In Italien wird vielfach die EU-Flagge eingeholt

Der Vizepräsident der italienischen Abgeordnetenkammer trägt Atemschutzmaske und Handschuhe, geht zur EU-Fahne, nimmt sie ab und faltet sie ein. Die italienische Trikolore nimmt ihren Platz ein. Er zeigt die eingeholten Flagge in die Kamera und spricht langsam, aber ernst: „Vielleicht sehen wir uns später (wieder). Vielleicht.“

© Filippo Monteforte/AFP/Getty Images

Fabio Rampelli schweigt. Der Vizepräsident der italienischen Abgeordnetenkammer trägt Atemschutzmaske und Handschuhe. Dann geht er zur EU-Fahne im Büro, nimmt diese ab, und faltet sie ein. Die italienische Trikolore nimmt ihren Platz ein. Er widmet sich wieder der eingeholten Flagge, zeigt sie kurz in der Kamera, und spricht langsam, aber ernst: „Vielleicht sehen wir uns später (wieder). Vielleicht.“

Rampelli ist Mitglied der „Fratelli d’Italia“, der Partei von Giorgia Meloni. Die Nationalkonservativen gelten als Bündnispartner von Lega-Chef Matteo Salvini und sind für ihre kritische Haltung gegenüber der EU bekannt. Aber Rampellis Auftreten ist kein Einzelbeispiel. Mehrere Bürgermeister haben in ihren Kommunen ähnlich protestiert. Vittorio D‘Alessio, Bürgermeister von Mercogliano (Provinz Avellino) hat die EU-Flagge am Rathaus seit einer Woche auf Halbmast gesenkt. „Von der EU, die wir mitgegründet haben, erwarten wir etwas mehr. Konkrete Solidarität bekommen wir stattdessen von Ländern, die nicht der EU angehören.“ In der Kommune Castiglion Fiorentino hat Mario Agnelli die Flagge sogar ganz eingeholt. Er gehört einer unabhängigen Liste an, wird aber von Salvinis Lega unterstützt. Man würde die Flagge wieder an ihren Platz zurücksetzen, wenn Brüssel zeige, dass man einer echten Europäischen Union angehöre. Der Bürgermeister von Codoneghe in der Provinz Padua, Marco Schiesaro, bindet die Flagge mit zwei weißen Bändern zu.

— RadioSavana (@RadioSavana) March 31, 2020

In den sozialen Medien gehen Videos von Italienern viral, die ihren Unmut über die EU äußern. Darunter eines, in dem eine EU-Flagge zur italienischen Nationalhymne verbrannt wird. Einige Firmen haben vor ihrem Sitz die EU-Flagge gegen eine chinesische oder russische Flagge ausgetauscht. Die Italiener fühlen sich dabei nicht nur nach Wochen alleingelassen – Sie erkennen in der EU und den Mitgliedsstaaten phlegmatische Unbeweglichkeit. Premier Giuseppe Conte konzentrierte diese Stimmung in einer Videokonferenz der EU-Regierungschefs. Deutsche Medien sprachen von einem „aggressiven“ Verhalten des italienischen Ministerpräsidenten. In Wirklichkeit sah sich Conte mit einer Kanzlerin konfrontiert, die auch diese Krise aussitzen wollte; eine Strategie, die vielleicht bei vielen deutschen Mitbürgern Erfolg hat, aus italienischer Sicht jedoch Fahrlässigkeit bedeutete.

Zeit zum Lesen
„Tichys Einblick“ – so kommt das gedruckte Magazin zu Ihnen
Mittlerweile geht es nicht nur um Hilfslieferungen und Pandemiepläne, sondern um Maßnahmen gegen eine postcoronale Wirtschafts- und Finanzkrise. Was die Italiener dabei in Rage brachte, ist aber nicht nur die Absage möglicher Euro- bzw. Corona-Bonds. Deutschland hielt es nicht einmal für nötig, einen Gegenvorschlag zu bringen. Es existiert kein Plan B. Die Regierung Merkel blockt ab, obwohl sie sonst den heimlichen Hegemon des Kontinents spielt. Aus Sicht Contes steht aber viel mehr auf dem Spiel, als man sich nördlich der Alpen vorstellen will. „Wie kann man nur glauben, dass man auf diesen symmetrischen Schock der Corona-Krise mit Mitteln aus der Vergangenheit reagieren kann“, schleudert Conte der Kanzlerin entgegen. „Die Konsequenzen der Covid-19-Krise müssen nicht erst in den kommenden Monaten angegangen werden, sondern schon morgen früh.“

Unausgesprochen steht aus Sicht der romanischen Mitgliedsstaaten derzeit ein Ende der EU in jener Form bevor, wie wir sie kennen, sollten nicht dringend Maßnahmen eingeleitet werden. In Berlin begnügt man sich dagegen – wie schon am Anfang der ganzen Krise – mit Trippelschritten. Darauf könnte am Ende wieder panischer Aktionismus folgen. Das Verhalten wird in Italien mittlerweile als unerträgliche deutsche Arroganz wahrgenommen.

Dass Russland, China, ja sogar Kuba in Italien früher geholfen haben als die EU-Mitgliedsstaaten, besitzt zuerst eine große Symbolkraft. Mit Sicherheit steckt dahinter auch eine Trollerei, deren außenpolitische Dimension beinahe das Twitter-Niveau des US-Präsidenten erreicht. Ein moralischer Sieg der nicht-westlichen Fraktion. Es wäre aber nicht nur verkürzt, sondern auch faktisch falsch, diesen Coup als reine Propaganda abtun zu wollen. Besonders die russische Hilfe – zu der eben nicht nur Militärlaster und Soldaten gehörten, sondern auch Militärärzte, Schutzausrüstungen, Masken, Beatmungsgeräte und Desinfektionsfahrzeuge – war Anlass zu viel Kritik in deutschen Medien, die man in Italien sehr empfindlich aufnahm.

Grenze am Evros 
Von der Krise zur Pandemie und zurück?
Die deutsche Hilfe, die fünf Wochen nach dem großen Corona-Ausbruch erfolgt, nimmt sich mit 300 Atemgeräten und sechs italienischen Patienten in deutschen Krankenhäusern dagegen sehr bescheiden aus. Deutschland hat bisher zwei Flüge mit Hilfslieferungen nach Italien übernommen, Russland fünfzehn. Die Medien versuchen dies hierzulande schönzufärben; was die Italiener aber auch nicht vergessen haben, ist der Verbleib von 830.000 bestellten OP-Masken, die laut Il Giorno Anfang März in Deutschland verschollen gingen. Am 20. März summierte der Corriere della Sera die Zahl der blockierten Schutzmasken, die Italien nicht erreichten, auf 19 Millionen Stück. Die EU spendete ihr freundliches Lächeln über eine italienische Videobotschaft Ursula von der Leyens. Worte sind gratis, wie immer.

Der Kampf um Mundschutzmasken führt das Misstrauen zwischen den eigentlich verbündeten Staaten vor Augen. Da ist die Geschichte von einer chinesischen Lieferung, die für die Schweiz bestimmt ist, und von deutschen Zollbehörden aufgehalten wird, bis die Deutschen die Lieferung nach Schweizer Protesten doch gewähren lassen. Da sind 680.000 Masken und tausende Beatmungsgeräte aus China, die von tschechischen Beamten kassiert wurden, weil sie angeblich gestohlen seien – und anschließend in tschechischen Krankenhäusern auftauchten. Am Ende sieht sich Prag gezwungen, den peinlichen Vorfall zu bestätigen. Einen ähnlichen Vorwurf erhebt Italien gegen Polen, wo ebenfalls eine Lieferung abhandengekommen sein soll. Warschau hat solche Unterstellungen zurückgewiesen. Aber auch Italien selbst hat sämtliche Lieferungen von medizinischen Hilfsgütern eingestellt, und lässt diese an Landesgrenzen stoppen. Die europäische Solidarität wird zur Farce. Stattdessen haben die EU-Staaten ihre Masken fallen lassen. Am Ende ist sich doch jeder selbst der Nächste.

Anzeige

Unterstützung
oder