Das Ende der Tories, wie wir sie kannten – und der Beginn ihrer „Trumpisierung“?

Die deutschen Medien jubeln: Mit „Labour“ ist endlich ihre Lieblingspartei an die Macht gekommen. Ob wohl sogar der Brexit rückgängig gemacht wird, so der feuchte Traum der Euroföderalisten? Humbug – und zwar aus folgenden Gründen.

picture alliance / empics | Phil Noble

Es war ein Fiasko mit Ansage: Schon seit vielen Monaten schien der Sturz der Konservativen unaufhaltsam, und die Entscheidung Rishi Sunaks, die Wahlen von Januar 2025 auf den 4. Juli 2024 vorzuverlegen, ist von niemandem als Zeichen der Stärke betrachtet worden, sondern eher als verzweifelter Versuch, das Beste aus einer katastrophalen Situation zu machen – nicht ganz unähnlich der ebenso umstrittenen Entscheidung Macrons.

Denn in der Tat hatten sich in den letzten Wochen ein paar Lichtblicke abgezeichnet, von denen zwar jeder wusste, dass sie bald wieder von dunklen Wolken verdüstert werden würden, die aber Sunak die Möglichkeit gaben, die Neuwahlen als Richtungsentscheidung in einem (angeblichen) Kontext der „Stabilisierung“ der Dauerkrise des Vereinigten Königreiches zu präsentieren, oder, in seinen eigenen Worten: „build on the progress we have made – or risk going back to square one”.

Die Hoffnung hinter alledem: Mit hochgerecktem Kopf die politische Bühne verlassen und der Partei zumindest mehr Abgeordnete sichern zu können, als im Januar zu erwarten wären – und zugleich ein Narrativ aufzubauen, das den abzusehenden weiteren Absturz des Landes elegant den Nachfolgern in die Schuhe schiebt. Denn in der Tat hatte sich in den letzten Wochen eine leichte, auch saisonal bedingte Beruhigung der teils katastrophalen Inflationslage gezeigt, ein erneutes zaghaftes Wirtschaftswachstum eingestellt und natürlich auch der PR-Effekt der umstrittenen Entscheidung abgezeichnet, illegale Einwanderer fortan nach Ruanda abzuschieben (ein Gesetz, mit dessen Umsetzung wohlweislich noch nicht wirklich begonnen wurde).

Und last but not least: Die Entscheidung Nigel Farages, mit seiner „Reform“-Partei erneut in die britische Tagespolitik einzusteigen, ließ viele Tories aufhorchen, die eine künftige Übernahme der eigenen Partei durch Farage fürchten (oder erhoffen) – vorgezogene Wahlen, welche auch „Reform“ völlig unvorbereitet trafen, könnten es den liberaleren Tories wenigstens noch eine weitere Wahlperiode lang ermöglichen, im Unterhaus weitgehend unter sich zu bleiben, ohne sich tagtäglich an störenden Rechtspopulisten messen lassen zu müssen. Soweit nun das Kalkül, wie sieht aber jetzt die Wirklichkeit aus?

Die nackten Zahlen sprechen für sich: Nach aktuellem Stand ist Labour klarer Sieger mit 33,8 Prozent (gegen 32,1 Prozent im Jahr 2019), die Tories stürzen ab auf 23,7 Prozent (gegen 43,6 Prozent) – das schlimmste Resultat seit Jahrhunderten –, und Farages „Reform“-Partei erringt einen spektakulären ersten Erfolg von 14,3 Prozent, während die Liberaldemokraten auf 12,2 Prozent verbleiben (gegen 11,9 Prozent) und die schottischen Nationalisten 2,4 Prozent erhalten (gegen 3,9 Prozent). Nun hat das britische Wahlsystem freilich die Besonderheit, dass die konkrete Sitzverteilung im Unterhaus nicht den Anspruch erhebt, die landesweiten Proportionen abzubilden, sondern strikt auf Grundlage des „first past the post“ funktioniert, will sagen: Der in den Wahlbezirken jeweils stärkste Kandidat erhält den Sitz, was seit jeher zu enormen Formen der Über-, aber auch Unterrepräsentierung einzelner Parteien geführt hat.

Dies ist auch diesmal der Fall, und der Sieg von „Labour“ wirkt sich daher in der Praxis umso spektakulärer aus. Im neuen Unterhaus wird Labour daher 411 Sitze erhalten (gegen 206 bei den letzten Wahlen), die Konservativen nur 119 (gegen einst 345), die Liberaldemokraten 71 (gegen 11) die schottischen Nationalisten 9 (gegen 43) und die neue „Reform“-Partei 4 – unter ihnen auch, nach sieben vergeblichen Anläufen, Nigel Farage, was wohl das Unterhaus in der nächsten Sitzungsperiode gehörig aufmischen sollte.

Wie geht es nun weiter mit dem Vereinigten Königreich? „Labour“ erbt eine vertrackte Situation und wird zwar möglicherweise den weniger privilegierten Bevölkerungsschichten eine gewisse vorübergehende Beruhigung der Lage bringen, doch um den Preis erneuter Schulden und mit wenig Hoffnung auf Dankbarkeit. Denn das Problem der Masseneinwanderung, der woken Propaganda und der Parallelgesellschaften wird sie schon aus ideologischen Gründen kaum in den Griff bekommen (wollen) und somit „Reform“ entsprechende Munition liefern. Auch die Hoffnung der Konservativen, nach Art der Post-Merkel-CDU in den nächsten Jahren einfach ihre eigene Verantwortung verdrängen und auf die Amnesie der Wähler bauen zu können, dürfte im Vereinigten Königreich weniger erfolgversprechend sein als in Deutschland, zumal Farage bereits mit dem Brexit ein Durchbruch in die ganz große Politik und eine Vernetzung mit den Medien gelungen war, von denen die AfD nur träumen kann.

Denn gerade der Brexit, der sowohl von „Labour“ als auch von den „Tories“ kaum noch öffentlich erwähnt wird – von den ersteren aus Hilflosigkeit, den letzteren aus Scham – ist gleichsam der Elefant im Raum, auf den Farage genüsslich aufmerksam machen wird, und zwar mit der einfachen Botschaft, dass es nicht etwa die in der Tat hochkomplexen Konsequenzen dieser Entscheidung waren, die für die gegenwärtige Misere verantwortlich seien, sondern vielmehr die stümperhafte, ja eigentlich völlig unwillige Durchsetzung des Brexit durch eine als zu moderat verschriene konservative Elite, die gehofft hat, wirtschafts- wie außenpolitisch da weiterzumachen, wo Margret Thatcher aufgehört hatte.

Es steht zu erwarten, dass Farage mit dieser einfachen Botschaft durchaus eine Lücke füllen wird, die ihn mittelfristig nicht etwa zum Konkurrenten der Konservativen, sondern zu ihrem Vorsitzenden machen könnte – nicht unähnlich der Entwicklung in den USA, die Donald Trump an die Spitze der Republikaner gespült und diese Partei von Grund auf revolutioniert hat. Die Wahlen vom 4. Juli wären somit nicht eigentlich der Beginn einer allgemeinen Linksbewegung des Vereinigten Königreiches, sondern vielmehr der Startschuss für ihre mögliche ideologische Radikalisierung, die in einer Wiedergeburt der „Tories“ unter erheblich populistischeren Vorzeichen stünde, wie sich ja schon ansatzweise unter Boris Johnson abzeichnete.

Freilich gilt es zu bedenken, dass vieles von dem, was die Bürger damals der EU zugeschrieben haben, sich nach dem Brexit als endemische Probleme des modernen Westens herausgestellt hat, auf die auch ein völlig souveränes Land nur wenig Einfluss nehmen kann, solange seine Politik sich in den Grenzen von Gewaltenteilung und internationalen Verträgen bewegt. Die Deindustrialisierung Europas, die soziale Polarisierung, die Überalterung der Bevölkerung, die Rentenkrise, die Überlastung des Gesundheitssektors, der Migrationsdruck aus dem globalen Süden, die Konkurrenz Chinas, die identitäre Selbstauflösung durch woken und grünen Terror, die Bildungskrise oder die Herausbildung von fundamentalistischen Parallelgesellschaften – all dies sind Entwicklungen, die zwar von den gegenwärtigen Eliten teils gewollt, teils ungewollt gefördert oder doch nicht behindert werden, die aber schon vor vielen Jahrzehnten eingesetzt haben und uns selbst bei drastischsten Maßnahmen auch noch viele Jahrzehnte begleiten werden, egal, wie die Verteilung der Macht zwischen Washington, Brüssel und London, Paris oder Berlin nun aussieht, und somit ist gerade der Brexit ein Paradebeispiel dafür geworden, dass die institutionelle Abnabelung von Brüssel eben für sich alleine genommen keineswegs ausreicht, quasi automatisch eine Verbesserung der Situation zu erzwingen.

Es steht zu vermuten, dass diese Einsicht allmählich auch im Vereinigten Königreich Fuß fassen, dabei aber nicht etwa zu einer grundlegenden Infragestellung des Brexits als solchem führen wird, sondern vielmehr zum Bewusstsein, dass nur ein gemeinsames Handeln aller patriotischen gegen die globalistischen Kräfte jene kritische Masse herausbilden kann, der allein ein langfristiges Umsteuern in den oben genannten Punkten möglich sein wird: Nur, wenn ein signifikanter Teil des gesamten europäischen Wirtschafts- und Kulturraums, zu dem eben auch das Vereinigte Königreich zählt, sich eng zusammenschließt, um endlich längerfristige Alternativmodelle zum Niedergang umzusetzen, kann verhindert werden, dass ein solches Ideal weiterhin mit jenem Erfolg torpediert wird, den man in den letzten Jahren in Polen, Ungarn und eben auch im Vereinigten Königreich gesehen hat.

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Kommentare ( 25 )

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Ornhorst
5 Monate her

Schlage vor, den Ausdruck „nicht wirklich“ in einem Wort zu schreiben, da er immer genau so benutzt wird, wie z.B. „unwirklich“, was er aber nicht bedeutet. Oder anders gesagt, man könnte auf „nichtwirklich“ wirklich verzichten. Ist sowieso nur Grünsprech.

Last edited 5 Monate her by Ornhorst
Teiresias
5 Monate her

Was UK davon abhält, eine zukunftsfähige europäische Perspektive zu denken, ist ihre „special relationship“ zu den USA.
UK hat immer noch Eliten, die nicht davon lassen können, in imperialen Kriterien zu denken und dann wenigstens Juniorpartner des US-Imperiums sein wollen.
Ein Boris Johnson, der die Friedensverhandlungen in Istanbul März 2022 sabotiert hat und so wesentlich für die Eskalation in der Ukraine verantwortlich ist, mag hier als personifiziertes Beispiel dienen für ein Problem, das durchaus strukturelle Qualität hat.
Erst wenn die Engländer sich ihre imperialen Allüren abschminken, werden sie ein Partner für Kontinentaleuropa sein.

Haba Orwell
5 Monate her
Antworten an  Teiresias

> Erst wenn die Engländer sich ihre imperialen Allüren abschminken, werden sie ein Partner für Kontinentaleuropa sein.

Die müssen noch aufhören, in den „Garten“-Kategorien zu denken, der irgendwie dem „Dschungel“ überlegen sein sollte. Man muss vor allem Partner für Eurasien werden: China, Indien, Russland, Indonesien… (BIP-Reihenfolge)

Joerg Gerhard
5 Monate her

Das Enttaeuschendste und Bezeichnendste ist fuer mich die Klatsche fuer Andrew Bridgen, und das sogar trotz der Publicity die der Postmaster Skandal und seine gute Rolle dabei gerade hatten. Das zeigt klar, dass die Masse hier bzgl. Covid nicht nur lieber den Kopf in den Sand steckt, sondern das Gleiche gerne wieder earlier, longer und harder machen wuerde. Meine Nachbarn in Sussex stehen da stellvertretend: sie fuehlen sich durch Boris‘ partying deceived, fanden Lockdowns&co aber trotzdem richtig- den Widersinn dessen kapieren sie gar nicht. Erschreckend ist auch, dass so viele prominente Wet Tories , inkl. Sunak, Hunt, wiedergewaehlt wurden und… Mehr

Haba Orwell
5 Monate her
Antworten an  Joerg Gerhard

> Meine Nachbarn in Sussex stehen da stellvertretend: sie fuehlen sich durch Boris‘ partying deceived, fanden Lockdowns&co aber trotzdem richtig- den Widersinn dessen kapieren sie gar nicht

Wie in Buntschland (siehe auch den letzten Satz Vorpostings) – daher ist es besser, wenn der Spinnende Westen geopolitisch möglichst wenig zu melden hat. Dann wird der Great Reset wenigstens nicht der übrigen Welt aufgezwungen.

Laurenz
5 Monate her

So sehr es daneben ist, Schwarz-Afrikaner Kulturelle Aneignung in Europäischen Fußball-Teams betreiben zu lassen, so dämlich ist es, einen Inder zum Britischen Premier zu machen. Die Briten wollen genausowenig von einem Inder regiert werden, wie Inder von einer Deutschen Kaiserin.

Joe X
5 Monate her

Der Brexit war das schlimmste, was den Tories passieren konnte. Statt sich zu streiten, OB sie ihn wollen, mussten sie sich danach darum streiten, WIE sie ihn gestalten sollen. Viel einfacher wäre es für sie gewesen, wenn sie den Brexit dem Land weiter wie eine Karotte vor die Nase hätten halten können.
Mit dem Brexit haben die Tories außerdem einen fähigen Premier verloren, und stattdessen wurden Leute wie Johnson und Triss nach oben gespült, wobei letztere noch unfähiger war als ihr Vorgänger chaotisch.

thinkSelf
5 Monate her

So sehr ich die Ihre Analysen auch Schätze Herr Engels, mit der Hoffnung das rückstandsfreie Verschwinden des Westens bis spätestens zum Ende diesen Jahrhunderts könnte noch verhindert werden liegen sie mindestens 40, wenn nicht 50 Jahre hinter der Kurve.

Elmar
5 Monate her

Es werden sich nur die Gesichter ändern. Sonst nichts. Schon ein gewisser Tony Blair von der Labour Party hat sich als willfähriges Schoßhündchen der Amis erwiesen. Daran wird sich auch dieses Mal nichts ändern.

Brauer
5 Monate her

Gilt für jeden Politiker:
„Wir wissen, sie lügen. Sie wissen, sie lügen. Sie wissen, dass wir wissen, sie lügen. Wir wissen, dass sie wissen, dass wir wissen, sie lügen. Und trotzdem lügen sie weiter“

Das wird sich erst ändern, wenn Politiker für ihre nachweisbaren Lügen, persönlich haftbar gemacht werden können.

Waldorf
5 Monate her

Die offene Gesellschaft lernt von ihren Gegnern oder geht unter. Und entgegen aller „Linker“ Propaganda sind es nicht die Rechten, die heute Gegner der bestehenden Gesellschaften sind, sie sind primär nur Gegner der Auswüchse und ihrer Irrwege, zb bei Themen wie Masseneinwanderung, Klima/Energiepolitik, Renten und Wohlfahrt für Jedermann, ausufernden Staatsausgaben, bei denen selbst kleinste Einsparungen/Kürzungen regelmäßig zum Ende der Zeit oder des Rechtsstaates oder der Demokratie (Tm) skandalisiert werden etc, natürlich regelmäßig von „links“ (in Rot oder Grün oder Geld oder Schwarz, egal) Die sog. Etablierten oder Demokraten im Westen haben sich reihenweise in Sackgassen manövriert, aus denen sie ohne… Mehr

Okko tom Brok
5 Monate her

Das Mehrheitswahlrecht in seiner britischen Version schafft nicht nur stabile Mehrheiten im Parlament, sondern zwingt in diesem Fall auch die Tories, die nach rechts an Reform UK verlorenen Stimmen aktiv und ohne Wählerbeschimpfung zurückgewinnen zu wollen. Im Verhältniswahlrecht finden sich leider die Wahlverlierer durch geschicktes Koalieren am Ende doch viel zu oft auf den Regierungsbänken wieder, während Protestwähler einfach ignoriert werden. Dass allerdings die drittstärkste Partei (Reform) nicht mehr Sitze als die viertstärkste (LibDem) bekommt, ist demgegenüber mehr als nur ein Schönheitsfehler!

Laurenz
5 Monate her
Antworten an  Okko tom Brok

Es zwingt vor allem die Wähler vor Ort sich für einen Kandidaten zu entscheiden.