Boris Johnson hat seine Verhandlungsstrategie für die Gespräche mit der EU erläutert. Er will weg von zu engen Bindungen an den Kontinent und schlägt einen losen Freihandelsvertrag irgendwo zwischen dem kanadischen und dem australischen Modell vor. Die Pointe: Australien hat gar kein Handelsabkommen mit der EU.
Jetzt heißt auch der Brexit nicht mehr Brexit. Namen sind Schall und Rauch, und so wollte der britische Premier Boris Johnson in seiner jüngsten Rede im Old Royal Naval College in Greenwich nicht einmal mehr den anerkannten Namen des einst so kontroversen Themas nennen: »… außer dass es mit B beginnt und in der Vergangenheit hinter uns entschwindet.«
Im Land macht sich unterdessen eine Spezies breit, die es wohl allerorten gibt: In diesem Fall sind es ehemalige Remainer, die jetzt auch zum Gewinnerlager gehören wollen und behaupten, sie hätten wohl einige Zweifel an der Sache gehabt, aber nie bestritten, dass das Land »riesige Chancen außerhalb der EU« habe. So wird es dem scheidenden Herausgeber des Remainer-Blatts Financial Times, Lionel Barber, zugeschrieben. Solche Bekenntnisse und Neugeburten dürften oft Schall und Rauch sein. Aufmerken lässt aber, wie sich offenbar auch langjährige Gegner nicht der neuen Lage entziehen können, in der die besten Chancen für ein eigenständiges Großbritannien wahrgenommen werden müssen.
Im Grunde sind das gute Voraussetzungen für einen Premierminister, der nach den Austrittswehen dafür sorgen muss, dass die neugewonnene Unabhängigkeit des Landes auch wirtschaftlich ein Erfolg wird. Wie das anzustellen sei, war das Thema seiner Greenwicher Rede vom vergangenen Montag (hier eine verschriftlichte Version). Zunächst beschwor Johnson historische Bilder, die sich durch den Ort und seine Kulturgüter anboten. So erinnerte er an die Union mit Schottland, die 1707 geschlossen wurde, demselben Jahr, in dem James Thornhill – der britische Michelangelo – die »Painted Hall« der späteren Marineakademie ausmalte. Zuvor hatte ein Erbfolgestreit das Königreich für einige Jahrzehnte in Schrecken versetzt, bevor mit seiner Lösung »Stabilität, Sicherheit und Optimismus« einziehen konnten. Etwa zur gleichen Zeit löste eine innovative Seefahrtstechnik »eine Explosion des weltweiten Handels« aus.
Freihandel mit Partnern in aller Welt
Für Johnson wird so alles symbolisch. Und alles gleicht der Gegenwart. Heute könnte Großbritannien von neuem an der Schwelle eines wirtschaftlichen Aufbruchs stehen, der sich mit neugewonnener Stabilität und innovativer Technologie verbindet. Um das zu erreichen, will seine Regierung möglichst bald mehrere Freihandelsverträge abschließen, darunter Abkommen mit den früheren Kolonien Australien und Neuseeland, mit Japan, verschiedenen Ländern des Nahen Ostens und natürlich den USA. Etwas zurückhaltender gibt sich derzeit Justin Trudeaus Kanada, aber das sind wohl eher Unterschiede im Ton als in der Sache.
Wo ist die Luft besser, im Sanatorium oder vor seiner Tür?
Wenn man an den handelspolitischen Erfolg der Briten in der Anglosphäre, in Japan und andernorts glauben möchte, dann bleibt noch der ausstehende Vertrag mit den Staaten der EU, mit denen das Königreich derzeit noch rund die Hälfte seiner Ein- und Ausfuhren bestreitet – wobei sich ingesamt ein leichtes Handelsdefizit der Briten ergibt, während sie in die Nicht-EU-Welt insgesamt etwas mehr exportieren, als sie von dort empfangen. Was nun von den EU-Vertretern als Handelskonflikt inszeniert wird, eigentlich aber stets und immer noch etwas anderes ist, war der Hauptgegenstand von Johnsons Greenwicher Rede.
Die heimliche Hauptsache der EU in diesen Fragen ist dieselbe wie schon immer, seit die Briten 2016 ihren Austritt aus der Union beschlossen haben: Man will ihnen (und anderen möglichen Nachahmern) klarmachen, dass die Luft vor der Tür des Luftkurorts schlechter ist als die Rauminnenluft im großen EU-Sanatorium; dass man drinnen von gewissen Vorteilen profitiert, die für Nichtmitglieder nicht zu haben seien; dass der Kuchen mit den Rosinen besser schmeckt als die einzelnen Rosinen und dass man sich natürlich entscheiden muss, ob man ihn essen oder behalten will (letzteres könnte so sein). Aber in welche Metapher man diesen Gedanken auch kleiden möchte, Johnson lässt sich auf dieses Spiel – wie inzwischen bewusst sein dürfte – nicht ein, versucht vielmehr einen konstruktiven Dialog herzustellen, den auch zwei schlichte Handelspartner so führen könnten.
Dabei kennt der Premier seine Vorteile. Einer von ihnen dürfte sein, dass die Briten eben erst aus der EU ausgeschieden sind und sich also bis dato an die EU-Regeln halten müssen. Jede Abweichung kann also von ihnen rational entschieden, nach Nutzen und Nachteil gewogen und dann in ein neu zu erstellendes Handelsabkommen mit der EU eingebracht werden. Das hört sich einfach genug an. Die Komplexität ist wohl auch nicht das Schlimmste, das die EU-Verhandler bei dieser Sache befürchten. Es ist vielmehr jenes sogenannte »race to the bottom«, das die Briten zu einem gefährliche Konkurrenten in der unmittelbaren Nachbarschaft machen könnte, etwa als jenes von Johnson einst vor dem Unterhaus beschworene Land der hohen Einkommen und der niedrigen Steuern. Es ist die Angst vor der Freiheit.
Die Briten setzen sich hohe Standards und schonen die öffentlichen Ausgaben
Doch auch hier widerspricht Johnson zumindest partiell, was nämlich die Sozial- und Umweltstandards angeht. Diese lägen in vielen Fällen über denen der meisten EU-Länder: So existiert der Vaterschaftsurlaub auf der Insel schon seit rund 20 Jahren; ein Jahr Mutterschaftsurlaub kann dort ähnlich wie in Deutschland zwischen beiden Eltern geteilt werden; um flexible Arbeitszeiten kann jeder Arbeitnehmer aus einer Vielzahl von Gründen bitten; daneben hat das Königreich einen der höchsten Mindestlöhne in Europa; auch beim Tierschutz sei man der EU in vielem voraus, was etwa Tiertransporte oder das Elfenbeinverbot angehe; schließlich liegen die staatlichen Subventionen in Großbritannien unter dem, was die Franzosen oder gar die spendablen Deutschen vergeben. Von dieser Seite bestünde also keine Bangnis, dass die Briten ihre EU-Partner unterbieten oder übertrumpfen könnten. Sie haben sich vielmehr schon seit Jahren freiwillig hohe, teils höhere Standards gesetzt und schonen traditionell die öffentlichen Ausgaben.
So kontert Johnson die Junktims der EU-Vertreter: Warum sollte man in allem übereinstimmen, wenn es doch eigentlich nur darum geht, den Bürgern zu erlauben, Waren und Dienstleistungen auszutauschen? Nebenher macht Johnson damit deutlich: Es gibt eine Parität zwischen der EU und Großbritannien, keine Gruppe ist besser oder wichtiger als die andere, weder die Gruppierung der EU-Mitgliedsstaaten noch die kleinere Gruppe aus den vier Nationen, die Großbritanniens ausmachen, England, Schottland, Wales und Nordirland.
Europäer durch Sprache, Kultur, Instinkt und Gefühl
Wogegen Johnson ankämpft, das ist die Übernahme von EU-Regulationen, das ist die Jurisdiktion des Gerichtshofes der EU ebenso wie supranationale Kontrollrechte jedweder Art. Sein Verhandlungstrick besteht darin, die verlangte Einheitlichkeit der Sozial- und Umweltstandards nicht als EU-Forderung zu präsentieren, sondern als gemeinsame Angelegenheit beider Parteien, mithin als Gegenstand der Verhandlungen. So entsteht das Bild wirklich freier Gespräche, die sich an der Rationalität des Handels, nicht am heimlichen Ziel der Vereinheitlichung orientiert. Hingegen kann sich die EU innerlich nicht von ihrem Modell einer »immer enger werdenden Union« lösen und versucht, dasselbe nun in ihre Außenbeziehungen zu exportieren. Diesem Versuch muss ein selbstbewusstes Britannien widerstehen. Verhandlungserfolge könnten auf sich warten lassen. Noch gibt es kein Einsehen bei den EU-Vertretern, dass sich hier Partner auf Augenhöhe begegnen. Mit Ergebnissen wird nicht vor dem Herbst gerechnet.
Sicher scheint: Johnson will ein Großbritannien, das offen und großzügig, gastfreundlich und in der Welt engagiert ist. Der »Freihandel in aller Welt« sei es, der im Moment einen Fürstreiter brauche. Großbritannien soll demnach zu einem »unabhängigen Akteur und Katalysator« werden für etwas, von dem die Welt ohnehin mehr brauchen könnte. Hier erwähnt Johnson die Uruguay-Runde (1986–1994), die den weltweiten Handel mit Dienstleistungen ermöglichte und auf der die Entwicklungsländer sich gegen die Agrarsubventionen von USA und EU aussprachen. Unterdessen hat der britische Botschafter bei den UN erstmals seit 47 Jahren wieder seinen Platz im Führungsgremium der Welthandelsorganisation eingenommen – Seit’ and Seit’ mit dem amerikanischen Vertreter.
In der Außen- und Verteidigungspolitik will Johnson, wann immer die Interessen übereinstimmen, mit den EU-Mitgliedern zusammenarbeiten. Die Grenzen und die Immigration Großbritanniens, Wettbewerbs- und Subventionsregeln, Auftragsvergabe und Datenrecht will er aber lieber selbst kontrollieren. »Eine europäische Macht« sei man »nicht durch Vertrag oder Gesetz, sondern durch die unwiderruflichen Tatsachen der Geschichte, Geographie, Sprache, Kultur, des Instinkts und Gefühls«. Ein so mutiges Bekenntnis zur europäischen Kultur vermisst man manchmal bei den Anführern der kontinentalen Union.
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Erinnerungen…
Vor langer Zeit erschienen in Basel zwei Tageszeitungen, die Nationalzeitung und die Basler Nachrichten. Sie fusionierten später zur Basler Zeitung.
Die Nationalzeitung wurde von den Baslern auf echt baslerisch „Nazi-Zytig“ genannt und auch so am Sonntagabend von den Straßenverkäufern ausgerufen.
Und niemand nahm daran Anstoß, höchstens ein Sauschwob stutzte vielleich kurz…
Seit über einem halben Jahrtausend hat Großbritannien gelegentlich Schlachten, aber keinen Krieg verloren.
Briten suchen Verbündete und gewinnen – Deutsche kaufen Kollaborateur und wundern sich, wieso sie verlieren.
Manchmal ist es ein nettes Gedankenspiel, sich zu fragen, wen von den politisch Agierenden man gern mal persönlich kennenlernen würde – und wen auf keinen Fall.
Zu ersten Kategorie gehören für mich: Trump, Johnson, Putin, Weidel, Gauland…
Zur zweiten: Merkel, AKK, Habeck, Baerbock, Lindner, Ramelow, Söder, Laschet…
Ende offen
„Man will ihnen (und anderen möglichen Nachahmern) klarmachen, dass die Luft vor der Tür des Luftkurorts schlechter ist als die Rauminnenluft im großen EU-Sanatorium;…“
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Es bleibt abzuwarten, wer im Siechbett landet: Das Vereinigte Königreich oder die EU.
Aufgrund der gegenwärtigen Gegebenheiten (politisch, wirtschaftlich, finanzpolitisch und gesellschaftlich (Migranten) in der EU, tippe ich ganz klar auf die undemokratisch vereinigten Staaten der EU.
„We shall defend our island home, whatever the cost may be“…..Yes, Sir Wiston Churchill!
Johnson wird immer besser.
Wie klug und umsichtig in Great Britain agiert wird, davon könnte sich so mancher Politiker mal eine Scheibe abschneiden.
Wobei ich anmerken möchte, dass diese „One World Apologeten“ die Vielschichtigkeit der Welt offensichtlich gar nicht kennen. Macht ja nichts, man muss nur dran glauben, nach dem Motto: Ich denk mir die Welt so, wie es mir gefällt.
Ursula von der Leyen hart gesagt, dass duech den EU-Austritt Großbritanniens in den nächsten Jahren 70 Mrd. € Netto-Beiträge fehlen werden. Wer da wohl in die Bresche springen muss?
Sie sollten sich einmal mit dem aktuellen Umbau der Landwirtschaft beschäftigen.
Das nächste Thema, neben Euro, Immigration, Energiewende, usw. bei dem einem schlecht wird und das kalte Grausen ergreift.
Diese EU ist eindeutig auf dem falschen Weg.
Grau ist alle Theorie, schnell wird sich zeigen wie viel mehr an physischen TEU die Insel in Richtung der neuen Maerkte verlassen wird. Freihandelsabkommen sind gut, keine Frage. Aber welche arbeitsintensiven Produkte werden es sein, die jetzt nach dem Brexit plötzlich in Megamärkten wie Australien und Japan reissenden Absatz finden werden? Frische Vollmilch aus Cornwall? Tweed Jacken aus Berwick? Range Rovers aus Solihull? Airbus a380 Flügel aus Wales? Biotech-produkte aus Cambridge? Dosenfisch aus Grimsby? Oder weiter unten im Regal Ethylen Oder Benzol Von inneos in grangemouth – oops, Schottland, die wollen den Brexit gar nicht – Und und und… Wer… Mehr
Johnson und Merkel. Ein Unterschied wie Tag und Nacht.