Israel: Netanyahus Erfolg ist eine große Bürde

Während der Vereidigung der Minister und der ersten programmatischen Rede des Ministerpräsidenten Benjamin Netanyahu kommt es zu tumultartigen Unterbrechungen. Mehrere Abgeordnete der Opposition müssen den Saal verlassen. In Jerusalem und Tel Aviv gibt es Proteste gegen die Koalition. Ein guter Regierungsstart sieht anders aus.

IMAGO / UPI Photo
Benjamin Netanjahu während einer Sondersitzung der Knesset zur Vereidigung der neuen Regierung, 29. Dezember 2022

Benjamin Netanyahu hat es zum sechsten Mal geschafft, Ministerpräsident Israels zu werden – mit einer für israelische Verhältnisse satten Mehrheit von 64 von 120 Stimmen. Aber der Sieg ist mehr eine Bürde für ihn, seine Koalitionsregierung, das gesamte Parlament, das Land und die tief gespaltene Gesellschaft.

Äußere Kennzeichen dieser besorgniserregenden Entwicklung: Vorgänger Lapid verweigert seinem Nachfolger Netanyahu den Handschlag. Bei der Wahl des Parlamentspräsidenten Amir Ohana – immerhin das dritthöchste Amt im Staat – drehen ihm die religiösen, ultraorthodoxen Koalitionsmitglieder den Rücken zu oder verbergen ihr Gesicht. Grund: Ohana ist bekennender Homosexueller und dankte „meinem Mann Alon“ für seine andauernde Unterstützung.

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Ein guter Start der 37. Regierung in der jungen Geschichte Israels schaut anders aus. Während der Vereidigung der 30 Minister – davon fünf Frauen – und der ersten programmatischen Rede Netanyahus kommt es zu tumultartigen Unterbrechungen. Mehrere Abgeordnete der Opposition müssen den Saal verlassen. Draußen vor der Tür schaut es nicht viel besser aus. Hunderte protestieren in Jerusalem und Tausende in Tel Aviv gegen die Koalition, die mit rechts-national und religiös-orthodox nur unzureichend beschrieben ist.

Die Regierung, die der 73-jährige Netanyahu in mühsamen knapp zwei Monaten für eine geplante Legislaturperiode von vier Jahren kunstvoll politisch geschnürt hat, stellt zumindest auf dem Papier eine dramatische Veränderung der offenen, lebensbejahenden liberalen Demokratie Israels dar. Die einzige Hoffnung: Netanyahu wird mit seiner 15-jährigen Erfahrung als Ministerpräsident seinen Koalitionären gezielt und dosiert zeigen, dass die Nahost-Realität auf die auch mit viel Schweiß ausgehandelten Abkommen zwischen den fünf Parteien wenig Rücksicht nimmt.

Die Ernennung eines homosexuellen Parlamentspräsidenten in einer mit orthodoxen Rabbinern gespickten Regierung könnte ein erstes deutliches Anzeichen dafür sein, dass das bekannte Spiel „teile und herrsche“ bereits begonnen hat. In der Regierung sitzen eine ganze Reihe junger Erstlings-Minister, die so manche Kröte schlucken werden, bevor sie ihr Amt und die damit verbundenen Boni aufgeben werden. Netanyahu nutzt die politische Ranküne auch zur Verschleppung seines eigenen Gerichtsverfahrens wegen Korruption, das sich bereits im vierten Jahr befindet.

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In seiner ersten Rede vor dem Parlament hat er die wichtigsten Ziele seiner Regierung zusammengefasst: Einen nuklear-fähigen Iran kann Israel nicht zulassen; es gilt den Frieden mit weiteren arabischen Staaten – vor allem mit Saudi-Arabien – im Rahmen der Abraham Accords zu erweitern. Der dritte Punkt ist der zeitnahe Bau einer Nord-Süd-Schnellbahn. Denn Israel erstickt zusehends mit fast 300.000 Autozulassungen jährlich am individuellen Straßenverkehr. Unerwähnt blieb der wachsende Terror palästinensischer Extremisten, der seit Monaten fast wöchentlich Opfer unschuldiger Menschen fordert.

Vor diesem Hintergrund verblassen die durchaus beunruhigenden Ankündigungen der plus-vierzigjährigen Heisssporne, wie Itamar Ben Gvir und Bezalel Smotrich, die zum ersten Mal ihre Machtphantasien ausleben wollen. Oder die bärtigen Schwarzhutträger wie Avi Maoz und Itzchak Grossknopf, die jetzt glauben, die Weltanschauung der 3000 Jahre alten Thora in einer erfolgreichen Start-up-Nation 100-prozentig umsetzen zu können. Dabei unterschätzen sie die Kampfbereitschaft der Säkularen im Wirtschaftszentrum Tel Aviv, die Macht der gutorganisierten Ex-Diplomaten, der pensionierten, aber noch tatkräftigen Offiziere der Israel Defence Forces (IDF), der erfahrenen Richter, der kritischen Presse und der Wirtschaftskapitäne, die die Dollars verdienen, die die neue Regierung mit vollen Händen ausgeben will.

Niemand weiß es besser als Netanyahu, dass gegen die Mehrheit des Volkes und gegen die Proteste der jüdischen Gemeinden in den USA und Europa sicherlich nicht vier Jahre lang regiert werden kann. Seine Koalitionäre werden es lernen müssen. Andernfalls wird eintreten, was der abgewählte Lapid auf einem Zettel auf dem Schreibtisch des Ministerpräsidenten hinterlassen hat: „Wir sehen uns wieder 2024“.

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Ungemütlich wird es für Netanyahu auf alle Fälle. Er hat in seinem Amt einen stellvertretenden Minister, der etwas gegen illoyale Araber und die bunte LGBT-Gemeinde hat, die alljährlich Gay-Paraden veranstalten. Andere Kabinettsmitglieder halten Mathematik- und Englisch-Unterricht in ihren Religionsschulen für überflüssig und wollen die Definition für Zuwanderer „Wer ist Jude“ verschärfen. Dann gibt es noch Juristen, die mit einfacher Parlaments-Mehrheit oberste Gerichtsentscheidungen überstimmen wollen. Alles Herausforderungen, die in den letzten 75 Jahren nicht für alle zufriedenstellend, in einem Staat wie Israel mit multiplen Kulturen gewachsen in 2000 Jahren in der Diaspora bewältigt werden konnten. Jetzt soll es gestrickt mit der ganz heißen Nadel funktionieren?

Da gehen gute Nachrichten, die vorwiegend aus den arabischen Staaten kommen, die mit Israel seit gut zwei Jahren diplomatische Beziehungen pflegen, fast unter: Das Israel Philharmonic Orchester ist erstmals in UAE mit offenen Armen empfangen worden – zuletzt musizierten sie 1936 in einem arabischen Land, in Kairo. Damals gab es aber noch kein Israel. Und der ADQ-Fonds aus Abu Dhabi ist drauf und dran, 650 Millionen US-Dollar in Israels größte Versicherung „Phoenix“ zu investieren. Da glauben einstige Feinde Tausende Kilometer entfernt mehr an die Zukunft Israels als viele in Jerusalem, Tel Aviv und Haifa.

Dafür sprechen im ausklingenden Jahr 2022 Israels Exportzahlen, die durchaus imponieren: Waren und Dienstleistungen im Wert von 160 Milliarden US-Dollar, 10 Prozent mehr als im Vorjahr. Software – vor allem Sicherheits-Software – macht 42 Prozent, Forschung und Entwicklung 14 Prozent des Exports aus. Zahlen, die Israels nachhaltigen Erfolg unterstreichen. In einer Zeit, in der weltweit eine Rezession droht oder teilweise schon zu spüren ist. Ein Erfolg, dem sich niemand entziehen kann. Auch nicht die neuen vermeintlichen Besserwisser in Netanyahus neugestarteter Regierung.

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Kommentare ( 9 )

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1 Jahr her

Israel muss mit jeder amerikanischen Regierung zusammenarbeiten. Bibi weiss das und handelt entsprechend. Die abgeloeste Regierung war nicht rechts, die angeblich „rechte“ Partei von Naftali Bennet hat Etikettenschwindel betrieben und entgegen dem Willen ihrer Waehler gehandelt. Die islamistische Partei in der Koalition koennte man natuerlich als „rechts“ bezeichne, aber gerade in Europa empfindet eher die Linke den Islamismus als kompatibel mit ihrer politischen Sicht.

Nibelung
1 Jahr her

Langfristig werden sie die ganzen Animositäten ihrer Nachbarn und der gesamten muslimischen Welt vermutlich nicht überdauern, denn das Konstrukt war von anfang an falsch aufgezäumt und die vielen Niederlagen und auch Veränderungen seit der mesopotanischen Ära bis heute belegt doch im Grunde, daß hier im Gegensatz zu anderen Staatsgebilden keine Kontinutiät vorhanden ist, denn Rechtsansprüche für dieses Fleckchen Erde erheben viele, die Frage ist nur, kann man es auf Dauer durchsetzen und da kann man so seine Zweifel haben, unabhängig davon wie es von den einzelnen Seiten begründet wird. Im übrigen kann man dabei auch andere Ereignisse herbei zitieren, wo… Mehr

Aegnor
1 Jahr her

Nun ja – die Israelis machen ihre eigene Politik. Völlig unabhängig davon was links-„liberale“ Juden wie Rosenberg, die in den sicheren USA oder im (immer weniger) sicheren Europa sitzen, davon halten. Übrigens hat Netanjahu demokratisch betrachtet einen viel größeren Teil der jüdischen Bevölkerung hinter sich als die Vorgängerregierung. Diese bunte Mischung von Gantz‘ Gnaden stützte sich nämlich auf die Partei der arabischen Minderheit, welche bis heute den Staat Israel auslöschen will. Sie hatte also weit weniger als die Hälfte der staatstragenden Bevölkerung hinter sich und paktierte offen mit den Todfeinden Israels. Es war von Anfang an klar, dass sie scheitern… Mehr

Last edited 1 Jahr her by Aegnor
Ralf Poehling
1 Jahr her

Die Israelis nähern sich mit ihrer neuen konservativ-rechten Regierung den konservativ-rechten Regierungen der arabischen Welt an und eröffnen erst dadurch die Tür zum Dialog, die den Links-„Liberalen“ von vornherein verschlossen bleibt. Das kann gut oder schlecht sein. Je nachdem, was letztlich das Ziel der ganzen Sache ist und am Ende dabei herauskommt. Eine gemeinsame Kommunikationsebene mit den Arabern zu finden und mittels stramm konservativer Politik die Zukunft des Staates Israel zu festigen, ist richtig. Links-„liberale“ Politik ist eben keine wirklich taugliche Grundlage für ein sich selbst erhaltendes Volk. Selbsterhalt geht nicht ohne ein Mindestmaß an Konservativismus. Allerdings darf die Annäherung… Mehr

Exilant99
1 Jahr her

Schade dass auf Tichy’s Einblick, wie auch auf allen anderen Platformen der deutschen Presse, diese Koalition als negativ gesehen wird. Ich bin mit der Koalition sehr zufrieden. Ja, die Parteien wie Otzma Yehudit,Tkuma und Noam sind ziemlich weit rechts und hängen teilweise dem ultra orthodoxen Judentum an, aber genau das braucht Israel und reflektiert auch die gesellschaftliche Zusammensetzung. Zudem war es eine demokratische Wahl! Der Konflikt mit den Arabern wird wieder blutiger und brutaler, daher braucht es Bibi um die Hamas in ihre Schranken zu weisen. Lapid hat das nicht geschafft und unter seiner Regierung war es eines der blutigsten… Mehr

GefanzerterAloholiker
1 Jahr her

Itamar Ben-Gvir aus der Partei Otzma Yehudit wird eine autonome Streitmacht führen. Der Monsieur Ben-Gvir ist ein Schüler von Rabbi Meir Kahane, der die Vertreibung arabischer Bürger aus dem Land fordert. Und die Errichtung einer Theokratie. Er will die Grenzpolizei einsetzen, um die arabische Bevölkerung zu vertreiben, ob muslimisch oder christlich. Der nun ehemalige Verteidigungsminister Benny Gantz hatte sich dazu eindeutig geäußert. Die Partei Otzma Yehudit hat in dieser Regierung alle Karten in der Hand, radikale Veränderungen umzusetzen. Netanjahu lehrte als junger Mann, Palästina sei „ein Land ohne Volk für ein Volk ohne Land“. Er war für die Vertreibung aller Araber.… Mehr

Gerd07
1 Jahr her

„Mehrere Abgeordnete der Opposition müssen den Saal verlassen. In Jerusalem und Tel Aviv gibt es Proteste gegen die Koalition. Ein guter Regierungsstart sieht anders aus.“

Nicht so schnell mit den jungen Pferden!

Nur weil die ehemalige Regierung sich als schlechter Verlierer erweist, ist das kein schlechter Start für die neue Regierung.

„Niemand weiß es besser als Netanyahu, dass gegen die Mehrheit des Volkes…“

Jetzt wird es aber absurd. Er hat eine Mehrheit hinter sich, nicht gegen sich! Und zwar einen größere als die alte Regierung.

Prometheus
1 Jahr her

Einen nuklear-fähigen Iran kann Israel nicht zulassen; Es gibt keine Atomwaffen. Russland hat keine, die USA haben keine, Israel hat keine. Nordkorea hat auch keine. es gilt den Frieden mit weiteren arabischen Staaten – vor allem mit Saudi-Arabien – im Rahmen der Abraham Accords zu erweitern. Wurde von Kushner verhandelt, der das Building 666 in New York besitzt und Anhänger der Kabbala ist. Weder heutige Araber noch irendwelche arabisch titulierten Länder, noch Israel sind semitisch geschweige denn haben Abraham zum Vater. und wollen die Definition für Zuwanderer „Wer ist Jude“ verschärfen. Kaum ein Bewohner Israels ist nach Abstammung Jude. Shlomo… Mehr

Okko tom Brok
1 Jahr her

Dem Artikel zufolge entwickelt sich Israel zu einem “Gottesstaat”, der mich fast an den Iran erinnert. Gegenstimmen zu dieser Einschätzung fehlen, Hintergründe und Ursachen dieser beklagten Entwicklung ebenfalls. Mir fehlt – anders als bei den TE-Artikeln sonst – “die Meldung hinter der Meldung”, also das, was es mir überhaupt erst ermöglichen würde, die Lage nicht nur zu beklagen, sondern zu bewerten.