„The big picture“ – das große Bild. Daran erinnern die Moderatoren der Wahl-Sondersendungen im US-Fernsehen immer wieder. Tatsächlich verzettelt man sich leicht in Nebensächlichkeiten und verliert dann das große Ganze aus dem Blick, bei einer Abstimmung mit 260 Millionen Wahlberechtigten in 50 Bundesstaaten.
Versuchen wir also, in fünf Schritten das große Ganze dieser US-Präsidentschaftswahl zu betrachten.
Erstens – Authentizität schlägt Inszenierung.
Kamala Harris glaubt selbst nicht mehr daran, dass noch ein Wunder geschieht und sie irgendwo mehrere hunderttausend fehlende Stimmen herbeizaubern kann. Ihr Lager hat klar verloren. Doch die Niederlage eingestehen wollte sie heute noch nicht. Ihren wartenden Wahlhelfern auf der Parteiparty der Democrats ließ sie knapp mitteilen, dass von ihr heute keine Rede mehr zu erwarten ist.
Es gibt auch schlechte Verlierer.
Fast überall haben weniger Menschen für die Vizepräsidentin gestimmt als vor vier Jahren für Joe Biden, selbst in den absoluten Hochburgen der Democrats. Fast überall hat Donald Trump besser abgeschnitten als vor vier Jahren, selbst in den absoluten Hochburgen der Democrats. Oder anders: Harris hat nicht nur verloren. Harris wurde vorgeführt.
Ihre Kampagne hatte zwar bärenstark begonnen, verlor dann aber zügig jede Energie. Das lag vor allem an Harris selbst: Ihre Zustimmungswerte brachen ein, als sie begann, Interviews zu geben. Wann immer sie keine vorbereiteten Texte mehr aufsagen konnte, sondern sich spontan äußern musste, machte sie eine erbärmliche Figur. Da zeigte sich dann, dass hinter der von ihrem Team inszenierten Kunstfigur wenig Substanz steckt, oder auch gar keine.
Trump ist dazu der genaue Gegenentwurf. Man liebt ihn, oder man hasst ihn – aber niemand käme auf die Idee, der Mann könnte hinter der Bühne anders sein als auf der Bühne. Und selbst seine ärgsten Feinde würden nicht behaupten, dass er nicht frei reden kann und fertig vorformulierte Sprechzettel für seine Auftritte braucht.
Mit Harris stößt das Geschäftsmodell der Democrats an seine Grenzen, mit dem die Partei seit Bill Clinton insgesamt fünf Mal das Weiße Haus erobert hatte. Die Mehrheit der Werktätigen in den USA hat ganz offenkundig die Nase voll von wohlhabenden Angehörigen einer gesellschaftlichen Elite, die sich als Vorkämpfer für die Arbeiter ausgeben, aber in Wahrheit nur mit Verachtung auf die Unterschicht herabschauen.
Wenn der Milliardär Trump von der US-Arbeiterklasse eher als Interessenvertreter akzeptiert wird als eine schwarze Frau, dann haben die Democrats (und die sie stützenden Kreise) ein größeres strategisches Problem.
Zweitens – die Republicans holen sich den Senat.
In der wichtigeren der beiden Kammern des US-Parlaments hatten die Dems (zusammen mit ein paar unabhängigen Abgeordneten) bisher die knappe Mehrheit von 51 der insgesamt 100 Sitze.
Das hat sich gedreht. Die Republicans haben den Democrats zum Zeitpunkt, da dieser Text geschrieben wird (08.00 h MEZ), mindestens zwei Sitze abgenommen und beherrschen damit künftig den Senat. Ein Präsident Donald Trump kann sich damit auch auf eine Parlamentsmehrheit stützen. Das macht das Regieren deutlich einfacher.
Drittens – auch in den USA wählen die Städte links und der ländliche Raum rechts.
Wer die ganze Wahlnacht wach geblieben ist und es vor lauter Kaffeekochen trotzdem noch geschafft hat, sich durch die US-Sender zu zappen, der hat schnell ein Muster erkannt: In vielen Bundesstaaten lag Kamala Harris zu Beginn der jeweiligen Auszählung vorne. Doch je mehr Stimmen ausgewertet waren, desto mehr holte Trump auf.
Das liegt daran, dass die Stimmen aus den dicht besiedelten Städten regelmäßig schneller ausgezählt werden. Die Ergebnisse aus den weitläufigen Vorstädten, den „Suburbs“, und erst recht die Ergebnisse aus ländlichen Gebieten trudeln dagegen erst später ein, nach und nach.
In den USA – ähnlich wie in Deutschland – sind die Städte also von einem eher progressiven Publikum bevölkert. Auf dem Land leben dagegen mehr Menschen mit einer eher konservativen Lebenseinstellung.
Harris konnte ihre Anhänger in den Städten, Studenten und Frauen, weit weniger mobilisieren als Trump seine Anhänger auf dem Land. Interessanterweise haben viele Wählergruppen für Trump gestimmt, die traditionell eine sichere Bank für die Democrats waren: junge schwarze Männer, Latinos, Gewerkschaftsmitglieder.
Viertens – nur sieben Bundesstaaten entscheiden die US-Wahlen.
Jeder der 50 Bundesstaaten entsendet eine bestimmte Anzahl von Wahlmännern in das sogenannte „Electoral College“, das letztlich den neuen Präsidenten wählt. Wie viele Wahlmänner ein Staat hat, errechnet sich überwiegend (aber nicht nur) aus seiner Einwohnerzahl.
In der Geschichte der US-Präsidentschaftswahlen hat sich das Wahlverhalten der Menschen in den allermeisten Bundesstaaten enorm verfestigt. Heißt: Wo es einmal eine Mehrheit für eine der beiden großen politischen Richtungen der USA gab, da bleibt es meist auch so. Sowohl die Republicans als auch die Democrats können sich in diesen als „sicher“ angesehenen Staaten weitgehend darauf verlassen, dass sie ihre dortige Mehrheit behalten.
Umso wichtiger sind die sogenannten „Swing States“ – also Bundesstaaten mit vielen Wechselwählern. Wer dort den Sieg einfährt, gewinnt meist auch die ganze Wahl. Bei dieser Wahl galten diese sieben Bundesstaaten als entscheidende Swing States (in Klammern die Zahl der jeweils zu vergebenden Wahlmänner):
- Pennsylvania (19)
- Georgia (16)
- North Carolina (16)
- Michigan (15)
- Arizona (11)
- Wisconsin (10)
- Nevada (6).
Sowohl Harris als auch Trump haben in diesen sieben Bundesstaaten den Löwenanteil ihres Wahlkampfbudgets verbraten. Dort haben sie mit Abstand die meisten Reden gehalten, die meisten Interviews gegeben und die meisten Werbespots geschaltet.
Dabei hat Donald Trump das Geld eindeutig wirkungsvoller eingesetzt. Er hat gewonnen in:
- Pennsylvania
- Georgia
- North Carolina
- Michigan
- Wisconsin.
In Arizona und Nevada sind noch viele Stimmen auszuzählen, aber auch in diesen beiden Staaten liegt Trump vorn. Ganz nüchtern betrachtet, ist das insgesamt ein Desaster für Kamala Harris und ihre Democrats.
Fünftens – Deutschland versteht die USA einfach nicht.
„Antiquiert“ nennt Carsten Hädler in der Sondersendung bei „Welt TV“ das US-Präsidentschaftswahlsystem, und das etwa ein Dutzend Mal. Der Moderator führt damit vor, wie wenig er von den Vereinigten Staaten, ihrer Geschichte und Politik begriffen hat.
Denn das Wahlmänner-System, das Hädler so veraltet findet, haben sich einst die Väter der US-Verfassung nicht umsonst einfallen lassen. Damit sollte – und soll bis heute – verhindert werden, dass das politische Leben der USA völlig von den bevölkerungsreichen Metropolregionen dominiert wird. Um Präsident zu werden, reicht es eben nicht, die Menschen in den großen Städten zu überzeugen. Ins Weiße Haus kommt nur, wer sich auch um die Landbevölkerung in den dünner besiedelten Bundesstaaten kümmert (zumindest im Wahlkampf).
Die Idee dahinter ist, dass die ruralen Landstriche für die Versorgung der gesamten USA vor allem mit Lebensmitteln unverzichtbar sind. Diesen Regionen sollte deshalb ihre politische Mitsprache auch gegenüber den großen Städten gesichert werden. Das Wahlmännersystem hat vermutlich bisher verhindert, dass der gesellschaftliche Zusammenhalt in den USA längst völlig zerbröselt ist.
Wenn nun deutsche Hauptstadtjournalisten mit ihrem Gefühl von urbaner Überlegenheit diesen Ansatz der US-Verfassung für „antiquiert“ erklären, dann sagt das viel über die beschränkte Weltsicht Berliner TV-Moderatoren aus. Das ist sicher ein Grund, weshalb sich Deutschland so von den USA entfremdet. Bei nüchterner Betrachtungsweise sind wohl Zweifel angebracht, ob das nach dieser Wahl besser wird.
Übrigens, das sollte nicht vergessen werden: Donald Trump hat nicht nur die Wahl gewonnen. Er hat diesmal auch landesweit insgesamt mehr Wählerstimmen bekommen als Kamala Harris.
Das ist für die deutschen Medien sicher besonders schwer zu verdauen.