Der Dammbruch passiert vor unseren Augen

Mit dem öffentlichen Verfall des US-Präsidenten kommt auch die Methode an ihr Ende, die Wirklichkeit mit Narrativen zu verdrängen. Es findet eine Revolutionierung der Öffentlichkeit statt, nicht nur in Amerika – durch Bilder, die sich trotz aller Mühe nicht mehr kontrollieren lassen.

picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Gerald Herbert

In etlichen Debatten vor der Präsidentschaftswahl gab es den einen Kippmoment zu Gunsten des einen und zum Schaden des anderen Kandidaten; ein Moment, den die Abstimmung ein paar Monate später dann bestätigte. Denn nur dann und nur deshalb fanden diese Momente überhaupt ihren Platz im kollektiven Gedächtnis. Fast jeder politisch interessierte Amerikaner kann sie auswendig hersagen, selbst wenn sie schon lange vor seiner Geburt stattfanden.

Es gab die berühmte Debatte zwischen Richard Nixon und John F. Kennedy 1960; Nixon, damals Vizepräsident, hatte sich kurz vorher wegen einer Verletzung einem Krankenhausaufenthalt unterziehen müssen, außerdem litt er an einer Erkältung und kam leicht fiebernd ins Fernsehstudio. Seinen starken dunklen Bartschatten kaschierten seine Gehilfen mit dem Billigpuder Lazy Shave, der allerdings, gar nicht so lazy, im Schweiß der Scheinwerfer- und Fieberhitze wegschmolz. Nixon wirkte grau und kränklich und in seinem schlecht gewählten grauen Anzug wesentlich älter als der nur vier Jahre jüngere braungebrannte Kennedy (wobei der seinen Bronzeteint nicht nur der Sonne verdankte, sondern auch seiner damals öffentlich noch nicht bekannten Addisonschen Krankheit). Die äußere Erscheinung entschied das Rennen, der Vizepräsident verlor Wahl und Debatte gegen den vergleichsweise unerfahrenen Aufsteiger.

In dem einzigen Duell zwischen dem amtierenden Präsidenten Jimmy Carter und Ronald Reagan am 28. Oktober 1980 entschied der Herausforderer Debatte und Wahl mit einem einzigen ikonischen, an das Publikum gerichteten Satz: “Are you better off today than you were four years ago?” („Geht es Ihnen heute besser als vor vier Jahren?“ Carter antwortete auch noch – ehrlicherweise – mit „nein“. George W. Bush verspielte seine zweite Amtszeit in der Debatte gegen Bill Clinton nicht nur, aber auch, als er nervös auf seine Armbanduhr schaute und damit zeigte, dass er das Ende des Schlagabtauschs herbeisehnte. Unmittelbar nach dem Blick ans Handgelenk musste er dreimal Anlauf nehmen, um die Frage einer Zuschauerin zu erfassen. Hier scheiterte er nicht intellektuell, sondern an einer Klassenschranke.
In der Fernsehschlacht gegen die damals noch völlig siegesgewisse Hillary Clinton landete Donald Trump 2016 einen berühmten Kontertreffer. „Ich möchte nicht, dass du die Justiz kontrollierst“, meinte die Senatorin – worauf Trump antwortete: „Weil du dann im Gefängnis sitzen würdest.“

Aber nichts, gar nichts, solange Fernsehduelle in den USA überhaupt existieren, reicht auch nur annähernd an das Treffen zwischen Donald Trump und Joseph Biden am vergangenen Donnerstag heran. In dem Fernsehstudio fand vor Millionen Zuschauern eine öffentliche Hinrichtung statt, ausgeführt noch nicht einmal von Biden selbst, der sowieso nur noch wenig ausführt, sondern von seinen Gehilfen, seinen medialen Partnern, seiner Partei. Aber doch, selbst mitten in diesem „omnishambles“ (Yasha Mounk) gab es den einen Moment für das historische Gedächtnis. Da fast alle der älteren Medien Deutschlands bisher darauf verzichteten, konkrete Debattenausschnitte zu zitieren, soll das hier passieren. Es handelt sich nur um ein herausgegriffenes Stück unter zig anderen verwirrten Sätzen und mit Millionen verwechselten Milliarden. Als es um das Thema der medizinischen Versorgung ging, sagte Biden: “We’ve been making sure we are able to make every single person eligible what I’ve been able to do with the Covid, excuse me, everything we have to do with… look… we finally beat Medicare.” (“Wir haben sichergestellt, dass wir in der Lage sind, jeder einzelnen Person das Anrecht zu geben, was ich in der Lage war, mit Covid zu tun, entschuldigen Sie, alles, was wir zu tun haben mit …sehen Sie…am Ende schlagen wir Medicare.“ Im Video wirkt die Passage noch schlimmer als in Schriftform: Der Präsident setzte für mehrere Momente ganz aus und starrte nach unten, als würde er dort einen Spickzettel vermuten, der bei dieser Debatte allerdings verboten war. Sein Satz endet in einem kaum mehr verständlichen Brabbeln.

 

Und hier entgegnete Trump mit zwei Sätzen, die vermutlich für die Zukunft bleiben: “I really don’t know what he said at the end of that sentence. I don’t think he knows what he said either.” („Ich weiß wirklich nicht, was er am Ende dieses Satzes gesagt hat. Ich glaube, er weiß auch nicht, was er sagte.“)

Dieser Kommentar wirkt nicht boshaft, sondern fast mitleidig. Vor allem beschreibt er eine Realität, die jeder Amerikaner eigentlich kennt, außerdem Millionen Beobachter über die USA hinaus. Jeder, der es wollte, konnte seit mehr als einem Jahr dem Verfall eines Menschen in Echtzeit zusehen. Viele Ältere kennen vermutlich auch ähnliche Momente von ihren Vätern und Müttern: Demenz deutet sich erst leicht an. Irgendwann lässt sie sich nicht mehr leugnen. Von einem bestimmten Punkt an dauert es nur noch wenige Wochen vom Gerade-noch-so-Zustand bis zum totalen Niedergang.

Es kommen zwischendurch auch wieder lichtere Momente. Aber sie ändern nichts am Verlauf der Krankheit. Dass es sich bei dem Menschen, der verfällt, um den Präsidenten einer Großmacht handelt, dass es vor aller Augen geschieht – dieses Schauspiel gab es noch nie. In Persuasion, einem linksliberalen, allerdings nicht orthodoxen Magazin, schrieb der dezidierte Trump-Gegner Quico Toro am Tag danach: „Biden wirkte wie jemand, der rund um die Uhr Fürsorge benötigt, der in der Lage ist, kurze Ausbrüche relativ kohärenter Rhetorik hervorzubringen, bevor er sich dann in neblige Inkohärenz stottert.“ Toro kommt in seinem Text zu der bemerkenswerten Feststellung: „Dass Joe Biden, dieser Joe Biden nicht mehr die Exekutive der Vereinigten Staaten leitet, ist völlig offensichtlich.“ Wer es an seiner Stelle tut, dazu stellt der Autor keine Vermutungen an. Aber genau diese Frage hängt spätestens seit Donnerstag über der größten Wirtschaftsmacht der Welt mit ihren gut 333 Millionen Einwohnern.

Bevor es um die Frage geht, wo die Macht wirklich liegt, soll es in diesem Text erst einmal darum gehen, wie es überhaupt zu dieser Lage kommen konnte. Und warum sie jetzt möglicherweise trotz aller Bemühungen unkontrollierbar entgleitet. Es fehlt seit der Debatte nicht an inständigen Bittgesuchen an Biden, den Weg freiwillig freizumachen. Tom Friedman schrieb in der New York Times, der wichtigsten antitrumpistischen und woken Medienplattform überhaupt, Biden sei ein guter Mann und ein guter Präsident, aber jetzt sei es wirklich Zeit, zu gehen.

Ähnliche Stimmen gibt es aus anderen Medien. Vor allem erhebt sich niemand aus dem Mitte-bis-Links-Lager, der jetzt noch meint, Biden sollte sich im November zur Wahl stellen. Das erste Problem besteht darin, dass Demenzkranke ihre Situation oft sehr viel besser einschätzen als ihre Mitmenschen. Im Fall des Präsidenten kommt eine Entourage dazu, die ihn darin auch noch bestärkt. Als Jill Biden zu ihm nach dem Desaster auf der Bühne sagte: „You did a great job. You answered every question“, wirkte sie eher wie eine Pflegerin, die ihren Schützling dafür lobt, wenn er noch selbstständig vom Bett zur Toilette und zurückfindet.

Niemand, wirklich niemand konnte die Szene bei der Feier zum 80. Jahrestag der alliierten Landung in der Normandie ignorieren, als Biden plötzlich dem Gastgeberehepaar Macron den Rücken zuwandte. Das, hieß es danach sofort aus dem Weißen Haus und in fast allen wohlmeinenden Medien, sei eine Referenz an die hinter den Festgästen platzierten Veteranen gewesen. Dass diese Erklärung gleichzeitig bedeutete, die Macrons, die sich, um die Situation zu retten, nach Biden umdrehten, hätten die Veteranen nicht ausreichend ehren wollen, klang zwar nicht besonders höflich, aber in der Not sind eben Opfer nötig. Zu den Bildern vom G7-Treffen in Italien, die Biden zeigten, wie er von den anderen zum Gruppenfoto aufgestellten Staatschefs wegtapert, bis ihn Georgia Meloni sanft am Arm fasst und zurückführt, hieß es: Der Präsident habe mit einem der Fallschirmjäger, die zu dem Gipfeltreffen ein Schauspringen veranstalteten, „interagieren“ wollen. Außerdem hätten Trump-Freunde die Szene entstellend geschnitten; sie sei, wie das Weiße Haus verkündete, sogar ein „Fake“.

Die Gesamtaufnahme fällt allerdings überhaupt nicht günstiger für Biden aus. Sie zeigt ihn gestikulierend, während der angesprochene Fallschirmjäger seinen Schirm zusammenpackt und das Staatsoberhaupt der USA nicht zur Kenntnis nimmt. Es existieren noch mehrere Videos, die einen Biden zeigen, der entweder in eine falsche Richtung läuft oder die Limousine verlässt und ratlos herumsteht, weil niemand ihm sagt, wohin er gehen soll. Im Juni 2022, also vor fast genau zwei Jahren, hielt der Präsident ungeschickterweise einen Zettel in die Kameras, der ihm detaillierte Anweisung für einen Termin mit den CEOs der Windkraftindustrie gab: „YOU take your seat. YOU give brief comments (2 Minutes).“

Manche Zeitungen wie die britische Daily Mail schrieben darüber. Die meisten Medien zogen es allerdings vor, über diese Verfallserscheinungen entweder gar nicht zu berichten, sie herunterzuspielen oder sofort entsprechend als trumpistische Kampagne einzurahmen – als wären bestimmte Ereignisse durch dieses magische Denken aus der Welt.

Die zweite und sehr viel tiefere Ursache für den Schlamassel der Demokraten und des verbündeten Medienapparats besteht darin, dass diese Stimmen sich nach dem jahrelangen Wegschauen und Zurechtbiegen urplötzlich erheben, als hätte jemand einen Schalter umgelegt. Denn noch wenige Monate vorher galt in dem homogenen Medienblock genau das Gegenteil als die einzig korrekte und moralisch vertretbare Parole.

Das Verfahren erinnert bei allen Unterschieden ein wenig an die Verdammung eben noch bejubelter und plötzlich gefallener Generalsekretäre im Ostblock. Auf einmal stellten die Zentralorgane dann ganze Listen der Schwächen und Fehler des eben noch unentbehrlichen Führers zusammen.

Zum dritten lässt bisher auch die Synchronisation zu wünschen übrig, die nötig wäre, um die Lage noch halbwegs im Griff zu behalten. Während Journalisten von neolinks bis Mitte ihre flehentlichen Bitten an Biden richten, jetzt zu gehen, und schon über mögliche Ersatzkandidaten spekulieren, etwa Kaliforniens Gouverneur Gavin Newsom, meldete sich der bei den Demokraten immer noch einflussreiche Barack Obama auf X mit einer Durchhaltebotschaft.

 

Die Funktionäre der Demokratischen Partei erklärten Biden ernsthaft zum Debattensieger; der Präsident selbst bescheinigte sich bei einem 18-Minuten-Auftritt in Raleigh vor gespenstischer Jubelkulisse vollste Einsatzbereitschaft für die nächsten vier Jahre.

 

Das alles macht es a) noch schwerer als ohnehin, den alten Herren aus dem Oval Office zu komplimentieren und b), die Affäre politisch-medial noch argumentativ einigermaßen zurechtzuklopfen. Denn die Biegungen müssten mittlerweile um mehrere Ecken führen: Er ist ein „guter Präsident“ (New York Times), sollte jetzt aber bitte von der Bühne, verkündet aber gleichzeitig auf genau dieser Bühne seine Fitness und lässt sich von Anhängern als moralischer Gegenpol zur trumpistischen Finsternis feiern.

Sicherlich, Medien und besorgte Teile der Partei könnten ihn als nächstes unter Druck setzen, indem sie das mittlerweile öffentlich bekannte Tagebuch von Ashley Biden thematisch nach vorn schieben. Dort berichtet die Tochter ziemlich unverschleiert vom sexuellen Missbrauch durch ihren Vater. Das passt allerdings nur sehr schlecht zu den Rettungsnarrativen, die bis eben noch galten oder parallel kursieren. Genauer gesagt, es passt überhaupt nicht.

Wer einen Blick auf die wohlmeinenden deutschen Medien wirft, sieht den Prozess noch ein bisschen klarer, da er hier stark zeitverzögert abläuft. Außerdem gibt es hier keine auch noch so vorsichtige eigene Lagebeurteilung, sondern nur eine fast wortwörtlich blinde Gefolgschaft für das, was New York Times, CNN, die Spindoktoren des Weißen Hauses und der Demokraten jeweils verbreiten. „Ist Joe Biden seinem Amt gewachsen? Republikaner verbreiten beinahe täglich Videos, in denen der US-Präsident verwirrt und senil wirkt. Was steckt dahinter?, fragte das ZDF noch wenige Tage vor dem Duell. Die Möglichkeit, dass schlicht ein nicht mehr amtsfähiger, weil kranker Politiker noch nicht einmal dahintersteckt, sondern die Hauptrolle in dem Drama spielt, blieb dabei unerörtert. Elmar Theveßen, der Mann, der im ZDF stets die transatlantischen Dinge einordnet, versicherte vor kurzem noch, Biden sei „geistig voll in der Lage, das Amt auszufüllen. Das erleben wir.“

Mit „wir“ meinte er das White House press corps: dort, vor den Journalisten, so Theveßen, würde der Amtsinhaber ganz anders auftreten. Was nichts anderes heißt, dass Biden sein Stammeln, seine unverständlichen Reden, seine Orientierungslosigkeit und seine Berichte über Konversationen mit toten Staatsmännern wie Kohl und Mitterand nur für die breite Öffentlichkeit aufführt, um im kleinen Kreis, wenn nur ausgewählte Meinungsprofis hinschauen, wieder ganz luzide zu wirken. Die ARD-Tagesschau wollte in dem Biden-Desaster am nächsten Tag um 5:50 Uhr erst einmal ein „scharfes Wortgefecht“ erkennen, um dann jeweils um 8:01 und 9:13 Uhr noch ein paar kritische Stimmen nachzuschieben, als es auch der Redaktion in Hamburg dämmerte, dass der Abend doch nicht so glänzend für den richtigen Kandidaten gelaufen war. Selbstredend stammten die relativierenden Anmerkungen dann nicht aus dem ARD-Haus, sondern fast nur von entsetzten Demokraten und amerikanischen Medienleuten.

Die Bedeutung des öffentlichen Bildes von Politik, die Rolle des meinungsprägenden Apparats, der Exekutive im Hintergrund und die Frage, wer die USA – und andere westliche Staaten – eigentlich zu lenken beansprucht, dieses Bündel gehört zusammen. Erstens kann eine breit aufgefächerte und gut ausgestattete Exekutive viel tun, gerade in den USA. Vor allem dann, wenn das Zusammenspiel mit wichtigen Medien und Plattformen funktioniert. Die vertrauensvolle Zusammenarbeit beispielsweise zwischen FBI und Twitter unter dessen altem Chef Jack Dorsey mit dem Ziel, bestimmte Wissenschaftler in der Corona-Debatte auf die schwarze Liste zu setzen, ihnen also die Reichweite zu beschneiden, fand in der Ära Trump statt. Und es spricht nichts dafür, dass es mit Billigung des Präsidenten passierte.

Gerade in der Corona-Zeit komplettierte sich im institutionell-medialen Apparat der Allmachtsglauben, jedes Narrativ öffentlich durchzusetzen, jede Situation zurechtzubiegen – durch Begriffsprägung, eine eng begrenzte Pseudoöffentlichkeit und durch die moralische Verdammung aller Gegenstimmen. Und das nicht nur in den USA, sondern noch viel mehr in Ländern mit einer noch viel größeren Uniformität von Parteien, einem großen Medienaufgebot, Verbänden, NGOs, Gewerkschaften und Kirchen, wie sie in Deutschland herrscht. Diese Methode reichte ziemlich weit und ging lange gut. Mit ihr ließ sich beispielsweise jede Debatte über die Risiken der Corona-Impfstoffe lange in einen schalltoten Raum verfrachten. Auf diese Weise konnte ein Apparat vorübergehend einen Elefanten auf die Bühne zaubern, indem er aus einem bedeutungslosen Treffen von 25 Leuten am Potsdamer Seeufer eine zweite Wannseekonferenz fabrizierte.

Immerhin steht auch auf der Habenseite, dass eine EU-Kommissionschefin, gegen die Korruptionsermittlungen laufen, eine zweite Amtszeit antreten darf. Nach exakt diesem Muster – Erzählrahmen und Debattenteilnehmer vorgeben, Textbausteine endlos wiederholen, jeden Einwand dämonisieren – ließ sich bis eben auch das Bild des zwar alten, aber noch rüstigen Joseph Biden aufrechterhalten, zumindest für alle, die entweder sowieso glauben wollten oder zumindest den Stempel des antidemokratischen Finsterlings fürchteten. Die Parole hieß offenbar: Wichtig ist, dass er noch gehen und winken kann. Wir erledigen den Rest. Als besonders wirkungsvoll erwies sich dabei der Zauberstab, alles, jeden Realitätsausschnitt, auf den sich Trump, Le Pen, die AfD oder ein Milei beziehen, schon deshalb, weil die es tun, als falsch, verzerrt oder schlicht inexistent zu verdammen.

Diejenigen, die mit diesem Instrumentarium wirtschaften, unterschätzen allerdings vor allem einen Punkt. Und zwar den Punkt, an dem sie nicht sofort, aber nach und nach scheitern. „The Revolution Will Not Be Televised“, die Revolution wird nicht im Fernsehen übertragen, sang Gil Scott-Heron 1970. Für Revolutionen mag das stimmen. Für die Realität nicht mehr. Sie vermittelt sich nicht wie früher vor allem über Fotos, die sich arrangieren lassen, auch nicht wie ganz früher vor allem über Texte, sondern über bewegte Bilder. Und diese Bewegtbilder stammen oft auch nicht mehr von Fernsehstationen mit medialen Türwächtern. Sie wandern unlöschbar durch das Netz. Die Erzählung über den angeblich rechtsradikalen, von Trump beeinflussten Amokschützen Kyle Rittenhouse 2021 änderte sich vor allem dadurch, dass von dem gesamten Vorgang eine Videoaufnahme existierte, die eben etwas anderes zeigte – einen Akt der Selbstverteidigung gegen einen Mob.

Für die Wahrnehmung des islamistischen Anschlags von Mannheim spielte es eine wesentliche Rolle, dass hier ebenfalls eine Kamera in voller Länge mitlief. Als syrische und afghanische Jugendliche auf einen deutschen Jungen in Gera einprügelten, lief ebenfalls eine Handykamera mit und zwar sogar in der Hand eines Mittäters. Das Video ging durchs Netz, trotz der polizeilichen Warnungen, es nicht zu verbreiten. Diese Bilder bewirken mehr als dutzende Statistiken über Ausländerkriminalität und hunderte Papiere über Integration. Unmittelbar vorher kollabierte die von Nancy Faeser, Manuela Schwesig, dem NDR und anderen aufgetischte Geschichte von dem angeblich mit Gesichtstritt malträtierten farbigen Kind in Grevesmühlen. Auch hier existierte ein Video, das einen ganz anderen Vorgang zeigte – nämlich den, der sich tatsächlich abspielte.

Zwar gibt es eben deshalb verstärkte Bemühungen auf EU-Ebene, „schädliche Inhalte“, wie sich der Chef der Bundesnetzagentur Klaus Müller ausdrückte, aus dem Netz zu entfernen. Das funktioniert allerdings noch nicht einmal in China lückenlos. Wo der staatlich-exekutiv-mediale Block versucht, bestimmte Dokumentationen der Wirklichkeit zu verdrängen, bildet sich dafür ein Schwarzmarkt, selbst unter dystopischen Verhältnissen. Bestimmte Realitätsbilder lassen sich außerdem überhaupt nicht abdrängen. Es gibt keine Möglichkeit, einen Präsidenten der USA vor der Öffentlichkeit zu verstecken. Für ihn ergeben sich immer Situationen, in denen ihm seine Entourage nicht mehr weiterhelfen kann, beispielsweise bei dem Fernsehduell. Die Bilder der Debatte lassen sich nie wieder tilgen. Sie brennen sich in das gesellschaftliche Bewusstsein ein. Was einmal existiert, gewinnt noch an Stärke durch den Versuch, es wegzuerklären. Durch die Dezentralisierung der Öffentlichkeit kommt die Praxis des ewigen Einrahmens, Hinbiegens, Kaschierens und Weglassens wortwörtlich sichtbar an ihr Ende.

Bei Deichen gibt es den großen, offensichtlichen Bruch, durch den das Wasser schießt, aber auch den so genannten Grundbruch. Dann sickert das Wasser an tausenden kleinen Stellen durch den weichen und maroden Damm. Der neue Strukturwandel der Öffentlichkeit vollzieht sich nach dem Muster dieses Grundbruchs. Und der lässt sich, anders als eine einzelne große Bresche, kaum wirksam bekämpfen.

Die zweite Lehre aus dem Biden-Drama lautet: Wer darauf setzt, Herrschaft an Institutionen und Formen vorbei auszuüben, kann am Ende genau daran scheitern. Wenn es darauf ankommt, lassen sich Regeln dann doch nicht beliebig zurechtkneten, vor allem dann, wenn auch die verbündeten Medien nicht mehr so auf die Öffentlichkeit wirken wie früher. Ein kranker Präsident, der sich selbst noch für fähig hält, lässt sich nicht ohne weiteres auswechseln. Im August muss der offizielle Nominierungskonvent der Demokraten stattfinden, es bleiben also nur noch wenige Wochen. Denn ab September beginnt in einigen Gliedstaaten schon die Briefwahl. Glückt die Auswechseloperation innerhalb kürzester Zeit nicht, schnappt die Falle zu. Das kann kein noch so gewiefter Apparat mehr verhindern. In gewissem Sinn läuft die Revolutionierung der öffentlichen Kommunikation jetzt doch im Fernsehen. Zwangsweise.

Und wir können sagen: Wir sind dabei gewesen.

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Kommentare ( 83 )

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andreas
5 Monate her

Seit mindestens zwei Jahren musste es jeder sehen, der sich auch nur am Rande mit Politik befasst. Was sagt das zum Beispiel über die Qualität der „Qualitätsmedien“ aus?

Flaneur
5 Monate her

Sehe da durchaus Parallelen zu Deutschland.
Auch die Grenzöffnung passiert(e) vor unseren Augen.
Auch da will niemand die Folgen wahr haben. Alles gut, keine Kriminellen, alles Einbildung oder rechte Propaganda.
In den USA ziehen wahrscheinlich die Clintons viele der Strippen im Hintergrund, und daher ist es fast egal, ob der Präsident Clinton, Obama oder Biden heißt…
Wer macht es in D?

fatherted
5 Monate her

Übrigens….das eigentlich schlimme Video von der Debatte gab es im Nachgang…da filmte wohl einer mit dem Handy wie Biden nach der Diskussion auf der Bühne stand und nicht wusste wohin…bis ihn seine Frau „abholte“ und von der Bühne führte.

HavemannmitMerkelBesuch
5 Monate her

Irgendwann geht das Wrack nachts statt auf Toilette, zum Koffer und startet Atomraketen….wie gut das es mehrere Sicherheitsebenen dafür gibt, die nicht einmal sowas Seniles umgehen kann. Deutlicher als in diesen tagen kann man nicht abbilden, das die größtte Billionenschwere Militärmacht der Welt so offensichtlich keine Demokratie ist, sondern von einem tiefen Staat regiert wird, mit dem der eigentliche Repräsentant rein gar nichts zu tun hat. Seehofer hats ja gesagt… Damit steht fest, Demokratie gibt es gar nicht. Dieses Schlachtefest an sich selbst durch Joe Biden, der das aber wohl wirklich gar nicht mehr mitbekommt, wie schon bedauernswert – was… Mehr

Ceterum censeo Berolinem esse delendam
5 Monate her

Das sich hier vor aller Augen abspielende Drama ist einfach nur erschreckend. Die können doch nicht ernsthaft annehmen, dass irgendjemand diesen Mummenschanz vom „voll arbeitsfähigen Präsidenten“ noch glaubt. Selbst der Unbedarfteste und politisch Uninteressierteste merkt doch, dass da nur noch eine leblose Marionette öffentlich auftritt. Und wer zieht im Hintergrund die Strippen? Der berühmte Deep State? Da kann einem doch nur noch Angst und Bange werden. Donald Trump sollte aber der Versuchung widerstehen, dieses Geschenk des Himmels allzu genüsslich auszuschlachten. Er wäre gut beraten, wenn er sich jetzt betont seriös, moderat und staatsmännisch gibt. Die Stimmen der überzeugten Trump-Wähler sind… Mehr

Imre
5 Monate her

Tja, die Tugendwächter und Faktenbereiniger der Guten müssen zunehmend mehr zur Höchstform auflaufen, um Joe Sixpack oder dem Michel immer penetranter die unappetitlichen Favoriten des tiefen Staates schmackhaft zu präsentieren! Das mit dem Missbrauch von Ashley Biden kannte ich noch nicht, danke dem Autor! Aber auf Höcke wegen dem Spruch rumtrampeln, den bereits Ludwig II, Beckenbauer und Dorothea Baer nutzten, …. wie armselig.

Der Winzer
5 Monate her

Sehr gute, ausführliche Analyse, Herr Wendt.
Passt gut zum knackigen Kommentar des österreichischen Polit-Kommentators Markel bei Wallasch:
https://www.alexander-wallasch.de/gastbeitraege/trump-hat-die-wahl-noch-nicht-gewonnen-aber-biden-hat-die-wahl-gestern-verloren
Meines Erachtens haben die Democrats nur noch eine Möglichkeit, halbwegs gesichtswahrend aus der Posse zu kommen: Wenn der Präsident „verstirbt“ … .

Nibelung
5 Monate her

Das alles ist kein Dammbruch des scheinheiligen Katholiken Biden, der wie man sagt, soviel Dreck am Stecken hat, wie es schlimmer nicht geht und sich nur noch über dieses Amt retten kann, was den Arrangeuren nur recht sein kann, weil man damit völlig unproblematisch eigene Interessen durchsetzt und das nicht zu knapp, was derzeit die Welt in Wallung versetzt. Eine ähnliche Problematik haben wir an der Spitze hierzulande, wo sich Unfreie hier und jenseits des Atlantiks beratschlagen, wie man den Hintermännern gerecht werden kann und dieses Gift der großen Mischer macht das ganze nicht bequemer und führt uns am Ende… Mehr

Armin Reichert
5 Monate her

Man kann Donald Trump nur bewundern für seine Contenance, wenn man bedenkt, dass er einem korrupten Wrack gegenüberstand, das ihn unter Mitwirkung des Deep State immer noch zu vernichten versucht.

ReneKall
5 Monate her

Ich wage mal eine Prognose.
Der tiefe Staat wird kurzfristig reagieren, denke ich. Mit Biden ist die Wahl nicht mehr zu gewinnen. Da er offensichtlich freiwillig nicht gehen wird, wird anderweitig nachgeholfen werden.
Nachfolger(in) wird dann Obama.