Boris Johnson: Vom Volk gewählt, von Politikern abgesetzt

Mit Boris Johnsons Abgang endet ein Epos demokratischen Wählens. Der Volkstribun des Brexit-Referendums wurde abgesetzt. Sein Nachfolger, wer es auch immer sein mag, bleibt diesem Vermächtnis verpflichtet. Die Chancen des Brexits sind noch nicht gehoben.

IMAGO/Zuma Wire

Der vergangene Mittwoch gehört vermutlich zu den verrücktesten Tagen in der britischen Politik der letzten Jahrzehnte. Am Abend hatte Johnson seinen langjährigen Weggefährten Michael Gove gefeuert, nachdem der ihm am Morgen öffentlich den Rücktritt empfohlen hatte. Es war das greifbarste Zeichen dafür, dass Johnson es auf einen Kampf mit seinen Widersachern ankommen lassen wollte. Doch bis zum Morgen des Donnerstags folgten weitere Rücktritte, am Ende waren es mehr als 50.

Am Donnerstagmorgen forderte der neu bestellte Schatzkanzler Nadhim Zahawi öffentlich den Rücktritt Johnsons. Das galt, 24 Stunden nachdem er den Job übernommen hatte, als unverständliche Kehrtwende. Hatte er das Amt nur angetreten, um zum Königsmörder zu werden?

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Kurz darauf trat die neue Erziehungsministerin Michelle Donelan nach 36 Stunden im Amt wieder zurück. Man versteht, was Johnson mit jenem „Herdentrieb“ meinte, der die Geschehnisse angetrieben hatte. Auch Innenministerin Priti Patel und zwei weitere Kabinettsminister forderten am Ende Johnsons Rücktritt. Am Ende war klar, dass Johnson die leeren Plätze nicht ohne weiteres mit Nachzüglern auffüllen konnte. Es war aber weniger eine Revolte der Fraktion als ihrer führenden Köpfe, die ihn zu Fall brachte.

Am Donnerstag, eine halbe Stunde nach Mittag, trat Boris Johnson vor den Amtssitz der britischen Premierminister, um seinen Rücktritt vom Vorsitz der konservativen Partei zu verkünden. In seiner Rücktrittsrede dankte Johnson seinen Wählern für die „größte konservative Mehrheit seit 1987“ und den größten Anteil an den Wählerstimmen seit 1979. Viele hatten zum ersten Mal überhaupt konservativ gewählt, gerade in der sogenannten „Red Wall“ im Norden Englands mit klassischen Labour-Mehrheiten, die aber angesichts der Entscheidung über den Brexit zu Johnson wechselten.

Auch Johnson sprach von seinem Pflichtgefühl, das ihn am Amt festhalten ließ. Am Ende sei der „Herdentrieb“ seiner Parteigenossen zu groß gewesen: „Wenn die Herde sich einmal in Gang gesetzt hat, dann läuft sie.“ Natürlich sei niemand in der Politik „auch nur im entferntesten Sinne unverzichtbar“. Das „brillante darwinistische System“ der konservativen Partei werde einen neuen Anführer hervorbringen, der genauso hingebungsvoll daran arbeiten wird, das Land voranzubringen. Und den werde er, Johnson, so gut unterstützen, wie er könne. Er selbst sei sehr traurig, den besten Job in der Welt aufgeben zu müssen. Aber so sei eben das Leben.

Unklar bleibt freilich, wer ihm nachfolgen wird. Boris Johnsons Abgang wird so zu einem Drama in drei Akten. Erster Akt: Unordnung vor dem Fall. Zweiter Akt: Johnson gibt nach. Et tu, Priti? Dritter Akt: Das Chaos lebt.

Muss Johnson nun auch als Premier zurücktreten? Labour droht mit der Vertrauensfrage

Als Premierminister will Johnson zunächst im Amt bleiben, bis sein Nachfolger bestimmt ist. Nicht alle Beobachter sind mit diesem Vorgehen Johnsons einverstanden. Zu den Stimmen, die Johnsons sofortigen Rücktritt als Premierminister fordern, gehört neben dem ehemaligen Premierminister John Major auch der einstige Berater Dominic Cummings. Auf Twitter gebraucht er (wie bei ihm üblich) farbige Worte, spricht vom „Chaos und Gemetzel“, das Boris Johnson anrichten werde, wenn er noch zwei Monate im Amt bleibt. So lange dürfte es dauern, bis sich die Tories auf einen neuen Parteichef geeinigt haben.

Die Kritiker seiner Entscheidung zum Ausharren im Amt sind sich meist einig, dass man schlicht den stellvertretenden Premier und Justizminister Dominic Raab zum neuen Interimspremier machen solle. Schon droht Labour mit der Vertrauensfrage, mit der man die innere Festigkeit der konservativen Fraktion testen könnte. Ein Hauch von Rachedurst ist daneben in Cummings’ Worten zu verspüren, wenn er hinzusetzt: „Tritt heute noch zurück oder die Queen wird dich entlassen, Raab einsetzen, und Polizisten eskortieren dich aus dem Gebäude“.

Das klingt nach einer karibischen Bananenrepublik vom Feinsten – oder nach der neuesten Anti-Trumpologie. Denn Johnson ist bekanntlich der „Britain Trump“, dem der Abschied von der Macht genauso schwerfallen muss wie dem blonden Mann von der anderen Seite des Atlantiks. Cummings glaubt, dass Johnson auf Zeit spiele. Aber was sollte er damit erreichen wollen? Im Land rühren jedenfalls noch einige andere die Paniktrommel, die immer ein bisschen an die Tage der Abwahl von Donald Trump im Januar 2021 erinnert. Aber durch seine Anerkennung des innerparteilichen „darwinistischen Systems“, das nun einen neuen Parteichef bestimmen werde, hat sich Johnson als eindeutiger Verehrer und Anhänger des innerparteilich-demokratischen Verfahrens gezeigt.

Natürlich sagte er auch, dass er das starke Votum seiner Regierung gegen ihn „exzentrisch“ fand, also „ziemlich verrückt“, wie ein Kommentator übersetzte. Johnsons Vater Stanley hatte vor dem Rücktritt von einem „Wahnsinnsanfall“ der konservativen Partei und einer „Hexenjagd“ gesprochen. Das war engster Familienbeistand.

Die in Deutschland vergessene Kulturtechnik des Zurücktretens

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Denn ganz so irrational war das Verhalten der Parteifreunde wohl nicht. Immerhin waren schon einige Nachwahlen verloren gegangen, was man auch auf den negativen Effekt der Skandale rund um Downing Street zurückführte, auch wenn Parties in der privaten Dienstwohnung des Premierministers zu keiner anderen Zeit der britischen Monarchie ein Politikum gewesen sein dürften. Aber Pandemie und Lockdown-Politiken haben die gesellschaftliche Moral auf der Insel gründlich umgeprägt.

Den Lockdown wollte Johnson zunächst als echter Liberaler nicht beschließen. Als er dann selbst erkrankte und hospitalisiert wurde, erreichte seine gemessene Popularität ihre höchsten Werte. Es ist höchst ironisch, dass es der Lockdown war, der ihn zu Fall brachte. Der Lockdown, den er zwar auf Drängen der Presse und anderer, meist links von ihm stehender Akteure verhängt hatte, dem er und seine Umgebung aber nicht mit voller Strenge folgten. Man könnte von Rachgier sprechen, die das geknechtete Volk gegenüber den Verursachern seiner Knechtschaft empfand.

Aber es ist dieser moralische Rigorismus, der in gewisser Weise zu den Stärken des britischen Systems gehört. Denn er treibt auch das innerparteiliche System der Auslese an, das ohne die Schärfe der Kritik, die plötzlich von allen Seiten aufbranden kann, nicht denkbar wäre. So werden Personen und Positionen als öffentlich unhaltbar herausgestellt, und das lässt einen Rücktritt dann auch wirklich unvermeidlich werden. Es ist dies eine „Kulturtechnik“, die in Deutschland weitgehend der Vergangenheit anzugehören scheint.

Vom Volk gewählt, von Politikern abgesetzt

Trotzdem beklagen auch einige in Großbritannien genau diesen Zustand. Denn nachdem das Volk Johnson triumphal wählte, dann sei er nun von der Politik, von seiner Partei abserviert worden. In der Tat hatte sich noch nicht einmal eine Mehrheit der konservativen Abgeordneten im Juni gegen ihn ausgesprochen. Noch immer hört man Bedauern aus der konservativen Fraktion über Johnsons Rückzug. Trotzdem war der knappe Sieg in der Fraktion der Anfang von Johnsons Ende, die Wunde, von der er sich amfortasgleich nicht mehr erholen konnte. Und wie in Wagners Parsifal lag auch dieser Wunde die Verfehlung zugrunde, und sei sie (oder ihre Wertung) auch noch so hypokritisch.

Was hinterlässt Johnson als Vermächtnis, dessen Erhalt auch für seinen Nachfolger empfehlenswert wäre? In seiner Rücktrittsrede gab er selbst einige Hinweise darauf. An erster Stelle steht natürlich der Brexit beziehungsweise: „Getting Brexit done“, also die praktische Umsetzung des Wunsches der Briten, die EU zu verlassen, den sie im Referendum von 2016 klar ausgedrückt hatte. Weil das gelang, ist das britische Parlament heute wieder frei, seine eigenen Gesetze zu erlassen, ohne auf Direktiven aus Brüssel, Straßburg oder Luxemburg (Sitz des EuGH) warten zu müssen. Das sollte eigentlich eine Selbstverständlichkeit für ein Parlament und seine Abgeordneten sein, zumindest soweit man Wert auf den Namen einer Demokratie legt.

Man darf fragen, ob Johnson mit der Pandemie-Politik inklusive Turbo-Impfprogramm und dann mit der nachhaltigen Unterstützung für die Ukraine etwas zu sehr ins Reich der Schaufensterpolitik gewechselt hat, während zuhause einige dicke Bretter darauf warteten, von ihm durchbohrt zu werden. Daran erinnerte nun auch sein einstiger wirtschaftspolitischer Mentor im Gespräch mit Nigel Farage. Gerard Lyons weist auf die übermäßige Macht des Schatzamtes hin, das Finanz- und Wirtschaftsministerium in einer Hand vereinige. Johnson hätte sich an dieser Stelle mit eigenen wirtschaftspolitischen Akzenten durchsetzen müssen. Lyons’ Rezept verbindet ein Ende der lockeren Währungspolitik, um die Inflation zu kontrollieren, mit Wachstumsimpulsen in Form von Steuersenkungen.

Das unentschiedene Rennen um die Nachfolge

Wer wird nun auf Johnson folgen? Kein konservativer Spitzenpolitiker scheint heute seine populäre Strahlkraft aufzuweisen. Auf der nun unmittelbar beginnenden Suche nach einem Nachfolger wird denn auch die erste Reihe der Partei meist übersprungen. Plötzlich steht Verteidigungsminister Ben Wallace ganz oben auf vielen Listen, nur weil er gerade im Ukraine-Krieg eine gute Figur macht. Welche Politik er für das Land fahren würde, weiß niemand so genau.

Außenministerin Liz Truss ist ein ähnlicher Fall. Sie galt früher als Advokatin eines schlanken Staates, für den sie auch im Kabinett eintrat – allerdings mit Ausnahme ihres eigenen Außenressorts und der Verteidigung. Diese Parteilichkeit könnte sie als Premierministerin vielleicht ablegen, aber man zweifelt noch, dass sie die generalistische Breite und Gravitas für das Amt hätte.

Dasselbe gilt für den zurückgetretenen Schatzkanzler Rishi Sunak, der sich aber zumindest in die Post-Brexit-Ökonomie gründlich eingearbeitet hat und angeblich einen Plan für das von Johnson oft ausgerufene „global Britain“ hat, also ein international konkurrenzfähiges Großbritannien. Darüber könnte allerdings in Vergessenheit geraten, dass es auch noch ein „local Britain“ gibt, dem die Konservativen ihre 80-Sitze-Mehrheit verdanken. Mit anderen Worten: Noch ist nicht klar, wie elitär Sunaks „globales Britannien“ aussehen würde und wie sehr ihm die Förderung des deindustrialisierten Nordens am Herzen liegt.

Die Brexit-Seele der Konservativen darf nicht zu kurz kommen

Relativ chancenlos wirken von außen betrachtet die standhaften Johnson-Gegner wie Jeremy Hunt und Tom Tugendhat, der Vorsitzende des Außenausschusses, der immerhin eindeutige konservative Ansichten aufweist (gegen Russland, China und Steuererhöhungen). Allerdings war er einst Remainer und wirbt nun in einem Manifest für die „Entfesselung aller Vorteile des Brexits“.

Das mit den konservativen Ansichten gilt nicht ganz für Penny Mordaunt, die Marinereservistin, auch sie kein alter Johnson-Fan, wenn auch Brexit-Unterstützerin. Als Ministerin sagte sie an der Parlamentsbox, dass „Trans-Männer Männer sind und Trans-Frauen Frauen“. Nicht gerade eine konservative Auffassung, eher woke Kriegsbemalung. Bleibt ein Newcomer, der ehemalige „Impfminister“ Nadhim Zahawi, den Johnson nun auf den letzten Metern mit dem Schatzamt belohnte, wo er sich umgehend für den Verzicht auf höhere Steuern aussprach, die sein Vorgänger Sunak noch ins Auge gefasst hatte (noch einmal die Macht des Schatzamtes). Der gebürtige Kurde aus dem Irak gilt als hartnäckiger Arbeiter, nur der Kratzer mit dem Umfallen im letzten Moment könnte ihm anhaften.

Die neugewonnene Brexit-Seele der Konservativen kommt bei all dem etwas zu kurz. Sie könnte der Hinterbänkler Steve Baker verkörpern, dem eben deshalb auch Chancen eingeräumt werden. Er leitete bisher zunächst die Brexit-freundliche „European Research Group“ und dann die pandemiepolitik-kritische „COVID Recovery Group“. Das sind Sporen, die ein konservativer Premierminister brauchen könnte und die ihm nützen könnten. Ob sie am Ende als nützlich genug angesehen werden, ist eine andere Frage. Bis jetzt haben nur Rishi Sunak, Tom Tugendhat und die Generalstaatsanwältin Suella Braverman ihre Kandidatur offiziell bestätigt. Braverman ist fest auf dem rechten Brexit-Flügel der Partei positioniert und heißt auch die geplanten Ruanda-Flüge gut. Auch Kemi Badenoch verkündete ihre Kandidatur am Freitag. Badenoch, selbst nigerianischer Herkunft, ist für ihre klar konservativen Positionen zu woken Themen (etwa Rassismus oder der Trans-Debatte) bekannt.

Diese Suche ist ein weites Feld. Es scheint keinen automatischen Nachfolger, nicht einmal ein klar umrissenes engeres Feld zu geben. Sicher scheint aber, dass der neue konservative Premier die Interessen Großbritanniens im köchelnden Konflikt mit der EU eher noch härter verfechten wird, als Johnson es tat. Vor allem die konservativen Wähler bleiben zutiefst euroskeptisch und dürften auch ziemlich anti-woke sein. Und nicht umsonst sprechen nun auch einst glühende Remainer wie Tugendhat von den Vorteilen dieses Brexits, der sich schon jetzt in höheren Wachstumsraten als auf dem Kontinent niederschlägt.

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Kommentare ( 2 )

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Iso
2 Jahre her

Ziemlich schade, dass die Briten mit der neuen Freiheit nichts anzufangen wissen. Auch bei denen bestimmen die Weltverbesserer und die Klimakirche die öffentliche Meinung und es kommt mir vor, als ob der EU-Sozialimus in vielen Köpfen sein Unwesen treibt. Was wohl dort am besten klappt, ist wie hier, die Bürokratie. Für mich als EU-Insasse war der Brexit bisher nur enttäuschend. Schade eigentlich, so darf man mit der Freiheit nicht umgehen.

Gerd07
2 Jahre her

Boris hat zwar erheblich wenn nicht entscheidend zum Erfolg des Brexit Referendums beigetragen, aber er wurde nicht(!) vom Volk gewählt, sondern von seiner Partei zum Vorsitzenden und dann den Abgeordneten zum PM. Und den Vorgang machen die gleichen Leute jetzt quasi „rückgägngig“, aber ohne Anweisung von oben, sondern eher auf Druck von unten. Er hat „im Volk“ an Zuspruch verloren und besagtes Volk wählt die Abgeordneten direkt.