Frankreich steht vor der Wahl: Le Pen oder die Nichtregierung

In Frankreich heißt es schon lange nicht mehr: Macron oder das Chaos. Eher schon: zum Chaos durch Macron – vielleicht bald auch an den Finanzmärkten. Doch das ist egal, denn die „große Kulturpolitik“ linker Machart darf nicht angetastet werden.

IMAGO

Frankreich steht vor einer Wahlentscheidung, die einen zentralen Satz Macrons zu parodieren scheint. „Macron oder das Chaos“ hatte er einst für sich geworben. Aber die Franzosen bekamen letztlich das Chaos durch ihn, wie auch die um eine Billion Euro höhere Staatsschuld zeigt. Nach dem Wahlgang vom Sonntag könnte es noch schlimmer kommen. Die Karte der Wahlkreise ist auch in Frankreich lehrreich, weil sie etwas über den gesellschaftlichen Rückhalt der verschiedenen Parteien verrät. Der Stadtkern von Paris ist geteilt in Macronie (Westen) und linke „Neue Volksfront“ (Osten). In den meisten westeuropäischen Städten liegen die „besseren“ Viertel im Westen. Heute wird dort die Macron-wählende Öko-Bourgeoisie (bobo, kurz für „bourgeois-bohème“) verortet. Im ersten Kranz der Vorstädte (Départements Seine-Saint-Denis, Hauts-de-Seine und Val-de-Marne) sieht es ähnlich aus; hier wählten noch einige Wahlkreise einen konservativen Republikaner an die Spitze.

Doch schon im äußeren Kranz des Ballungszentrums dominieren die Wahlkreise mit RN-Mehrheit, weniger in den westlichen Départements Yvelines und Val-d’Oise, mehr in den östlichen Essonne und Seine-et-Marne. Abgesehen von der fraglos auch ihrer Bevölkerung nach bedeutsamen Hauptstadtregion, sind zwei Drittel des Landes in der Farbe des Rassemblement national (RN) eingefärbt, vom Norden und „Großen Osten“ bis ins Zentrum und an der südlichen Atlantikküste um Bordeaux dominiert diese Farbe, am Mittelmeer ohnehin. Fast ganz Marseille und ganz Nizza, die beiden von Drogenbanden und Terror geplagten Metropolen, fielen an das Rassemblement.

A reminder to Westminster: Paris is Not France … just as London is NOT Britain. pic.twitter.com/h2XqpoTRlY

— Bernie (@Artemisfornow) July 1, 2024

Traditionell führt das RN bei Arbeitern (57 %) und Beschäftigten (44 %), gewann daneben bei Rentnern (plus 19 Prozentpunkte, daher nun 31 %) und Frauen (plus 15 Prozentpunkte auf 32 %) und Jungen unter 35 Jahren (plus 14 Prozentpunkte auf 32 %) massiv dazu. Die Basis unter den Rentnern hat sich im Vergleich zu 2022 fast verdreifacht, bei Frauen und Jungen verdoppelt. Das zeugt schon von einer gewissen Zeitenwende, denn alle diese Gruppen sind kein Stammland des RN.

Macron hat sich selbst aufgelöst, die Linke nimmt es ihm übel

39 Kandidaten des RN erreichten im ersten Wahlgang eine absolute Mehrheit und wurden folglich ins Parlament gewählt. 32 Kandidaten aus der linken „Volksfront“ schafften dasselbe. Bei den anderen Formationen (auch beim Macron-Bündnis) gelang das nur in jeweils ein bis zwei Fällen. Auch die links-bürgerliche Tageszeitung Le Monde kann nur konstatieren: „Es ist der Macronismus in seiner Essenz, der sich am Sonntag selbst aufgelöst hat“.

Aber auch die Genossen vom radikal linken „Aufsässigen Frankreich“ (La France insoumise, LFI), das etwa ein Drittel der Linksfront-Stimmen beisteuert, sind nicht so begeistert vom Wahlergebnis, wie man annehmen könnte. So sagte die EU-Abgeordnete Manon Aubry (LFI): „Wir sind heute alle mit einer Art Kater aufgewacht.“ In einigen Tagen könne das RN den Sieg erringen, und das sei ein Schock. Nun will die EU-Abgeordnete „mit einem Kloß im Bauch, der Wut in den Eingeweiden und der Hoffnung im Herzen“ weiterkämpfen. Die Linke setzt auf eine „massive Mobilisierung“ im zweiten Wahlgang. Jordan Bardella erklärte sich am Montag bereit zu einer Fernsehdebatte mit Jean-Luc Mélenchon (Spitzenkraft von LFI), um sozusagen die Führung zwischen den beiden dominierenden Parteiblöcken zu klären. Der linke Zampano schiebt aber lieber andere Parteimitglieder vor. Auf den Straßen von Paris machten sich bis weit nach Mitternacht große Mengen von Gegnern des RN Luft – unter anderem mit Fahnen aus vielen Ländern, EU-Flaggen, nur die Trikolore sah man fast gar nicht. Später folgten mindestens vereinzelte Unruhen mit auch gegen die Polizei abgefeuerten Feuerwerkskörpern und kleineren Feuern.

Beim Endergebnis des ersten Wahlgangs gewannen die „anderen Parteien“ mit nun sechs Prozent etwas gegenüber den ersten Projektionen. Das Rassemblement (mit Ciottisten) kam so bei 33 Prozent heraus, die (innerlich gespaltene) linke „Volksfront“ etwas dahinter bei 28 Prozent. Deutlich verschlechtert steht die „präsidentielle Mehrheit“ da, wie sie noch immer formelhaft genannt wird: Sie liegt nun nur noch bei 20 Prozent. Macrons eigene Partei „Renaissance“ lag noch niedriger, bei 14 Prozent.

Die Republikaner und diverse Rechte erzielten zusammen zehn Prozent. Linksextreme Gliederungen (1,15 %) und Éric Zemmours Reconquête! (0,75 %) blieben fast unter der Wahrnehmungsschwelle. Gegen 19 Uhr wurde gemeldet, dass es im Département Yvelines teils keine Stimmzettel für Éric Zemmours Partei gegeben hatte. Dem Parteichef werden Formfehler nachgesagt, die dazu geführt hätten.

Es geht nun für alle um alles

Viele Wähler, die die letzten Jahre in politischer Lethargie verbracht zu haben scheinen, sind an die Wahlurnen zurückgekehrt. Das wird für RN wie für Linkswähler gleichermaßen gelten, nicht aber für die der Macronie, die durch diese Wahlbeteiligung abgestraft und auf den dritten Platz verwiesen wurde. In der Hälfte aller Wahlkreise wird kein Macron-Kandidat ins Rennen um den Sieg ziehen. Marine Le Pen sagte am Sonntagabend in ihrer Siegesrede, die Wähler hätten „den macronistischen Block praktisch ausgelöscht“. Nach sieben Jahren der „verachtungsvollen und zersetzenden Herrschaft“ haben die Wähler laut Le Pen „unzweideutig eine neue Seite aufgeschlagen“.

Aber auch Le Pen weiß, dass dies nur die erste Etappe ist. Es geht nun für alle um alles. Für Le Pen, Bardella und Éric Ciotti geht es um die absolute Mehrheit – für alle anderen, vor allem Macron und die Linksfront, dreht sich alles um die Verhinderung genau dieses Ziels. Man könnte das als stillen Sieg des lange geächteten, auch verachteten Rassemblement betrachten. Es ist zum einzig ernstzunehmenden Anwärter auf die Macht geworden. Daneben gibt es eigentlich nur Unmöglichkeiten nach (zugegeben) deutschem Vorbild: etwa eine Zusammenarbeit zwischen dem links-bis-rechts-mittigen Macron und dem Linksradikalen Mélenchon, die kaum gangbar scheint.

Nun träumen tatsächlich einige von einer Mehrheit, die sich eher um die macronistische „Mitte“ herum bilden könnte, mit den gemäßigten Republikanern und Sozialisten als natürlichen Partnern, jetzt, da Ciotti diese Koalition vielleicht nicht mehr verhindern kann und mit François Hollande der politische Ziehvater Macrons ins Parlament zurückkehren könnte. Aber diese Rechnung wird laut derzeitigen Schätzungen zur endgültigen Sitzverteilung auch nicht aufgehen. Ungemach droht den Wahrern des Status quo ohnehin: Entweder gibt es eine Mehrheit für das RN oder es gibt keine Mehrheit. Aber auch deutsche Medien weigern sich, diese simple Tatsache anzuerkennen.

Die Lebensgefährtin von Éric Zemmour, Sarah Knafo, sagte im Nachrichtensender CNews, dass die „Abwehr“ (barrage) einer Regierung des Rassemblement national eigentlich die Abwehr des Volkswillens darstelle. Denn das Volk habe deutlich genug seine Präferenz ausgedrückt.

Horrende Zustände – horrende Zinszahlungen?

Das praktische Mittel für diese „Abwehr“ war seit je die Dämonisierung des RN. Die wurde auch am Wahlabend geliefert. Um 22 Uhr trat der amtierende Premierminister Gabriel Attal an ein Pult im Hôtel de Matignon und warnte eindringlich vor der „extremen Rechten“, die in diesem Moment „vor den Toren der Macht“ stehe und bald ihr „düsteres Programm“ umsetzen könnte. Die Ansprache Attals war kurzfristig von der Parteizentrale ins Hôtel de Matignon, den Sitz des Premiers, verlegt worden. War das ein Hinweis darauf, dass Attal länger an seinem Amt kleben könnte, als bisher gedacht?

Auf Nachfragen der Journalisten sagten die Offiziellen zuvor: „Wir geben Ihnen absichtlich keine Uhrzeit an. Denn es ist kompliziert.“ Vermutlich schrieb Attal da noch an seinem Manuskript. Seine Rede war geprägt von der so unreflektierten wie unsinnigen Dämonisierung des RN – dabei müsste der junge, homosexuelle Attal der erste sein, der um die horrenden Probleme Frankreichs mit einem radikalen, intoleranten Islam an seinen Schulen weiß.

Horrend könnten auch die Zinszahlungen Frankreichs bald werden, wenn es am Sonntag nicht zu einer eindeutigen Mehrheit kommt und die Nationalversammlung in den dann erwartbaren Trümmern dasteht – ohne Regierung mit klarem Mandat, ohne Aussicht auf eine irgendwie berechenbare Haushaltspolitik. Dann könnten die Kredit-Ratings für das Land noch weiter sinken, mit Risiken für das Land selbst und seine mithaftenden Eurozonen-Nachbarn.

Um jeden Preis zu verhindern: neue Entscheidungen in den großen Fragen

Wenn Attal vom „düsteren Programm“ des RN spricht, dann muss man fragen, wie es mit der Düsternis auf der anderen Seite des politischen Spektrums aussieht. Empörung und Entsetzen riefen die Bilder von der Wahlfeier der Linksfront auf der Place de la République hervor: Nach einer französischen Wahl standen dort offenkundige Hamas-Sympathisanten und feierten den relativen Erfolg der linksradikalen Partei „Aufsässiges Frankreich“ (La France insoumise, LFI) mit Palästina-Flaggen. Marion Maréchal, neuerdings parteilose EU-Abgeordnete, warnte vor jenen, die uns „die Hamas und Venezuela“ versprechen.

In den Talkrunden am Sonntagabend gerieten die Macronisten unter erheblichen Druck, als es um das kommende provisorische Wahlbündnis mit der Linksfront ging: Würde man eigene Kandidaten auch dort zurückziehen, wo ein Kandidat der als antisemitisch und links-islamistisch geltenden „France insoumise“ (LFI) gewinnen könnte? Die Vertreter Macrons drehten und wanden sich, um eindeutige Aussagen zu vermeiden. Es werde eine Prüfung „Fall für Fall“ geben.

Nun mag und kann Macron sich in der zweiten Wahlrunde mit der linken Opposition verbünden, so sehr er will. Aber wer soll eigentlich das Land regieren, wenn eine Mehrheit des Rassemblement glorreich verhindert würde? Es drohen noch mehr Budgets per Dekret, ein gesetzgeberisches Chaos, dann auch Chaos auf den Straßen wie nach der Rente mit 64 und ein wirtschaftspolitisches Abrutschen Frankreichs, bevor Macron in etwa einem Jahr wieder Neuwahlen ausrufen kann.

Aber diese Art Instabilität hat anscheinend keine Bedeutung für die herrschenden Kreise Frankreichs, repräsentiert in Macronie und Linksfront. Für diese beiden ist eines am wichtigsten: Kein Ausgestoßener aus ihrem Kreis darf an die Macht kommen, jede Alternative muss erstickt werden. Die Entscheidungen zur „großen Kulturpolitik“, um diesen Terminus einmal einzuführen, sollen nicht zur Debatte stehen – auch wenn Linke und „Zentrum“ sich wirtschaftspolitisch einen Kampf bis aufs Messer liefern. Gemeint sind die Fragen von Zuwanderung, kultureller Identität und Fortexistenz der eigenen, französischen Kultur unter den Bedingungen der Globalisierung. Weder Macron noch die Linke, anscheinend auch die gemäßigten Républicains haben darauf Antworten. Das Monopol liegt beim RN, den Ciottisten und den versprengten Resten von Reconquête. Es ist ein Pfund, mit dem sie wuchern können, aber wie man sieht, setzt es sich auch von alleine durch, Schritt für Schritt.

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