Europäische Identität: Herausforderungen und Chancen am Beispiel Polens

Für seine Berichterstattung aus Polen wurde Althistoriker und TE-Autor David Engels mit einer hohen Auszeichnung geehrt. In seiner Dankesrede spricht er über seine Entwicklung zum Analysten polnischer Politik und zeigt am Beispiel Polens die Herausforderungen auf, denen die europäische Völkergemeinschaft gegenübersteht. Seine Rede im Wortlaut.

Privat / David Engels

2018 verschlug es den Althistoriker und Publizisten David Engels nach Polen. In den folgenden Jahren wurde er unversehens zu einem wichtigen Chronisten und Kommentator der politischen Entwicklungen in Polen: Auch für TE-Leser boten und bieten seine Analysen unverzichtbare Einsichten, um die Rolle und Entwicklung Polens im europäischen Kontext zu verstehen. Für seine Berichterstattung wurde David Engels nun mit der polnischen „Medaille für Mut und Glaubwürdigkeit“ geehrt – eine hohe Auszeichnung, die vor ihm unter anderem bereits Sir Roger Scruton erhalten hatte.

Tichys Einblick dokumentiert exklusiv die Rede David Engels‘ anlässlich der Verleihung der Medaille: Darin gibt er nicht nur einen persönlicher Einblick in sein Verhältnis zu Polen und zur Aufgabe, gegen die Desinformation in westeuropäischen Medien anzukämpfen – die Ansprache ist auch ein Appell, eine „konservative“ Vision europäischer Gemeinschaft und Identität zu entwickeln.

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Exzellenzen, sehr geehrte Damen und Herren,

zunächst möchte ich mich auf das Herzlichste bedanken bei Prof. Krasnodębski, Prof. Legutko und der Auswahlkommission der Medaille für „Mut und Integrität“ für die große Ehre, die Sie mir heute anläßlich der Tagung „Polska wielki Projekt“ haben zuteilwerden lassen, sowie bei meinem Freund Olivier Bault für seine berührende Laudatio. Ich fühle mich überaus geehrt durch dieses Zeichen der Anerkennung meiner Arbeit der letzten Jahre, und wenn ich daran denke, daß vor mir der hochgeehrte Sir Roger Scruton diese Medaille erhielt, ist es alles andere als eine Bescheidenheitsfloskel, wenn ich hier betonen möchte, daß ich diesen Preis eigentlich gar nicht oder doch nur mit gewissen Abstrichen verdiene.

Daher möchte ich an allererster Stelle jene nennen, ohne die ich diese Aufgabe kaum hätte erfüllen können: Meine Kollegen hier in Polen für ihre freundliche Unterstützung, allen voran Frau Dr. Justyna Schulz vom „Instytut Zachodni“; meine polnischen Medienpartner wie „Tygodnik Solidarność“, „TVP“, „Radio Polskie“, „Gazeta Polska“, „TVP World“, „Ordo Iuris“, oder „Deliberatio“ für den regen Austausch; meine Freunde in Warschau für viele endlose Gespräche über die Lage des Landes; und natürlich jene Medien, in denen meine Beiträge in Westeuropa publiziert wurden, allen voran „Cato“, „Tichys Einblick“, „Junge Freiheit“ und die „Tagespost“, aber auch „Radio Courtoisie“, „TV Libertés“, das „Journal du dimanche“, „Disidentia“, die „Tribuna del Pais Vasco“, „El Correo de España“, der „European Conservative“ und der „Spectator“; und sollte ich jemanden vergessen haben, bitte ich herzlich um Entschuldigung.

Gegen Manipulationen, Lügen und Verleumdungen
TE-Autor David Engels mit "Medaille für Mut und Glaubwürdigkeit" ausgezeichnet
Sicherlich habe ich mich in diesen letzten Jahren nach Kräften darum bemüht, nicht nur die abendländische Zivilisation mit allen Mitteln zu ehren und zu verteidigen, sondern auch in den außerpolnischen, vor allem deutschen, aber auch französischen, spanischen und englischen Medien in einer Weise über Polen zu berichten, die ich selbst nach bestem Wissen und Gewissen für wahrheitsgemäß hielt und die, wie mir scheint, in vielem dem Bild widersprach, das die Leitmedien vermittelten.

Aber eigentlich bin ich alles andere als ein Experte in diesen Fragen und eher über Zufall in eine Rolle geraten, die eigentlich nicht die meine ist und auch nie die meine hätte sein sollen, wenn es sich nicht ergeben hätte, daß ich einer der wenigen war, die sie überhaupt ausüben wollten. Ich habe für diese schrittweise Entscheidung, mich auf einen Kampf einzulassen, für den ich überaus schlecht gerüstet war, bis heute ein hohes Lehrgeld gezahlt, bedaure aber auch rückblickend nichts von dem, was ich gesagt oder geschrieben habe. Denn der Kampf, den ich in und für Polen geführt habe, ist letzten Endes auch ein Kampf für das gewesen, was mir seit jeher am meisten am Herzen liegt: die abendländische Zivilisation. Und hier kommen wir denn auch zum eigentlichen Inhalt dieser kurzen Rede.

Auch wenn dies in den letzten Jahren etwas ins Hintertreffen geraten ist, bin ich eigentlich kein Journalist, sondern Universitätsprofessor; kein Tagesschriftsteller, sondern Geschichtsphilosoph; kein Politiker, sondern Wissenschaftler; kein aktiver, sondern ein kontemplativer Mensch. Von Kindheit an ist das, was mich am meisten fasziniert hat, die unglaubliche Vielfalt und Schönheit, mit der die Menschen versucht haben, durch die verschiedenen großen Zivilisationen dem Gedanken an die Transzendenz Ausdruck zu verleihen und auf ihre eigene, spezifische und unnachahmliche Weise Gott, Mitmensch und Natur zu verstehen.

Würde ich Sie heute durch meine Bibliothek führen, so würden Sie sehen, daß sie erheblich reicher ausgestattet ist an Literatur über das Alte China, die klassische Antike, Ägypten, den Islam oder die Maya als über Europa, und ich verbringe wohl erheblich mehr Zeit mit dem Versuch, das Geistesleben der Buddhisten, die chinesische Gartenkunst, die ägyptische Architektur oder das griechische Staatsdenken zu verstehen, als Bücher über Zeitgeschichte zu lesen. Denn während letztere möglicherweise die eine oder andere politische Analyse schärfen mögen, bringen doch nur die ersteren mir jene fundamentale Erweiterung meines Horizontes, nach der ich seit Jahrzehnten strebe.

Was hat das alles nun mit der Darstellung Polens in den Medien zu tun?, werden Sie vielleicht hier ungeduldig fragen, und Sie haben völlig recht damit. Nun, zwar bin ich überzeugt davon, daß alle großen Kulturen gleichberechtigte und gleichwertige Wege zu dem einen höchsten Ziel der Erkenntnis der Transzendenz sind, und lerne aus ihrem Studium täglich unglaublich viel, und zwar nicht nur über sozusagen „exotische“ Blickwinkel auf unsere Lebensfragen, sondern auch über die toten Winkel unserer eigenen Zivilisation. Doch gleichzeitig liebe ich meine eigene, europäische Zivilisation mehr als alle anderen und möchte sie privilegiert pflegen und verteidigen. Wieso dies keineswegs paradox ist, habe ich vor einigen Monaten in einer Rede anläßlich der Konferenz „National Conservatism“ im Detail ausgeführt.

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Nur so viel sei daher hier gesagt, daß erstens eben auch eine universale Menschenliebe die besondere Verantwortung nicht verringert, die man dem unmittelbaren Nächsten und dem „ordo caritatis“ schuldet, daß zweitens in letzter Instanz nur die eigene Zivilisation diejenige ist, die man vollauf verstehen und weiterentwickeln kann, und daß ich drittens davon überzeugt bin, daß das Schicksal dadurch, daß es uns als Europäer auf die Welt hat kommen lassen, uns eben auch die Aufgabe verliehen hat, diese spezifische Zivilisation zu pflegen.

Meine besondere Liebe zu Europa – und wie Sie sich denken können, rede ich hier vom wahren Abendland, nicht von dem, was die Europäische Union dabei ist, aus dieser Idee zu machen – hat aber auch noch einen anderen Grund. Wie Sie wissen, bin ich Belgier, habe also bereits aus diesem Grund eine nur sehr schwach ausgeprägte nationale Identität; aber es kommt noch schlimmer: Ich gehöre jener gerade einmal 70.000 Menschen starken Minderheit deutschsprachiger Belgier an, die zudem im Gegensatz zu anderen Minderheiten nie eine starke eigene regionale Identität wie etwa das Elsaß, Korsika oder die Bretagne besessen hat, sondern ein reines historisches Zufallsprodukt darstellt.

Das bedeutet, daß sowohl eine Verankerung in einer echten regionalen wie auch einer nationalen Identität überaus schwierig, ja geradezu unmöglich gewesen ist. Eigentlich wären dies also für mich die idealen Grundvoraussetzungen gewesen, zu einem entwurzelten, globalisierten, linksliberalen Kosmopoliten zu werden, doch es kam anders: An der Schnittmenge zwischen deutscher, französischer und gewissermaßen burgundisch-lotharingischer Identität habe ich vielmehr die europäische Zivilisation als echte, gewissermaßen „nationale“ Heimat entdeckt, also als jene Identität, welche meine eigenen, oft widersprüchlichen Identitäten mehr oder weniger harmonisch und sinnvoll vereint und transzendiert. Ich bin also gewissermaßen zum „europäischen Nationalisten“ geworden, falls wir das Wort „Nationalist“ hier einmal ganz naiv in seinem ursprünglichen Sinn verwenden dürfen: Europa, und zwar in seiner Gesamtheit, ist das, was für andere ihre „Nation“ wäre, und es ist dieses patriotische Engagement für die wahre abendländische Idee, das ich „Hesperialismus“ genannt habe, um es vom falschen „Europäismus“ zu unterscheiden, der in Brüssel gepredigt wird.

Diese „europäische Nation“ ist freilich überall bedroht, und somit nähern wir uns auch allmählich der Erklärung, was mich nach Polen verschlagen hat. Zum einen war es, ich gestehe es freimütig, eine gewisse Abenteuerlust, nach 10 Jahren Tätigkeit auf dem Lehrstuhl für Römische Geschichte an der Universität Brüssel (ULB) etwas ganz anderes kennenzulernen; zum anderen war es die Tatsache, daß meine Aktivitäten sich zunehmend von der reinen Alten Geschichte auf die politische Analyse verlagert hatten und das „Instytut Zachodni“ ein interessanter Arbeitgeber schien, da er es mir zur Aufgabe machte, mich ganz mit europäischer Politik aus einer zivilisatorischen und identitären Perspektive zu beschäftigen. Doch im Hintergrund befand sich auch die Feststellung, daß mein Heimatland Belgien ganz den Pfad der kulturellen Selbstzerstörung beschritten hatte, während in Polen das spannende Experiment einer pro-europäischen, christlichen, sozialen und konservativen Regierung lief, an dem teilzunehmen mir überaus ehrenwert und sinnvoll schien.

Brauche ich noch hinzuzufügen, daß es auch für meine Familie eine überaus attraktive Aussicht war, einige Jahre in einem Land zu verbringen, das in vielerlei Hinsicht „normalere“ Lebensbedingungen bot als meine eigene Heimat? Ein starker Mittelstand, eine noch wesentlich christlich geprägte Gesellschaft, eine überaus homogene Bevölkerung, ein gewisser Zukunftsoptimismus, ausgezeichnete wirtschaftliche Aussichten, eine sehr geringe Kriminalität, eine gewisse Gelassenheit im gegenseitigen Umgang – all das mag oder mochte aus polnischer Perspektive „alltäglich“ scheinen, ist im Westen Europas aber schon die absolute Ausnahme geworden.

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Ursprünglich hatte ich erklärt, mich eigentlich nicht mit unmittelbarer polnischer Tagespolitik beschäftigen zu wollen, sondern ausschließlich mit europäischen Fragen. Doch wie es das Schicksal wollte, bin ich zunehmend von deutschen und französischen Medien kontaktiert worden, als Ansprechpartner vor Ort einzelne Entwicklungen zu kommentieren. Anfangs habe ich mich noch etwas gesträubt. Denn zum einen bin ich alles andere als Spezialist für Zeitgeschichte oder Mitteleuropa, zum anderen habe ich nie in dem Maße Polnisch lernen können, wie es eigentlich notwendig gewesen wäre, da die Arbeitsbelastung seit meiner Ankunft einfach zu groß war. Doch habe ich mich allmählich überzeugen lassen, nach bestem Wissen und Gewissen auf die mir gestellten Fragen zu antworten, denn ich habe rasch etwas festgestellt, was ich bis dahin nie für möglich gehalten hätte: Ich war und bin tatsächlich einer der wenigen nicht-polnischstämmigen Essayisten, der überhaupt gelegentlich versucht hat, ein konstruktives Verständnis der ehemaligen polnischen Regierung zu entwickeln und öffentlich zu äußern.

Dies mag auf den ersten Blick erstaunen, herrscht doch nun an wesentlich kompetenteren Polonisten, Journalisten und Politologen in Westeuropa kein Mangel. Doch wurde mir sehr schnell deutlich, daß diese sich entweder überhaupt nicht oder doch nur kaum zu kritischen Themen äußerten, oder aber fest von jenen Medien angestellt waren, die ideologisch ganz klar in Sympathie zur damaligen linksliberalen Opposition standen, die heute an der Regierung ist. Anders ausgedrückt: Wenn ich mich zu gewissen Themen nicht äußerte, würde es kein anderer tun, und die westeuropäische Leserschaft würde ihr Wissen über Polen allein aus solchen Quellen beziehen müssen, die eindeutig anti-konservativ eingestellt waren. Das gab für mich den Ausschlag.

Dementsprechend habe ich versucht, in den letzten sechs Jahren die politischen Ereignisse, zumindest soweit ich sie verstanden habe und soweit sie eine westeuropäische Öffentlichkeit interessieren konnten, kritisch begleitet, wobei im Zentrum meines Interesses allerdings immer jene Fragen standen, die meine Kernsorgen berührten: nämlich die vielfältigen inneren wie äußeren Bedrohungen unserer europäischen Zivilisation, die sich hier in Polen, wo der Widerstand noch nicht ganz zum Schweigen gebracht worden war, in exemplarischer Weise nachweisen ließen. Wenn ich auf diese letzten 6 Jahre zurückblicke, bin ich manchmal selbst etwas erstaunt angesichts der Masse an Publikationen, die ich in dieser Zeit veröffentlicht habe: 6 Monographien, 13 Sammelbände (ich zähle Übersetzungen nicht mit), an die 100 Aufsätze und ca. 800 Artikel und Interviews für die Medien.

Es war wohl im Rückblick unausweichlich, daß ich mir dadurch vor allem in den deutschen Medien große Feinde gemacht habe. Bis zum Zeitpunkt meiner Übersiedlung nach Polen mochte ich in den dortigen Medien zwar ab und zu als „konservativer“ Denker betrachtet werden; meine Weigerung, an der allgemein verbreiteten Dämonisierung der scheidenden Regierung teilzunehmen, und mein Versuch, vielmehr ihr allgemeines Programm einer christlichen, sozialen und kulturellen Erneuerung Polens und ganz Europas gutzuheißen, so sehr man auch berechtigterweise über die Qualität der Umsetzung streiten mag, hat man mir allerdings nicht vergeben.

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„Fürsprecher“ der „Diktatur“ wurde ich genannt, und da dieser wie andere Warnschüsse nicht reichten, um mich zum Schweigen zu bringen, sind die Attribute immer ausfallender und inflationärer geworden, so daß ich nunmehr in Deutschland sage und schreibe unter die „rechtsextremen Denker“ gezählt werde und entsprechende Repressalien erlitten habe, obwohl sich meine grundlegenden Positionen niemals verändert haben und die von mir verteidigten Ideale dem entsprechen, worauf sich wohlerzogene Europäer seit mehreren Jahrhunderten, ja sogar Jahrtausenden ohne große Diskussion als kulturelles wie politisches Grundsatzprogramm einigen konnten.

Ich wollte nie polarisieren und habe immer versucht, extreme Meinungen zu vermeiden. Gott zu verehren, die abendländische Zivilisation zu lieben, sich um den Nationalstaat zu sorgen, stolz auf die Leistungen unserer Vorfahren zu sein, die Familie zu schützen, die Komplementarität zwischen Mann und Frau zu respektieren, dem Nächsten zu helfen, unsere Freiheit zu verteidigen, tolerant gegenüber anderen Meinungen zu sein, kurz gesagt, ritterlich zu handeln und nach dem Guten, Wahren und Schönen zu streben – all dies erschien mir eigentlich immer als etwas, das weit über das Politische hinausgeht, aber ich fürchte, daß heutzutage selbst diese unschuldigen Ideale immer mehr angezweifelt und diffamiert werden, insbesondere durch die Ideologie des Wokeismus.

Daher war es nicht immer einfach, die böswillige und ungerechtfertigte Kritik bestimmter Journalisten und angeblicher Experten klaglos hinzunehmen, aber immerhin habe ich dadurch am eigenen Leib erfahren, wie parteiisch, unfair und sogar lügnerisch viele jener Medien geworden sind, die noch vor 20 Jahren als Inbegriff sachlicher Neutralität galten – eine traurige, aber wichtige Lektion.

In diesen Jahren ist mir Polen sehr ans Herz gewachsen, und zwar eben nicht nur als Bastion europäischer Identität, sondern auch als Land an sich, das fortan, egal was geschehen mag, einen wichtigen Teil meines Lebens darstellen wird. Die Liebenswürdigkeit der polnischen Nation, seine großartige kulturelle Vergangenheit, seine schier unermeßliche politische Resilienz gegen Fremdherrscher und vieles andere mehr hat meine bisherige Sicht auf Europa, die wesentlich auf die deutsch-französische Dimension beschränkt war, wesentlich erweitert und korrigiert. Und Polen ist nicht nur zu einem Teil meiner Geschichte geworden, sondern auch derjenigen meiner Söhne. Zwei von ihnen sind in diesen Jahren nicht nur zwei-, sondern auch dreisprachig geworden und sprechen dementsprechend perfekt polnisch, ja kennen und verstehen in vielem dieses Land erheblich besser als das, aus dem sie eigentlich stammen; und ein dritter Sohn wurde uns hier in Polen selbst geboren und betrachtet dieses Land als Heimat, ja als „sein“ Polen.

Trotz allem gilt aber auch zu verstehen, daß der Kampf der letzten sechs Jahre letztlich im wesentlichen verloren wurde, zumindest vorläufig. Und damit meine ich nicht nur die konkrete Frage von Parlamentsmehrheiten und Regierungsparteien, sondern auch die allgemeine Situation des Landes. Denn selbst mir als Außenstehendem ist es nicht verborgen geblieben, wie stark sich Polen verändert hat, seit ich hier lebe, und zwar nicht nur zum Guten.

Das Bekenntnis zum Christentum ist im freien Fall, die demographische Situation ist immer katastrophaler, die Verherrlichung des Westens hoch bedenklich, das Wissen über die eigene Identität immer geringer. Hedonismus, Materialismus, Atheismus, Globalismus, „Amerikanisierung“, Gender-Ideologie, billiger moralischer Aktivismus, all das hat allein in den paar Jahren, die ich mich hier aufhalte, rasant zugenommen, und es ist nicht anzunehmen, daß sich diese Tendenz in den nächsten Jahren umkehren wird.

Vor dem Zusammenbruch
Europa im Strudel des Abstiegs
Gleichzeitig hat die allmähliche innere Transformation der Europäischen Union viele Menschen auf der Seite der politischen Rechten dazu gebracht, das Ideal eines gemeinsamen europäischen Zivilisationsstaates aufzugeben und sich ganz auf den Souveränismus und den Nationalstaat zu konzentrieren, was meiner Meinung nach fast ein ebenso großer Fehler ist wie der abstrakte Multikulturalismus und Globalismus, der von der Brüsseler Technokratie gepredigt wird.

Polen ist also dabei, in genau dieselbe Falle zu tappen, in der schon mein eigenes Heimatland vor zwei oder drei Jahrzehnten gefangen wurde; und alle Warnrufe verhallen ungehört, wie mir scheint: Offensichtlich müssen wohl alle europäischen Länder dieselbe Entwicklung durchmachen, komme, was da wolle; so daß die von mir lange gehegte Hoffnung, zumindest Polen und Ungarn würden aus den Fehlern des Westens lernen und zeitig eine Alternative entwickeln, wohl vergebens war.

Trotzdem scheint mir, daß diese Entwicklung zwar vielleicht unausweichlich war, mit einer entsprechenden Identitätspolitik aber immerhin hätte sinnvoller gesteuert werden können. Denn wenn es wohl auch unausweichlich sein mochte, daß eine Mehrheit der Bevölkerung dieselben Fehler begehen würde wie die Nachbarn im Westen, hätte man zumindest eine gewisse Minderheit frühzeitig für Alternativen begeistern und somit zeitig einen inneren Widerstand vorbereiten können, wie ich versucht habe, es in meinem Buch „Was tun“ zu zeigen; eine Maßnahme, die allerdings, wie mir scheint, in den letzten Jahren weitgehend versäumt worden ist – leider. Hätte dies die Wahlen 2023 verändert? Vielleicht nicht – aber die gegenwärtige Situation wäre erheblich gefestigter gewesen.

Ein anderes Bedauern richtet sich auf die Außenwirkung Polens. Denn es ist gegenwärtig nicht nur so, daß Polen sich selbst immer weniger kennt; Polen wird auch im Ausland nicht wirklich gekannt, was meines Erachtens eine echte Katastrophe ist. Während alle anderen großen europäischen Länder in der kollektiven Wahrnehmung ein relativ scharfes Profil besitzen, bleibt Polen der große Unbekannte. Fragt man einen Franzosen, Spanier oder selbst Deutschen, was er kulturell mit Polen assoziiert, wird man wohl bis auf „Konzentrationslager“, „Warschau“ und „Johannes Paul II.“ nicht viele Antworten erhalten. Polen ist im kollektiven Bewußtsein der Europäer eine Tabula Rasa, und leider hat sich auch in den letzten acht Jahren konservativer Regierung so gut wie nichts daran geändert. Selbst Übersetzungen klassischer polnischer Schriftsteller sind so gut wie unauffindbar. Das bedeutet aber auch, daß die entsprechenden Lügen über Polen auf fruchtbaren Boden fallen, denn es besteht keinerlei Gegennarrativ, gegen die sie ankämpfen müßten.

Zum eklatanten Versäumnis in der Kulturpolitik kommt dann eine weitgehende Inaktivität, was die Informationspolitik betrifft. Während Deutschland, Rußland, die USA oder Frankreich überall im Ausland unzählige Stiftungen, Vereine und Medien unterhalten, um ihre jeweilige Sicht der Dinge eben auch bei den Nachbarn in die Meinungsbildung einzubringen, hat Polen bis auf einige schwache und späte Versuche nichts dergleichen unternommen, und hat es auch weitgehend unterlassen, engere Kontakte mit potentiellen politischen und medialen Partnern anzuknüpfen. Denn ob man es will oder nicht: Die Zukunft Polens wird nicht in Warschau entschieden, sondern in Brüssel, und will man der linksliberalen Krake einen entsprechenden Widerstand entgegensetzen, so geht dies nur über eine enge Zusammenarbeit europäischer Konservativer, wie ich in meinen Büchern „Renovatio Europae“, „Europa Aeterna“ und zuletzt „Défendre l’Europe civilisationnelle“ zu zeigen versucht habe.

Die Konsequenz dieser wohl unfreiwilligen, da überhaupt nicht konzeptualisierten „Splendid isolation“ ist eine weitgehende Vereinsamung der polnischen Konservativen im europäischen Diskurs gewesen; und wen man nicht kennt, für den fühlt man sich auch nicht verantwortlich. Einmal mehr mag dies den Ausgang der Wahlen nicht entscheidend beeinflußt haben – aber es hätte die gegenwärtige Situation erheblich verbessert.

Ist es nun zu spät? Nein, denn es wäre ein schwerer Fehler, politisches Handeln nur mit nationalstaatlichen Kompetenzen zu verbinden. Identitätspolitik, Kulturpolitik und Bündnispolitik lassen sich ebenso von der Oppositionsbank aus betreiben, wenn auch eben mit erheblich geringeren Machtmitteln. Es ist an der Zeit, endlich das Denken in den überholten Kategorien der Nationalstaaten der 1990er und 2000er aufzubrechen und sich für die erheblich komplexere, aber auch vielversprechendere machtpolitische Situation der Gegenwart zu öffnen, wo der politische Kampf nicht durch Gesetzestexte ausgefochten wird, sondern durch NGOs, Medien, Zeitungen, Filme, Stiftungen, Romane, Tweets, Akademien, Musik oder Sommerkurse.

Damit komme ich aber auch schon zum Ende meiner kleinen Ansprache. Der Kampf um die Zukunft nicht nur Polens, sondern ganz Europas ist im vollen Gange, und das Schlußwort ist noch lange nicht gesprochen. Ob es für mich möglich sein wird, diesen Kampf weiterhin in Polen führen zu können, weiß ich nicht, denn seitdem ich leider aus direkt oder indirekt politischen Gründen sämtliche berufliche Beschäftigungen in Polen verloren habe, werde ich mich wohl oder übel wieder nach Westeuropa wenden müssen, um meine Familie weiterhin ernähren zu können – das sind wohl leider die Berufsrisiken, die das Leben als Dissident mit sich bringt, wie Sie alle nur zu gut aus Ihrer eigenen historischen Vergangenheit wissen. Doch was auch immer geschehen wird, möchte und werde ich Polen nicht untreu werden: Wann auch immer es gilt, der Desinformation über Ihr Land zu begegnen, können Sie auf mich zählen.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit – und möge Gott Polen und unsere europäische Zivilisation schützen! Plus Ultra!


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