Boris G
1 Jahr her
Antworten an  Exilant99

Plus die Masseneinwanderung aus der ehemaligen Sowjetunion, die sehr sehr konservativ denkende Neubürger beschert hat.

rainer erich
1 Jahr her

Ich bin, wiewohl natuerlich Aussenstehender, sehr geneigt, dem Autor zu glauben. Er beschreibt, von gewissen israelischen Feinheiten und Besonderheiten abgesehen, de facto nichts anderes, als eine weitraeumige westliche Entwicklung, angeführt von den sogen Eliten, gerne Transformation genannt, die, das ist der Unterschied zu Sch’land, auf Widerstand stoesst. Der Name Harari spricht fuer sich. Viel mehr muss man, wenn man einiges von ihm gehoert und gelesen hat, nicht wissen. Zunaechst ist positiv zu vermerken ist, dass der Autor die Rolle der Liberalen zutreffend würdigt, dann allerdings in den Relativierungsreflex faellt. Fuer Liberale ist es offenkundig sehr schwer, die Rolle des US… Mehr