Nach Erdogans „Wir-kommen-bei-Nacht“-Rede ist die Stimmung in der Ägäis explosiv. Ein türkischer Frachter missachtet Kontrollaufrufe und wird zum Ziel griechischer Warnschüsse. Ist es eine türkische Provokation oder ein griechischer „Schuss vor den Bug“ für Erdogan?
Kaum hat Erdogan dem westlichen Nachbarn Griechenland mit einer Invasion gedroht, da beginnen schon die ganz konkreten Reibereien in der Ägäis. Am Samstag, dem 10. September, geriet das türkische Frachtschiff „Anatolian“ unter griechisches Feuer. Das zumindest berichten türkische Medien und die Regierung in Ankara. Laut der türkischen Regierung fuhr das Schiff zu diesem Zeitpunkt in internationalen Gewässer, elf Seemeilen vor der Insel Bozcaada (griechisch Tenedos) in der Nähe der Dardanellen.
Auf Twitter kursierte bald ein halbwegs dramatisches Video, das aus der Kabine der „Anatolian“ gedreht sein soll und mehrere Schiffe auf dem tiefblauen Meer in schneller Fahrt zeigt. Mehrere Schüsse sind zu hören, bevor ein Einschussloch an einer Scheibe und im Innern der Kabine gezeigt wird, danach etwas auf dem Boden: eine Patronenhülse?
There was a confusion on it. Apparently it was docked in Somalia and turned a cargo ship a while ago
— Ragıp Soylu (@ragipsoylu) September 11, 2022
Die griechische Küstenwache bestätigt den Vorfall, wenn auch bei einigen Unterschieden, zweifelt aber die Authentizität des Videos grundsätzlich an. Im griechischen Bericht heißt es: „Heute mittag lokalisierte ein Patrouillenboot der Hafenbehörde Mytilini das RoRo-Schiff ‚Anatolian‘, das unter der Flagge der Komoren fährt, nordwestlich von Lesbos, als es sich in verdächtiger Weise in nationalen Hoheitsgewässern bewegte.“ Man habe den Kapitän zum Anhalten aufgerufen, um Kontrollen durchzuführen. Das geschieht regelmäßig bei Schiffen und Booten, die sich im Umfeld der griechischen Inseln bewegen – aus dem bekannten Grund. Die griechische Küstenwache versucht hier, möglichst alle Löcher im Netz des Seegrenzschutzes zu schließen, wie einst der Gouverneur der Nordägäis, Kostas Moutzouris, dichtete.
Doch die „Anatolian“ nahm im Moment dieser Aufforderung noch Fahrt auf und steuerte die türkische Küste an. Eine Verfolgungsjagd begann, in deren Verlauf es auch zu Warnschüssen gekommen sei, doch stets nur in die Luft, so die griechischen Grenzschützer. Schließlich erreichte die „Anatolian“ die türkischen Gewässer, was die Griechen zum Abdrehen zwang.
Laut der türkischen Tageszeitung Milliyet fielen in der beschriebenen Szene mehr als 30 Schüsse. Und vielleicht ging ja doch ein griechischer Schuss in die Irre, wie man es in dem Video sieht. Das kann leicht passieren. Die Leitung der türkischen Küstenwache teilte mit, die „Anatolian“ sei mit 18 Mann besetzt gewesen, nämlich mit sechs Ägyptern, vier Somalis, drei Türken und fünf Aserbaidschanern, von denen keiner verletzt worden sei. Das türkische Außenministerium verlangte Erklärungen von Athen.
Es geht um die umbenannte „Mavi Marmara“, das „Ship to Gaza“
In der türkischen Presse kann man nun lesen, dass es sich bei der „Anatolian“ um kein anderes Schiff als die „Mavi Vatan“ handele – jenes berühmt-berüchtigte „Ship for Gaza“, das im Mai 2010 vermeintliche Hilfsgüter zu den radikal-islamischen Verbündeten der Erdogan-Türkei bringen sollte. Die Tageszeitung Türkiye schrieb: „Die Mavi Marmara, die einst Israel angriff, wurde zwölf Jahre danach zum Ziel Griechenlands“. Auch andere Zeitungen machten mit dieser Information auf. Die „Mavi Marmara“ stand damals an der Spitze einer Flottille, die israelische Kräfte einer Kontrolle unterziehen wollten. Es kam zur Enterung, neun Besatzungsmitglieder starben. Eine diplomatische Krise zwischen den beiden Ländern, die im Grunde bis heute anhält, war das Ergebnis.
Das Gesamtszenario scheint also ähnlich, auch wenn die griechische Küstenwache nun weniger entschieden vorging. Und die Seite Marine Traffic scheint zu beweisen, dass die beiden Schiffe identisch sind. Laut einem Pressebericht wurde das Passagierschiff „Mavi Marmara“ 2018 verkauft, in ein Frachtschiff nach dem Roll-on-Roll-off-Prinzip (RoRo) verwandelt und vorerst in „Erdogan Bey“ umbenannt. Später folgte dann der heutige Name, wie sich bei Marine Traffic zeigt. Die türkischen Zeitungstexte spielen mit dieser Identität der beiden Schiffe, um der türkischen Öffentlichkeit eine (islamistisch konnotierte) Identifikationsmöglichkeit zu geben.
Und trotz der Behauptung von dem Verkauf der „Mavi Marmara“, liegt die Annahme nahe, dass die „Anatolian“ noch immer in staatlich-türkischen Diensten steht. Der türkische Sicherheitsexperte Coşkun Başbuğ sagte das ganz offen auf CNN Türk: „Es ist vermutlich ein Schiff, das der Türkei gehört. Es handelt sich um einen geplanten Angriff gegen die Türkei. Das Ziel war nicht, Menschen zu verletzen. Das Ziel war es, eine Antwort durch absichtsvolles Feuer zu geben.“ Eine Antwort, so darf man verstehen, auf die brandstifterische Rede Erdogans in Samsun.
Langfristig sei es die Schwäche Griechenlands, so der Experte weiter, dass man nicht bereit sei, gegen „unschuldige Menschen“ vorzugehen. Griechenland spiele mit dem Feuer, habe aber bisher noch immer vor der türkischen Armee Reißaus genommen. Man hört den machiavellistischen Ton dieser Sicherheitsexperten, die sich eines Dings in der Tat sehr sicher sind: ihrer Sache, und die besteht in einem rücksichtslosen Spiel um Interessenzonen und Vorteile für die eigene Nation. Das sollte niemand vergessen, der mit der Erdogan-Türkei zu tun hat.
Die Griechen als begnadete Defensivspieler – Mitsotakis’ „Nein“
Die Frage ist nun, wer ein Interesse an dem Vorfall hat. Insgesamt bleibt unsicher, welche Informationen in diesem Gewirr stimmen. Es ist beinahe schon „Kriegsnebel“, der sich um das Geschehen gelegt hat. Erdogan könnte damit die eigenen Interessen in der Ägäis in gewohnt kontroverser Art kundtun. Aber auch Griechenland könnte hier eine seiner eher seltenen Provokationen gegen den Möchtegern-Invasoren Erdogan gesetzt haben, indem man ein bekanntes Agentenschiff der türkischen Regierung aufs Korn nahm. Beide Varianten scheinen möglich und schließen sich nicht einmal aus.
Die Mitte-Links-Zeitung To Vima schreibt denn auch von einer „neuen Provokation der Türkei“, die den Vorfall vor Tenedos inszeniert habe. Man hält das Ereignis für eine Illustration von Erdogans Invasionsrede von Samsun, wenn nicht eine Reaktion auf die kraftvollen Worte von Außenminister Nikos Dendias oder anderer griechischer Politiker. Am Samstagabend reagierte dann auch Kyriakos Mitsotakis auf Erdogans Worte. Auf der Internationalen Ausstellung im nordgriechischen Thessaloniki sagte der Premier: „Die Drohungen, die von der anderen Seite der Ägäis ausgestoßen werden, beantwortet man am besten durch ein einziges Wort, das die ganze Kraft unseres Volkes in sich zusammenfasst: Nein, Herr Erdogan. Keine Kraftmeiereien mit Griechenland.“
Griechenland wolle Grenzen, die unverletzt und sicher sind, fuhr Mitsotakis fort. Diesem Ziel dienen 3.000 neue Grenz- und Küstenschützer, 32 neue Schiffe und der Zaun am Evros, der immer weiter ausgebaut werden soll. Die Kosten für einen Zaun auf ganzer Länge des Evros (ca. 200 Kilometer) könnten bei über einer halben Milliarde Euro liegen, wie ein Ex-Offizier nun sagte. Bisher deckt der Zaun nur ca. 40 Kilometer der Grenze ab.
Die Angst der Türkei vor der Zwölf-Meilen-Zone
Aber die griechischen Grenzen bleiben nur sicher, wenn auch die militärische Abwehr gegen feindliche Invasionen garantiert ist. Ist das nicht gesichert, könnte die Türkei hunderte „Anatolians“ oder „Mavi Marmaras“ schicken, um die griechischen Grenzen mit Drogen- und Menschenschmuggel nach Herzenslust zu zerlöchern. So erklären sich die griechischen Rüstungsprogramme, die noch um vieles kostspieliger sind als der Zaunbau am Evros, aber ihre eigene Logik besitzen. Zwar ist die Türkei wie Griechenland Nato-Land, ihr werden aber Mikro-Aggressionen in der Ägäis, etwa auf griechische Inseln alltäglich zugetraut – zumal ein solcher Angriff kein Bündnisfall wäre. Im Nato-Vertrag gibt es hierfür eigens eine Klausel. Allerdings würde ein regelrechter Krieg an der Ägäis das Bündnis auf eine arge Belastungsprobe stellen und vermutlich früher oder später zur Solidarisierung mit dem einen oder dem anderen Kombattanten führen. Ein Sich-Heraushalten wäre kaum möglich.
Vor allem Frankreich hat diese Sicht der Dinge schon heute verinnerlicht und liefert Griechenland Rafale-Kampfflieger und Belharra-Fregatten. Auch die USA kommen als Lieferanten von Rüstungsgütern in Frage, gibt es doch einflussreiche Senatoren, die für Athens Anliegen werben. Nur Deutschland beliefert lieber die Türkei mit U-Booten, die die Balance im östlichen Mittelmeer in eine andere Richtung drehen könnten.
Für diesen Fall gilt allerdings eine alte Casus-belli-Drohung der Türkei, über die man sich in Athen herrlich aufregen kann, die man bisher aber nicht herausfordert. In der Ägäis bleibt es vorerst wohl bei der Sechs-Seemeilen-Zone. Alles andere würde eine Zündschnur legen, von der niemand weiß, wie lange sie brennt. Nicht zuletzt gibt es auch eine Prophezeiung eines Mönchs vom Berg Athos, der sagte, dass die Türken nur bis zu einem rätselhaften Ort „Eximilia“ kommen würden. Eximilia kann man aber auch genauso gut als „sechs Meilen“ verstehen. Und das könnte die orthodoxen Minister und Militärs darin bestärken, dass die Sechs-Seemeilen-Grenze für die Ägäis ausreicht. Es wäre der Glaube, der in diesem Fall keine Grenzen versetzt.
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Griechenland ist zu bedauern, dass es zur „Knautschzone“ der Völkerwanderung seit 2015 gemacht wurde. Alle Bemühungen um Kontrolle in Ehren, jedoch zeigt das Vorbild der USA, dass diese Mühe aussichtslos ist. Die südlichen Grenzstaaten der USA sind sehr an einem Stop der illegalen Einwanderung interessiert. Jedoch überwiegen für jeden offensichtlich die Gestaltungsinteressen der zentralen Bundesregierung. Es ist wirklich kein Geheimnis, dass US-Arbeitgeber an illegaler Einwanderung interessiert sind, weil dieser südamerikanische Personenkreis wegen ihrer „Anonymität“ keinen gesetzlichen Arbeitschutzmaßnahmen unterliegen (Gesundheitsschutz, max. Arbeitszeit), erpressbar und billig sind. Kaum vorstellbar, dass es auf dem Europäischen Kontinent niemand gibt, der diese Logik nicht auf… Mehr
Erdogan agiert nach der klassischen Methode. Die türkische Wirtschaft hat enorme Probleme. In der Türkei stehen Wahlen an. In einer solchen Situation lenken Despoten von internen Problemen ab und suchen Streit in der Nachbarschaft. Die eigene Bevölkerung soll von den bestehenden Problemen abgelenkt werden.
Ich kann nur hoffen, daß Griechenland klare Signale setzt.
Wenn ein NATO-Land ein anderes provoziert…
…dann ist eines der beiden fehl am Platze. Und wir alle wissen, welches: Das einzige islamische Land in einem Bündnis von Staaten, die für westliche Werte einstehen.
Die Türkei ist ein Fremdkörper in der NATO und wird es bleiben.
Wie lautet die eigentliche Kritik an dieser Aussage? Mit einem (-) kann ich immer wenig anfangen.
Aber ich denke, diese aktuelle Situation ist völlig unabhängig von der Natozugehörigkeit. Sie wäre auch ohne Natozugehörigkeit eingetreten. Die Natozugehörigkeit hat sie jedenfalls nicht verhindert.
Nun ja, dass dieser Vorfall kurz nach Erdolfs erneuten Drohgebärden gegen die Griechen passiert, erscheint schon sehr seltsam und wenig zufälig. Wobei es hier dann auch noch seltsamer erscheint das der Kapitän des Frachters fahrt aufnimmt und schnell in türkische Gewässer schippert. Gerade auch mit Blick auf der letzten türkischen Aggression schenke ich hier den Griechen mehr Glauben als der Erdolf-Türkei. – – – – – – Zitat: „Auch die USA kommen als Lieferanten von Rüstungsgütern in Frage, gibt es doch einflussreiche Senatoren, die für Athens Anliegen werben“ > Was hier den NATO-Partner USA betrifft, da meine ich mich zu… Mehr
Ein langer aber guter Artikel zu der Gemengelage die momentan in der Gegend um den Balkan herum herrscht. Daß Erdo sein osmanisches Reich errichten will ist nun kein Geheimnis dementsprechend engagiert wer sich in allen betreffenden Staaten. Große Teile Nordsyriens hat er sich schon einverleibt und das ohne irgendwelchen Proteste der Nato Partner. Aserbaidshan wird unterstützt beim völkerrechtswidrigen brutalen Angriffskrieg gegen Armenien, auf dem Balkan direkt mischt die Türkei auch kräftig mit. Meine Befürchtung, wir werden bald ganz andere Probleme haben als den Ukrainekrieg. Da braut sich was zusammen was für uns nicht gut ist. Was wenn sich wirklich zwei… Mehr
Ohne das jetzt speziell für diesen Konflikt zu analysieren: „Man“ kann sich aus vielen Konflikten eben nicht heraushalten. Auch wenn der gemeine Deutsche sich das in seiner Gartenzwergwelt immer so vorstellt.
Erdogan spielt sich ja schon lange als Gottheit auf. In Anbetracht von Putins Angriffskrieg juckt es ihm vielleicht in den Fingern, es seinem Autokratenfreund gleich zu tun – ich traue dem jedenfalls alles zu. Ansonsten ist dies für mich aber nur ein kleiner Vorfall, der allerdings riesengroße Indizien liefert, was künftig in der Welt passieren wird. Ich frage mich, ob es diese ganzen Verwerfungen auch gegeben hätte, wenn Corona nicht zur weltweiten Pandemie erklärt und die damit einhergehende Zerstörung der Vernetzung der Welt inklusive aller Lieferketten provoziert worden wäre. Meine Theorie ist: Irgendwann wird sich eine neue „Ordnung“ bilden. Und… Mehr
Wenn es zwischen Griechenland und der Türkei knallt, sind wir Deutsche (neben etlichen anderen EU Ländern) in jedem Fall im Krieg mit drin, denn beide Kontrahenten sind genau wie wir NATO Mitglieder. Unabhängig davon wer jetzt anfängt, wir bekommen automatisch den NATO Bündnisfall. Mitten in Europa. Und das wird den Dritten Weltkrieg auslösen. Die NATO wird den Dritten Weltkrieg also nicht mehr verhindern, so wie im Kalten Krieg mit seinen klaren Frontlininen, sie wird ihn selbst auslösen. Kein Wunder, für so einen Fall war sie nie ausgelegt. Die NATO wirkte nie nach innen, sie wirkte immer nur nach außen. Mit… Mehr
Ja, die Türkei gehört nicht zu uns – die UA schon. Wenn sich Russland mal so langsam von seiner offiziellen Westphobie lösen täte, dann wäre alles klar. Die Bevölkerung Russlands, vor allem die junge, sehnt sich ohnehin nach Westen. Genauso wie schon alle West-Slawen, das Baltikum vor ihnen. Womöglich hilft ihnen die UA dabei, ihre Träume zu realisieren – gegen die reaktionären Militärs in Russland, die Geheimdienste, die Kleptokraten. Die griechisch-orthodoxen Griechen und die russisch-orthodoxen Russen könnten den Türken da mal gemeinsam reinen Wein einschenken. Usw.
Danke GWR sie haben mir die Bemerkung abgenommen, im Übrigen Loch im Fenster spricht für kleinkalibrige Handfeuerwaffe …Motto, nun schießen wir mal mit der Pistole ins Fenster (das nicht mal zerplatzt) um das alles auch noch dramatischer aussehen zu lassen…Schlaumeier die Türken…
„Nur Deutschland beliefert lieber die Türkei mit U-Booten, die die Balance im östlichen Mittelmeer in eine andere Richtung drehen könnten.“
Mehr brauch´ ich nicht zu wissen. Diese Regierung unterstützt eher einen islamischen Staat als ein christliches EU-Land. Der Angriff Aserbaidschans auf Armenien (laut mancher Stimme unterstützt von der Türkei durch IS-Kämpfer!?)