Wieviel Freiheit ist noch erlaubt im freien Westen? Der Fall Pawel Durow

Der Krimi um die Ermittlungen gegen Pawel Durow, CEO von Telegram, geht weiter. Die Presse erwartet noch viele Folgen. Der Kampf der Individualisten mit den Staaten und Kollektiven hat damit ein Spielfeld mehr gefunden. In Deutschland träumen die Grünen von einem „Kampf für die Demokratie“ à la brasilienne.

picture alliance / ZUMAPRESS.com | La Nacion

Nach vier Tagen kam Pawel Durow wieder frei. Es war keine Untersuchungshaft, nur eine ziemlich lange Vernehmung, die fast die maximal erlaubten 96 Stunden erreichte. Es ist nicht wahrscheinlich, dass da so viel mit Durow zu besprechen war. Insofern ging es wohl um ein Signal an alle Social-Media-Gewaltigen, dass auch sie dem französischen Recht unterworfen sind, soweit sie sich in Frankreich aufhalten oder dort wirken. Das ist das Spannungsfeld zwischen Politik und weltweit agierenden IT-Unternehmern. Wo die einen der Gleichheit aller vor dem Staat und seinen Gesetzen frönen, wollen die anderen die Freiheit des Einzelnen maximieren. Égalité hier, Liberté da, was auf der Strecke bleibt, ist die Fraternité, Brüderlichkeit. Denn als zu Gegnern gewordene Brüder im Geiste könnte man jetzt auch Durow und Macron ansehen.

Die Nähe zwischen beiden war sicher nicht die allergrößte, aber doch gegeben. Noch 2018 war Durow von Macron empfangen worden. Im August 2021 wurde er als Franzose naturalisiert, obwohl er die normalen Bedingungen dafür kaum erfüllte. Er wohnte nicht in Frankreich und hatte keine Familie dort. Allenfalls als Wohltäter der französischen Nation konnte er so schnell und ohne viel Aufhebens eingebürgert werden, dazu allerdings musste er Französisch sprechen, was er erst nach dem Akt in Angriff nahm, wie Macron jetzt mitteilte. Le Monde glaubte seit längerem, dass Präsident Macron seine Finger im Spiel hatte bei dieser Blitz-Einbürgerung. Der Präsident hat dieses Detail nun bestätigt.

Nun wären sie also – vielleicht durch den Eingriff der Pariser Staatsanwälte – feindliche Brüder geworden, frenemies, allerbeste „Freinde“. Macron ist selbst ein passionierter Nutzer von Telegram und auch an den Unternehmern der Tech-Szene immer interessiert. Insofern konnte man Durow zunächst Glauben schenken, wenn er am Flughafen behauptete, Macron erwarte ihn just in diesem Moment zum Abendessen. Doch Macron war an dem Wochenende auf dem Landsitz seiner Frau in Le Touquet am Ärmelkanal, nicht in Paris, wie er dementierend mitteilte.

Nun ist Durow also, gegen knapp fünf Millionen Euro Kaution,wieder frei. Er darf das Land aber nicht verlassen und muss sich zweimal pro Woche bei der Polizei melden. Inzwischen soll er eine Wohnung in Paris suchen. Paris Match konnte zudem dokumentieren, dass er die Zeit mit entspannten Spaziergängen auf den Champs-Élysées verbringt, stets in Begleitung seiner Freundin, Julia Vavilova, angeblich „Kryptowährungs-Coach und Streamerin“, die sich damit hervorgetan hatte, den gemeinsamen Reiseverlauf in Kasachstan, Kirgisistan und Aserbaidschan durch Instagram-Posts bekannt zu machen. Das gab den französischen Ermittlern vielleicht sogar Hinweise.

Deutschland hat sich die Zähne an Durow ausgebissen

Der umfangreiche Katalog an Vorwürfen gegen Durow wird inzwischen in der französischen Presse auch kritisch kommentiert. Der Figaro spricht von einer „Litanei von Verstößen“, die Durow zur Last gelegt werde. Laut Welt geht es um tausende unbeantwortete Anfragen der französischen Gendarmerie und anderer Sicherheitsbehörden, die von Telegram die Offenlegung von Nutzeridentitäten gebeten haben. Auch in Belgien gibt es ähnlichen Frust der Ermittler, in Deutschland wollten die Behörden ebenfalls via Telegram auf die Jagd nach „Islamisten, Rechtsextremisten und Verschwörungstheoretikern“ gehen. Aber der NRW-Verfassungsschutz hatte die systematischen Anfragen vor einem Jahr eingestellt, weil da „so gut wie nichts mehr“ komme. Den Löschanfragen des BKA gegen strafbare Inhalte kam Telegram aber meist nach: 554 von 605 angeforderten Inhalten wurden gelöscht. Die Branchenseite Netzpolitik.org findet „äußerst erratisch“, was auf Telegram geduldet wird und was nicht. Nach eigenen Angaben schränkt Telegram „Aktivitäten, die in den meisten Ländern als illegal angesehen werden“, ein. So löschte man etwa Kanäle von Attila Hildmann. Auch dschihadistische Propaganda verschwinde, während man Drogen-Shops weiterhin problemlos finde. Es besteht ja auch ein gewisser Unterschied zwischen beiden.

Schon im Oktober 2022 erließ das Bundesamt für Justiz zwei Bußgeldbescheide über insgesamt 5,125 Millionen Euro. Es ging um „Verstöße gegen die Pflicht zur Vorhaltung gesetzeskonformer Meldewege sowie gegen die Pflicht zur Benennung eines inländischen Zustellungsbevollmächtigten“. Das erinnert an die Irritation des brasilianischen Bundesrichters Alexandre de Moraes über Elon Musk und dessen Plattform X, ist aber wiederum nicht ganz so explosiv in der Reaktion. Telegram legte Einspruch ein. Die Plattform versucht sich mit ihrer begrenzten Größe zu retten: Man habe ja keine zwei Millionen Nutzer, ab denen das deutsche Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG) greifen würde, wie LTO schrieb. Seither ist es ruhig um die Sache geworden.

Frankreich und seine Probleme mit organisierter Kriminalität

Der Fall ist im Grunde noch verzweifelter als das versuchte deutsche Vorgehen gegen X, dem man ebenfalls Mängel beim internen „Beschwerdemanagement“ vorwarf. Laut deutschem NetzDG müssen Online-Plattformen Beschwerden von Nutzern zumindest aufnehmen und gegebenenfalls auch darauf reagieren. Doch für X gilt das deutsche Gesetz nicht, weil das Unternehmen seinen europäischen Sitz in Irland hat. Angeblich wollte Durow sein Unternehmen ja einst nach Berlin verlegen, nur die deutsche Bürokratie stoppte ihn – und vielleicht eine Vorahnung von diesem NetzDG, das dann irgendwann auch ihn betreffen könnte. Aber die Anwendung dieser Gesetze scheint meist eher träge zu sein. Auch für Frankreich erwartet der Figaro nun einen „juristischen Fortsetzungsroman … lang und verschlungen“. Der Erfolg der französischen Justiz sei am Ende unsicher.

Auffällig sind am französischen Fall vor allem die Vorwürfe aus dem Bereich der organisierten Kriminalität, die man in Frankreich aus gutem Grund auf dem Kieker hat. Dabei geht es aber stets nur um die sogenannte „Beihilfe“, weil Durow den Kriminellen durch Telegram ein Forum für ihren Austausch bietet. Namentlich mit dem Drogenhandel hat Frankreich ja so einige Probleme, und vielleicht ist man auch daher nicht gut auf Telegram zu sprechen. Aber letztlich sind das hausgemachte Probleme. Man zieht im Wortsinn den „Messenger“ für die darauf versandten Botschaften zur Rechenschaft.

Auch die Wirtschaftszeitung Les Échos fragt, wie „man Komplize von Handlungen sein [kann], für die man nicht verantwortlich ist“. Passive Komplizenschaft gibt es laut Strafrecht nicht. Kann man Komplize sein, ohne selbst kriminell zu werden? Es geht wohl eher um Strafvereitlung als um Komplizenschaft, weil Durow seine Messenger-Anwendung nicht für die Spione in den Behörden öffnet. Die Anonymität der Nutzer soll aufgehoben werden, doch das ist die rote Linie, die Durow nicht überschreiten will. Die Mittel erscheinen hier aber etwas brachial-mediäval. Heutzutage sollte man solch ein Zugeständnis nicht mehr mit Festungshaft erzwingen.

Ob die Vorwürfe einen Prozess gegen Durow tragen würden, bleibt unsicher. Genauso gut könnte man auch die Telephongesellschaften der „Beihilfe“ beschuldigen, weil Kriminelle gelegentlich über das Smartphone miteinander kommunizieren.

Kein Reich der Kryptodienste

Besonders interessant ist hierbei der Vorwurf der „Bereitstellung und Einfuhr eines kryptologischen Mittels, das nicht ausschließlich der Authentifizierung oder Integritätskontrolle dient, ohne vorherige Anmeldung“ oder auch die „Bereitstellung von Krypto-Diensten zur Gewährleistung der Vertraulichkeit ohne zertifizierte Anmeldung“. Netzpolitik versteht diesen Vorwurf als direkten Angriff auf die Verschlüsselungstechnologie von Telegram. Seit ein paar Jahren sei in Frankreich vorgeschrieben, dass Verschlüsselungsangebote registriert werden müssen. Die Strafen reichen von 30.000 Euro Bußgeld bis zu zwei Jahren Haft. Der Verdacht liegt nahe, dass es den französischen Behörden eigentlich um die allumfassende Einsichtnahme in die Telegram-Chats geht, also um die Einrichtung einer sogenannten „Hintertür“ (backdoor), die es besonderen Akteuren erlaubt, Inhalte trotz Verschlüsselung mitzulesen.

„Dass eine solche Regelung in einem demokratischen Land überhaupt besteht“, findet Netzpolitik.org „fatal“. Telegram sei dabei „gerade das Gegenteil eines betonharten Verschlüsselungstools“. Die Verschlüsselung privater Chats muss man aktivieren, Gruppenchats sind nie geschützt. Allerdings bietet Telegram seinen Nutzern Anonymität, Nichtnachverfolgbarkeit und schützt sie so relativ konsequent vor dem Durchgriff der Staaten. Mit diesem Ziel war Durow, nach den russischen Repressionen gegen seine Plattform VKontakte, angetreten, um einen Freiraum für die Online-Nutzer zu schaffen. Das begrüßte der Westen im Fall Weißrusslands oder auch der Ukraine. Im eigenen Rechtsraum scheint man inzwischen eher Probleme darin zu sehen.

Zwischenzeitig gab es eine Welle von Cyber-Attacken auf französische Webseiten durch „Hacktivisten“, aktivistische Hacker, die damit quasi einen Angriff auf einen der Ihren erwidern. Betroffen waren die Seiten des Bauernverbands Confédération paysanne, der nationalen Agentur für Arzneimittelsicherheit, der öffentlichen Agentur für ökologischen Übergang (Ademe), auch die offizielle Seite der französischen Verwaltung (Service-public.fr), die Medizinseite Doctolib sowie Medienseiten. Es handelte sich um einen sogenannten „verteilten Dienstverweigerungsangriff“ (Distributed Denial of Service, DDoS), der ohne weitere Folgen wieder vorübergeht, die Seiten aber zeitweise lahmlegt.

Was Durow sagt und Musk tut

Derweil bleiben einige von Durows älteren Aussprüchen aktuell, beleuchten zumindest die Kampagne der französischen Behörden gegen ihn. So sagte er 2016 gegenüber CNN: „Wir können die Messaging-Technologie nicht für alle sicher machen, nur nicht für Terroristen. Es ist entweder sicher oder nicht sicher.“ Und das gilt offenbar auch für Kinderschänder, die Welt zitiert einen Fall aus den Ermittlungsakten, laut dem ein Telegram-Nutzer entsprechende Straftaten zugegeben haben soll. Wird Durow hier künftig Ausnahmen zulassen müssen? Und was bedeuten diese für den politischen Widerstand, der sich in vielen Ländern der Welt auf Telegram formiert?

Die USA hielt Durow schon einmal für einen „Polizeistaat“. Zugleich beklagte er, 2015 in San Francisco Opfer von Dieben geworden zu sein, die sein Telephon stehlen wollten. Das ist durchaus eine typisch russische Kritik an den Zuständen im chaotischen, von übermäßiger Kriminalität heimgesuchten Westen. Die USA hält Durow auch aus anderer Sicht nicht für den besten Ort, um ein IT-Unternehmen zu führen: „Lokale Programmierer sind teuer, verwöhnt und oft nicht in der Lage, sich auf die Arbeit zu konzentrieren, weil sie mit Vorschlägen und Ideen von außen überhäuft werden.“ Silicon Valley ist nicht sein Wunschort. Anscheinend kann einer wie er nur im Reibungsraum zwischen den großen Systemen bestehen.

Auch Elon Musk will Kalifornien, in seinem Fall San Francisco, anscheinend den Rücken kehren – wegen der Gesetzgebung zu vermeintlichen Trans-Kindern, einem heißen Thema für Elon Musk, der selbst einen Sohn an den „woken Virus“ namens Trans verloren hat, wie er unlängst gestand. Noch ist es also nicht das restriktive Meinungsklima, das Musk zu diesem Schritt zwänge, obwohl die Propaganda für die Trans-Ideologie durchaus in dieser Rubrik gehört.

In Brasilien hat Präsident Lula nun gemeint, das Vorgehen seines Bundesrichters sei „ein wichtiges Signal, dass die Welt nicht gezwungen ist, das rechtsextreme ‚Anything goes‘ von Musk zu dulden, nur weil er reich ist.“ Das ist eine sehr verquere Gedankenwelt, die sich vor allem im Verbot von abweichenden Meinungen gefällt. So scheint der von Sozialisten besessene Staat dazu ermächtigt, die Liberalität selbst aus den Netzwerken der Gesellschaft zu vertreiben, wenn es ihm gefällt. Ein Vorbild für andere Staaten ist das ganz sicher nicht.

Musk hat auf X damit begonnen, die Verfehlungen von Alexandre de Moraes zu dokumentieren. So denunzierte der Richter einen Post als kriminell, in dem ein Senator den Polizeichef des Landes als „Henker“ von Bundesrichter de Moraes bezeichnet hatte. Majestätsbeleidigung, In-Frage-Stellung, ja Delegitimierung des Staates war das vielleicht schon, aber strafwürdig damit doch noch nicht. Vielmehr hätte man über die Wahrheit der Sache diskutieren müssen. De Moraes forderte im Namen der „Demokratie“ die Sperrung des Senators Marcos do Val von mehreren Online-Plattformen. Das alles ähnelt nur zu sehr jener Forderung nach einer „Taskforce“ gegen „Desinformation“ und „zum Schutz der Demokratie“, wie sie in Deutschland namentlich die minoritären Grünen fordern.

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Kommentare ( 4 )

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bfwied
7 Tage her

Es werden zunehmend schnell alle Gewissheiten, alle Rechtsüberzeugungen auf den Kopf gestellt bzw. hinweggewischt. Kinderschändung ist widerlich, und es gibt noch sehr viel mehr Widerliches, wie Terroristisches. Das werden wir niemals unterbinden können, nicht einmal um den Preis der totalen Aufgabe der Freiheit, weil diejenigen, die solche Dinge tun, immer andere Wege finden werden. Wollen wir nun die Freiheit des Individuums behalten, dass dessen Mitteilungen an andere Leute nicht von anderen prüfend mitgelesen werden, oder wollen wir die totale Überwachung? Wenn grundsätzlich erlaubt ist, dass mitgelesen werden kann, dann wird das ausarten, so, wie jetzt schon mit der „Gefährderansprache“ bez.… Mehr

fatherted
7 Tage her

Telegram ist eine Platform…also ein Dienstleister der anderen eine Leistung zur Verfügung stellt ohne die Inhalte zu kontrollieren. Die Forderung die Inhalte zu kontrollieren ist in etwa so, als wenn man einem Brief oder Paketdienstleister vorschreiben wollte, dass in den transportierten Briefen und Paketen keine Drogen, Waffen, Pornos oder sonstwas versandt werden darf…und wenn sie das nicht kontrollieren sie in den Knast kommen.

Autour
7 Tage her

Man sollte nicht den Fehler machen, die französischen Behörden und auch Politiker mit den unseren zu vergleichen!
So langsam kommt mir der Verdacht einer lang geplanten Aktion um für den Fall der Fälle genau so reagieren zu können… Tja die Falle schnappte nun zu und jetzt kommt er da nicht mehr raus! Jetzt wird und muss er Zugeständnisse machen…

W aus der Diaspora
8 Tage her

Es ist entweder sicher oder nicht sicher.Und das gilt offenbar auch für Kinderschänder, die Welt zitiert einen Fall aus den Ermittlungsakten, laut dem ein Telegram-Nutzer entsprechende Straftaten zugegeben haben soll. Ja, das gilt auch für Kinderschänder. Klar, da wird jeder normale Mensch schlucken und fast automatisch sagen, dass ist aber nicht gut. Doch, Gesetze gelten entweder für alle oder für niemanden. Bei uns ist jeder unschuldig, bis er von einem Gericht verurteilt wird. Und das gilt auch für Kinderschänder. Wenn man eine Ausnahme macht, dann findet ein Staat ganz schnell für jeden Mißliebigen einen Grund ihm Kinderschändung vorzuwerfen – und… Mehr