Gespräche mit zwei Frauen im westafrikanischen Gambia: Die eine kam aus München, um dort zu leben und arbeiten, wo so viele weg wollen. Die andere will bleiben, und erklärt, warum so viele ihrer Landsleute auswandern – und was eine kluge Entwicklungshilfe tun sollte.
Mercedes Rodríguez ist Wahlmünchnerin, stammt aus Panama und ihre Familie und ihr Freundeskreis sind über die Welt verstreut. Nach mehreren Jahrzehnten in Deutschland hat es die Kunsthistorikerin ins westafrikanische Gambia verschlagen, ein kleines Land am gleichnamigen Fluss, in das nur sehr wenige Europäer ein-, aber viele Menschen nach Europa auswandern.
Vom Mündungsgebiet des Gambia starteten in der zweiten Hälfte 2020 Tausende von Menschen in Fischerbooten zu den Kanarischen Inseln, die zu Spanien gehören. Rund 500 Migranten kamen allein im Herbst vergangenen Jahres auf dem Seeweg zu den Kanaren um.
Rodríguez weiß, was die gambischen Migranten trotz dieser Gefahren motiviert: „Nicht alle schaffen es, der Familienernährer zu sein, wie es von ihnen erwartet wird. Sie hören über Europa wundersam verführerische Geschichten wie, dass es für weniger Arbeit mehr Geld gibt, und dass wer keinen Job hat, ein Gehalt vom Staat kriegt.“ Sie riskieren ihr Leben, geben Schleppern ihre Ersparnisse und viele verschulden sich, um dann doch nur am Rand der europäischen Gesellschaft zu leben. Die Legenden über ein besseres Leben in Europa werden teilweise über soziale Medien verbreitet oder auch von Gambiern und Senegalesen, die in Spanien, Frankreich oder Deutschland leben und nicht zugeben wollen, dass sie eigentlich gescheitert sind.
Mercedes Rodríguez
Die polyglotte Rodríguez, die fünf Sprachen fließend spricht, hat es umgekehrt gemacht. Sie hat auf die soziale Hängematte in Deutschland verzichtet, die einige afrikanische Migranten suchen, und sich für eine Arbeit in Afrika entschieden. Viele halten sie deswegen für verrückt, sagt sie, „aber jetzt in Pandemiezeiten ist das Leben hier einfacherer. Wegen der Temperaturen halten wir uns fast ausschließlich draußen auf und ich habe hier viele Freunde gefunden unter den Einheimischen.“ Das Leben ist sehr günstig im Vergleich zu Europa, was den Start für Auswanderer wie Rodríguez einfacherer macht. Sie kam Anfang 2019 als Tourismusexpertin nach Gambia, wo sie zunächst für einen Reiseveranstalter arbeitete: „Dann kam die Pandemie und alles war vorbei“. Zwar wurde das Land bei weiten nicht so erwischt von dem Virus wie Europa, aber der Tourismus wurde schwer getroffen. Vor allem Briten besuchen normalerweise das Land. Die Amtssprache der ehemaligen Kolonie ist Englisch.
Die Sogkraft Europas ist wie einanderen afrikanischen Ländern auch mit der Geschichte der Region verbunden. Der Pariser Frieden von 1763 übertrug Großbritannien die Herrschaft über Gambia, bis es 1965 unabhängig wurde. Der umgebende Senegal dagegen blieb bis 1960 französische Kolonie. Die generationenübergreifenden Erfahrungen und Erinnerungen von Ausbeutung vermischen sich mit Bewunderung für die Kolonialherren. In der Zeit des transatlantischen Sklavenhandels wurden mehr als drei Millionen Afrikaner nach Amerika verschleppt. Erst 1807 beendete Großbritannien den Sklavenhandel offiziell.
Gambia mit seinen 2,3 Mio. Einwohnern und einer Bevölkerungsdichte von 182 pro Quadratkilometer hat bisher offiziell 128 Covid-19-Tote registriert. Rodríguez hat ihre sozialen Kontakte reduziert. Aber für die Einheimischen ist der Virus kein Drama: „Wir haben hier mit ganz anderen Problemen zu kämpfen, wie zum Beispiel Malaria“, berichtet die 22jährige Adama Ceesay, die in der Nähe der Hauptstadt Banjul lebt und dort bei einer lokalen Produktions- und Handelsfirma in der Buchhaltung arbeitet. Für sie ist Auswandern keine Lösung, um der Armut des Landes zu entfliehen. Jetzt schon gar nicht, wo in Europa der Coronavirus viel schlimmer tobt. Sie will eigentlich nicht weg aus Gambia. Allerdings gehört sie auch zu der Schicht, der es etwas besser geht. „Sie sind natürlich nicht gebildet und wissen nicht, dass viele dort auch Schulden haben, dass Europa kein Schlaraffenland ist“, sagt Ceesay über die Auswanderungswilligen. Die Protzgeschichten vieler Landsleute über ihr Leben in Europa glaubt sie nur bedingt. „Diejenigen, die das Land verlassen, sind nur halb ausgebildet“. Die gelernte Buchhalterin will auch nach Europa: „Aber nur zum Studieren und am besten mit einem Stipendium“. Sie hat bereits einen Bachelor-Abschluss, aber das reicht ihr nicht. „Einwanderung darf nicht irregulär sein“, das hat sie in ihren jungen Jahren bereits verstanden.
Adama Ceesay
„Die Ungleichheiten sind hier größer als in jedem westlichen Land“, sagt Rodríguez. In Gambia gibt es außerdem auch keine Bodenschätze wie in Nigeria oder Südafrika gibt. Aber das hat das Land wiederum auch vor kriegerischen Auseinandersetzungen und Kriminalität geschützt: „Ich fühle mich hier sicher“, sagt Rodríguez. Die Menschen seien freundlich, hilfsbereit und lebensfroh. Die dominante Religion, der Islam, kaum zu spüren. Allerdings schlägt sie sich gerade mit den gambischen Behörden vor Ort herum, sie wartet auf eine Arbeitsgenehmigung – nicht viel anders als Gambier in Europa. „Es hat damit zu tun, wo du herkommst und was du gewohnt bist. Gambia ist landschaftlich ein Paradies, wo das Leben nichts mit dem in Europa zu tun hat. Der Rhythmus und die Werte sind anders hier“, sagt Rodríguez. Auf der anderen Seite bietet es wirtschaftlich nicht viele Möglichkeiten. Zwei Drittel bis drei Viertel der Erwerbstätigen arbeiten dort in der Landwirtschaft, die fast ein Drittel des Bruttoinlandsprodukts ausmacht.
Starke Frauen und fliehende Männer
Es sind pragmatische und motivierte Frauen wie Adama Ceesay die Mercedes Rodríguez so begeistern in Gambia: „Sie sind stark, sehr gut organisiert und intelligent“. Wobei es wie überall darauf ankommt, wo jemand und wie jemand aufgewachsen ist. Ceesay wohnt jetzt in der Nähe der Hauptstadt Banjul: „Auf den Dörfern gibt es keine guten Schulen, keine Universitäten. Die Menschen, die jetzt nach Europa gehen, kommen oft vom Land. Denn mit Bildung bekommt man auch hier Arbeit“, sagt die junge Frau. Was die Menschen lockt ist auch der Euro, der so viel wert ist in ihrem Land. Selbst wenn sie in Spanien auf der Straße nur gefälschte Ware verkaufen können, weil sie keine Aufenthaltsgenehmigung bekommen, „verdienen sie damit wegen der Kaufkraft der Währung das Dreifache im Vergleich zu ihrer Familie in Gambia“, weiß Ceesay.
Und was ist es, das die wirtschaftliche Entwicklung in Gambia bremst? Das Land sei, sagt Rodríguez, „wesentlich offener als andere muslimische Gesellschaften, weil die afrikanische Kultur hier einfließt, aber wirtschaftlich sorgt diese teilweise auch für Ineffizienz“. Und außerdem: „Interne Märkte werden durch Importe kaputtgemacht: Second-Hand Kleider, Lebensmittel unter dem einheimischen Herstellungspreis, Großfischerei, Billigwaren, vor allem Plastik, aus Asien“. Zudem gäbe es zu viele ausländische Investitionen, die die Einheimischen mit Niedrigstlöhnen abspeisen.
Frauen wie Adama Ceesay zeigten, sagt Rodríguez, dass wir unser Bild von Afrika ändern müssen. Es sei bestimmt durch die Bilder der Tausenden Migranten, die übers Meer nach Europa kommen und dann in den Straßen der Städte herumlungern, wo sie gerade stranden, weil sie eigentlich nicht willkommen sind. Rodríguez will helfen vor Ort, wo sie kann: „Es ist absolut notwendig, mehr in Aufklärung, Bildung und Kultur zu investieren“. Das glaubt auch Ceesay, die selbst zu den wenigen gehört, die studiert haben: „Meine Familie kommt aus einfachen Verhältnissen, deswegen will ich weiter studieren, um ihnen finanziell zu helfen durch einen noch besseren Job und auch meinen zukünftigen Kindern soll es besser gehen als mir.“
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„Sie hören über Europa wundersam verführerische Geschichten …“
Merkwürdig … gibt’s da keine „Faktenchecker“?
Um mit diesen wundersamen Geschichten aufzuräumen, sollte man eine „Social Media Agentur“ engagieren, die auf den von den Märchenerzählern bevorzugten Twitter- und Facebook-Seiten entsprechende Posts hinterlässt, die die Wirklichkeit beschreiben. Aber wahrscheinlich würden diese gelöscht, weil sie nicht den „Gemeinschaftsstandards“ entsprechen …
Ich glaube, mit Büchern über gescheiterte Hilfsprojekte, durch die UN und freiwilligen privaten Hilfsorganisationen, könnte man eine ganze Bibliothek füllen. Um diese aber nicht zum erliegen kommen zu lassen, da hängen hunderttausende gut bezahlte Arbeitsplätze bei der UN und den anderen dran, wird uns ein völlig falsches Bild vermittelt. Immer nur negative Nachrichten, immer wieder die Bilder der armen kleinen Kindern, die, wie in einem Werbespot, Hunger haben den man sich nicht vorstellen kann, daß er sogar die Haut des Kindes schmerzen läßt. Dann auch noch Captain Picard alias Patrick Stewart, der im Fernsehen für die Millionen Flüchtlingen in Afrika… Mehr
Ehrlich gesagt, sehe ich es als Rassimus an, wenn Fremde (hier also Weiße) sich Gedanken machen, wie ein anderen Land (hier mit Schwarzen) leben soll. Das sind keine kleinen Kinder: Kümmert Euch um Euren eigenen Sch… . Witzig ist ja auch wie weiße Frauen (scheinbar ohne Aufgabe im Leben?), die selbst keine Kinder haben, oder diese sind weit weit weg (wieso?) sich um die Kinder fremder Leute kümmern. Und ich bin mir sicher, dass in einigen Jahren all die weißen Entwicklungshelfer und sonstige weißen Gutmenschen genau deshalb als Rassisten angegriffen werden. Und sie fallen aus allen Wolken. Witzig wird dann… Mehr
„Als Einwanderin im Lande der Auswanderungswilligen“:
Als ich das las, dachte ich, schreibt jetzt eine Migrantin über Deutschland. Ich denke, dass viele Menschen mitllweile zumindest darüber nachdenken, ob sie auswandern sollen. Viel mehr als früher. Bei vielen ist es bisher nur eine psychologisch hilfreiche Möglichkeit, damit sie sich nicht ganz so ohnmächtig fühlen.
Ich hab schon ein Haus in England und werde bald weg sein.
Es gibt nur eine Chance und Hoffnung für den afrikanischen Kontinent: Einen gravierenden Stopp und Rückgang des Bevölkerungswachstums. Und selbst dieser Prozess wird Jahrzehnte brauchen, um die Lebensumstände und -chancen nachhaltig positiv zu beeinflussen.
Man sollte die Afrikaner endlich mal fragen, was sie selbst aus ihrem Land machen wollen und wie sie eigenständig dahin zu gelangen in Betracht ziehen.
Alles von außen mit Milliarden an Entwicklungshilfe Aufgedrückte scheint doch für die Katz, wenn es nicht gar in falschen Kassen versickert – zumal sie auf den Stolz Afrikas, die übermäßige Kinderzahl, ja anscheinend nicht zu verzichten bereit sind.
Sehe ich ebenso. Nur, gib einem einen Fisch so wird er satt für einen Tag, gib ihm eine Angel so ist er jeden Tag satt. Wenn aber derjenige gar nicht angeln will? Die Leute sollten selber entscheiden wie sie leben wollen. Man kann aus einem Land wie z.B. Gambia kein Silicon Valley machen. Was aber immer nicht erwähnt wird, die Lebensumstände der meißten Afrikaner haben sich in den letzten 40 Jahren stark verbessert. Hunger gibt es nur noch wenig und der Zugang zum Gesundheitswesen wurde auch verbessert. Das ist allerdings nicht das Verdienst der ganzen Hilfsdienste, auch wenn sie das… Mehr
Da kenn ich einen besseren Spruch: Give a peasant a fish and he can eat for a day, show a peasant how to fish, then he will go on and fish the whole river empty, till everybody starves.
Die Afrikaner müssen ihre Probleme selber lösen.
Schöner Artikel der aufzeigt wie wichtig es ist, konsequent und zeitnah in solche Länder rückzuführen.
Dann kämen Gerüchte über angeblich so paradiesisches EU-Ropa gar nicht erst auf und Leute würden ihre Ersparnisse nicht dfür Schlepperdienste verschleudern.
Zu einem genannten Aspekt, den verheerenden Auswirkungen von Importen für dortige Wirtschaft, wünsche ich mir einen vertiefenden, gesonderten Artikel. Wie EU-ropäische Gutmenscherei (etwa Altkleiderspenden) oder eiskaltes Gewinnstreben (subventionierte Agrarexporte) in Wahrheit afrikanische Wirtschaft ruiniert, dazu noch erwähnter Plastikschrott aus Fernost, ist viel zu wenig bekannt.
Seltsamer Artikel. Man schaut von oben aus der engen Perspektive solcher, die es zu Bildung gebracht haben, auf ein ganzes Land und vergisst auch nicht, den „Schuldkomplex“ Sklavenhandel wieder „ins Spiel“ zu bringen. Den innerafrikanischen Sklavenhandel, der weit vor den Europäern existierte und von Arabern ausgebaut wurde, bringt man gar nie zur Sprache – oder versucht man auch denen, einen Schudkomplex einzureden? Auch dass weiße Menschen an den Küsten des Mittelmeers gefangen und innerhalb Arabiens gehandelt wurden fällt immer unter den Tisch. In Gambia wurde der Handel mit Menschen sozusagen nur auf die neue Welt „ausgeweitet“ – und die innerhalb… Mehr
Was arbeitet man als Kunsthistorikerin in Gambia? Ich würde auch gerne arbeiten, wo es immer schön warm ist, nur fürchte ich, dass meine Kunden nicht mit umziehen werden. „Nicht alle schaffen es, der Familienernährer zu sein, wie es von ihnen erwartet wird“ Wenn man eine Familie nicht ernähren kann, sollte man auch keine gründen. Eigentlich nicht so schwer zu begreifen, oder? „Die Ungleichheiten sind hier größer als in jedem westlichen Land“ Ja, wie? Ich dachte immer, Europa sei die Hölle des Rassismus und der Diskriminierung schlechthin…?! „Sie sind natürlich nicht gebildet und wissen nicht, dass viele dort auch Schulden haben,… Mehr
Ich nehme an, dass Frau Rodríguez nicht alleine ausgewandert ist. Sie wird wohl einen starken Partner an der Seite haben, der ihr das Leben in Gambia zumindest während „Durststrecken“ finanzieren wird. Denn dass es dort ALGII und sonstige Unterstützungen für alle Migranten gäbe, halte ich für ein Gerücht.
Vielleicht kann man das ja nachrecherchieren und uns Lesern dann nachreichen? Ansonsten bleibt der Bericht seltsam unvollständig.
Was arbeitet man als Kunsthistorikerin in Gambia? Ich würde auch gerne arbeiten, wo es immer schön warm ist, nur fürchte ich, dass meine Kunden nicht mit umziehen werden.
Weniger Kinder und mehr Bildung. Das hatte auch das Ehepaar Sadat für Ägypten im Blick. Aber leider hat ihr grosszügiger Islam verloren. Und wenn der verliert, wird es radikal. So auch in Afghanistan, wie mir eine Kollegin, die von dort kam, erzählte. Ich wünsche Gambia weiterhin eine grosszügige Religion.