Nachdem bereits in der letzten Woche aserbaidschanische Truppen an der Grenze zu Armenien aufmarschierten, brachen nun neuerliche Kampfhandlungen aus. Aserbaidschan nahm in einer sogenannten „Anti-Terror“-Operation die Region Bergkarabach unter Feuer.
Für einen kurzen Moment keimte ein wenig Hoffnung auf, dass Menschlichkeit und Diplomatie im Konflikt um die Region Bergkarabach obsiegen könnten, als vor einigen Tagen erstmals nach 10 Monaten ein russischer Konvoi mit Hilfsgütern die belagerte Region Bergkarabach erreichte. Doch diese Hoffnung wurde spätestens gestern mit dem Ausbruch von Kampfhandlungen zunichte gemacht.
Am 19. September um 13 Uhr Ortszeit startete Aserbaidschan eine sogenannte „Anti-Terror“-Operation gegen die Separatisten der Region Bergkarabach. Der aserbaidschanischen Seite zufolge sollen zivile Opfer von Minen entlang der Agdam-Route der Auslöser der Kampfhandlungen gewesen sein. Angesichts des tagelangen Aufmarsches aserbaidschanischer Truppen an der Grenze, darf aber an der Vollständigkeit dieser Version gezweifelt werden.
Der Duktus der „Anti-Terror“-Operation bewegt sich dabei ganz in der Tradition des 21. Jahrhunderts, Kriege als „Spezialoperationen“ oder als Kampf gegen den Terror neu zu etikettieren. Die Bewohner der Region Bergkarabach dürften darin wenig Trost finden, erste Berichte aus der isolierten Region zeigen Explosionen, sowie von Artillerie beschossene Wohnhäuser. Viele dieser Berichte lassen sich bislang nur bedingt verifizieren, Menschenrechtsbeobachter sprachen aber von mindestens zwei Todesopfern, darunter einem Kind, sowie elf Verletzten (darunter 8 Kinder) unter den Zivilisten.
Wird Bergkarabach zum Bauernopfer Armeniens?
Der neuerliche Krieg zwischen Aserbaidschan und der Region Bergkarabach bringt die Stabilität der Region nun nachhaltig ins Wanken. Der armenische Premierminister Nikol Paschinjan berichtete im Fernsehen vom Einsatz von Bodentruppen von Aserbaidschan und sprach von einer „ethnischen Säuberung“ der Armenier in der Region. Armenien selbst sei aber bislang nicht in Kampfhandlungen verwickelt, dennoch berief der Premier eine Dringlichkeitssitzung des nationalen Sicherheitsrats ein, um weitere Schritte zu erörtern. In der Hauptstadt Eriwan fanden Proteste statt, die ein Eingreifen zum Schutz der Bevölkerung in Bergkarabach forderten.
— 301?? (@301arm) September 19, 2023
Armenien hatte in den letzten Monaten wiederholt Signale gesendet, dass man den Anspruch auf Bergkarabach eventuell aufgeben könnte, falls damit die territoriale Integrität Armeniens gesichert werden könnte. Berichten des aserbaidschanischen Verteidigungsministeriums zufolge wurden die regionalen Schutzmächte Türkei und Russland über den bevorstehenden Angriff vorab informiert. Vor allem von der Türkei wird erwartet, dass sie sich in einem bevorstehenden Konflikt mit Aserbaidschan verbünden könnte. Russland hingegen betont, nur „wenige Minuten vor Beginn des Angriffs“ über die bevorstehende Operation informiert worden zu sein.
Regionale Interessen und Stellvertreterkonflikte
Zwar plädierte die Sprecherin des russischen Außenministeriums, Maria Sacharowa, für die Beendigung des Blutvergießens und eine Wiederaufnahme diplomatischer Gespräche, doch dürfte auch die russische Vermittlungsbereitschaft in den letzten Wochen deutlich abgenommen haben. Erst kürzlich führte Armenien erstmals im kleinen Rahmen eine gemeinsame Militärübung mit US-amerikanischen Soldaten durch. Zwar handelte es sich um eine Übung im kleinen Rahmen, doch der symbolhafte Charakter – nämlich jener einer verstärkten Westbindung in der Hoffnung, darin eine zuverlässige Schutzmacht gegen Aserbaidschan zu finden – blieb weder den westlichen Beobachtern noch dem Kreml verborgen. Moskau machte keinen Hehl daraus, über diese Entwicklung verstimmt zu sein. Der Iran, der bislang dazu tendierte, Armenien zu unterstützen, hat sich seit dem neuesten Angriff bislang nicht in die Karten blicken lassen.
Nachdem Außenministerin Baerbock im vergangenen Jahr versäumte, die Aggression Aserbaidschans deutlich zu benennen, bezeichnete sie diesmal die Berichte als „dramatisch“ und forderte Baku auf, „den Beschuss sofort einzustellen und an den Verhandlungstisch zurückzukehren“. Mögliche Sanktionen gegen den Angriffskrieg Aserbaidschans, ähnlich der prompten Verurteilung des Überfalls auf die Ukraine, als Baerbock bereits am ersten Tag des Angriffs das „volle Paket massivster Sanktionen“ gegen Russland versprach, blieben allerdings aus.
Das Außenministerium in Eriwan rief den UN-Sicherheitsrat und Russland zu Maßnahmen zur Beendigung des Militäreinsatzes auf. Eines scheint nunmehr deutlich: Was auch immer unternommen werden sollte, es muss schnell geschehen, ehe Aserbaidschan die Weltgemeinschaft vor vollendete Tatsachen stellt.
Sie müssenangemeldet sein um einen Kommentar oder eine Antwort schreiben zu können
Bitte loggen Sie sich ein
Die katholische Kirche war sich selten zu fein, dass Abschlachten von den anderen christlichen Kirchen zu dulden.
Ich erinnere an den Vierten Kreuzzug.
Da die Türkei historisch sich schon immer an Armeniern versündigt hat, ist es wenig erstaunlich, dass sie dabei zuschaut.
Vermutlich hofft Erdogan noch einen Happen von Armenien zu bekommen. Ich empfehle sich den Ersten Weltkrieg und den Zerfall des Osmanischen Reiches genauer anzuschauen.
Die Ukraine sollte gewarnt sein, auch als „Partner des Westens“ ist man nicht sicher.
Stell dir vor die Jung-Türken wären die NSDAP und Armenien wäre der „Lebensraum“ den es zu gewinnen gilt: Dann wären Aserbaidschans „Anti-Terror“-Operationen in etwa so, als würde Österreich „Recht und Ordnung“ schaffen.
Dieser Völkermord basiert auf Erdogans Pan-Türkismus, dem Hass auf Christen, der Schwäche Russlands und der Verkommenheit des Westens.
Man kann sich ja jetzt über den Krieg in der Ukraine echauffieren und mit einer blau-gelben Nationalismus-Substitutsflagge rumrennen… Aber die Armenier merken die russische Schwäche. Es sind zwar auch eigene Fehler, Paschinyan ist eine Katastrophe für das Land mit seiner forcierten Ausrichtung nach Westen, aber Russland wird nicht mehr Armenien schützen können. Die EU wird keinen Finger krumm machen für die Armenier. Die USA natürlich auch nicht. Es gibt eben die bösen Angriffskriege wie in der Ukraine, und dann gibt es die guten Angriffskriege, also Jugoslawien 1999, der Irak und wohl auch diesen hier. Die Zeit der Armenier in Bergkarabach… Mehr
Worin genau macht Herr Boos die Unterstützung Armeniens seitens Teheran fest? Wenn ich mich dunkel erinnere, haben Shahed- Drohnen beim ersten Waffengang eine nicht unwesentliche Rolle gespielt. Davon abgesehen galt Russland vor einem Jahr noch eher als äusserst zögernder Verbündeter Armeniens, oder irre ich da?
Das wäre mir neu. Speziell das mit den Shaheed-Drohnen. Verwechseln Sie das nicht mit den türkischen Bayraktar?
Der Iran hat Interesse am Schutz Armeniens, alleine um seine azerische Minderheit still zu halten. Ist Aserbaidschan an seiner westlichen Grenze zufrieden, wird sich der Blick der Azeris nach Süden richten.
Wo bleibt die Beflaggung von Amtsgebäuden mit der armenischen Fahne?
Ist die Wachhabende vom Dienst aus der FDP noch nicht geweckt worden?
Der Umgang der etablierten, reichweitenstarken Medien mit dem – in diesem Fall tatsächlich – unprovozierten Angriffskrieg ist so vorhersehbar wie bezeichnend: Es wird so gut wie gar nicht berichtet – schon gar nicht über Hintergründe. Gerade die Springer-Presse schweigt sich aus. Da wäre z.B. EUMA, European Union Mission in Armenia. Eine Art polizeiliche Hilfsaktion, um die angespannte Lage zu beruhigen. Deutsche Polizei soll daran beteiligt sein. Was machen die jetzt gerade? Wäre es nicht interessant und informativ, Interviews von solchen Polizisten vor Ort zu sehen, wie Gerd Ruge sie seinerzeit gemacht hatte? Es bräuchte im Zeitalter von Skype noch nicht… Mehr
Europa hat seine wenige jahrhundertlange Vorherrschaft nie genutzt, die zuvor vorangegangene Infiltration fremdester Völker in seinen angestammten Gefilden zu korrigieren. Es zeugt nicht gerade von Verantwortung, sich ohne Not zum beliebigen Spielball natürlicher Antagonisten zu machen, nur weil diese sich, die mittlerweile als energiereich geltenden Landstriche, unter den Nagel reißen konnten. Mit einer, um beim Thema zu bleiben, dem Islam äquivalenten Denke wäre dies nicht passiert! Etwas, was womöglich aber dann Industrialisierung und Aufklärung stark gezügelt hätte, von dem ja Europa ganz entschieden profitierte, und dessen Benefit, in selbstherrlicher Naivität, an die ganze Welt geradezu verschenkt wurde. Wohl im Glauben… Mehr
Mir ist nicht klar, warum die OVKS, der Armenien angehört, das Treiben der Aserbeidschaner nicht schon längst beendet hat. In Kasachstan waren sie erheblich schneller.
Die OVKS besteht ja eigentlich nur aus Weissrussland und Russland. Der Rest ist Schmuck am Nachthemd und militärisch absolut unbedeutend.
Desweiteren dürfen sie nicht vergessen sind der Rest der „Verbündeten“ muslimisch geprägt und ich garantiere ihnen ein muslimisches Land wird keinem Christlichen Land gegen ein anderes muslimisches Land beistehen!
USA zusammen mit Armenien beim „Manoever“.
Tuerkei, historisch eher kein Freund von Armenien.
Russland bisher eher Aserbaidijan unterstuetzend.
Iran wohl eher bei Armenien (oder doch neutral bleibend, weil Erzfeind USA auch Armenien unterstuetzt?).
Wie reagiert Georgien ? (Unterstuetzend fuer USA wahrscheinlicher als fuer Russland….)
Der Westen macht nichts anderes als USA.
Dazu kommen die inneren Proteste, die – von wem auch immer- genaehrt werden.
Proxy. Stellvertreterkrieg.
Zuerst Spaltung und wieder neu wuerfeln, wer „Freund“ und „Feind“ wird.
Fuer Russland eine zweite Ablenkungsfront ?
Die Region Karabach ist nur das Spielfeld und die Menschen werden geopfert.
Cui bono?