Weihnachten gilt als Fest der Familie: die Familie als kleinste Einheit, durch die Fürsorge der Generationen zusammengehalten. Sie ist das Beispiel für die Organisation des generativen Zusammenhalts einer Gesellschaft. Doch gibt es dieses Denken heute noch?
Als unsere vier Kinder älter wurden, verzichteten wir irgendwann auf die Weihnachtsgans. Das Backrohr blieb kalt, und das knusprig-braune Ding wurde Jahr für Jahr mehr zur verblassenden Erinnerung. Sowieso hatte schon niemand mehr mit ungeteilter Freude an den Vorbereitungen für das Weihnachtsfest teilgenommen, kein gemeinsames Baumeinkaufen. Früher war das anders: Nicht nur zu Hause, auch im Kindergarten und in der Grundschule wurde geschnitten, geklebt, gebastelt, gefreut. Unser erster Baum, ein dürrer Geselle zwar, zu spät eingekauft, zu wenig Auswahl, dann aus Mitleid mitgenommen. Aber er wurde von uns liebevoll mit echten Kerzen ausgestattet.
Später wurden die Kerzen ausgetauscht gegen Lichterketten Made in China: erst die mit den weißen Birnchen, später ersetzt durch knallbunte. Nein, nicht aus fehlender Nostalgie, sondern aus Erfahrung: Diese modernen Dinger schienen uns gut geeignet, das Stresspotenzial des Weihnachtsfestes zu verringern: Auf den Teppich tropfende Kerzen plus zwei aufgeregt schwanzwedelnde Schäferhunde. Nein, ein brennender Hundeschwanz wäre eine verzichtbare Weihnachtsgabe.
Was so eine Gans kann
Nun war also Weihnachten nach und nach ausgetrocknet. Einmal gab es Wiener Würstchen mit Kartoffelsalat aus dem Litereimer. Hinterher zwar noch ein schnelles Eis aus dem Halbliterbehälter, den man auswaschen und für Gefriergut weiterverwenden konnte, aber doch nie genug, dieses sich einschleichende Verlustgefühl zu kompensieren. Natürlich war früher alles schöner. Heute war es nur noch bequem. Nun hatten wir zufällig beim Weihnachtsschnelleinkauf in der Tiefkühltruhe mit den Sonderangeboten dicke polnische Gänse entdeckt und einer nur Sekunden anhaltenden sentimentalen Stimmung folgend spontan eine mitgenommen – 27,50 Euro für knapp drei Kilogramm.
Traditionell war die Zubereitung so eines Bollermanns Vaters Aufgabe. Denn alles, was mit Fleisch, was mit mühsam herausgezerrten frostkalten Innereienbeuteln und anderen blutigen Geschäften zu tun hatte, bot Gelegenheit, mal den Gentleman fürs Grobe zu geben, den Macher.
Die Gans stand also knusprig auf dem Tisch. Sogar so perfekt braun wie nie zuvor dank Honig-Kaltwasser-Finish. Noch ein paar Handgriffe, die guten Teller aus dem Schrank abspülen und das passende silberblitzende Besteck aufdecken. Arbeitsteilige Handgriffe nur, aber schnell beschimpfte der Sohn die Tochter, die Tochter schimpfte, weil Vater nicht mit dem Sohn schimpfte, die Mutter zupfte unbeobachtet schon an der Knusperhaut der Keule, was wiederum die Tochter noch mehr in Rage brachte, wollte sie doch ein möglichst identisches Weihnachtsgansritual aus der Kindheit noch einmal erleben.
Dafür musste aber jetzt alles möglichst perfekt nachgespielt werden. Das brachte nun wieder die Mutter zum Lachen, die Söhne lachten mit, und bis sich dann endlich alle beruhigt hatten und auch die Vanilleduftkerzen brannten, brauchte es seine Zeit. Dann endlich Ruhe. Essenzeit. Gemeinsamzeit. Familienzeit. Nur als die Mutter noch ein Weihnachtslied anstimmte, um die Kinder zu ärgern, wurde es wieder lauter. Sie kam über die erste Strophe kaum hinaus: „Es wird scho glei dumpa, es wird scho glei Nacht, drum kim i zu dir her, mei Heiland auf d’ Wacht …“
Na ja, dann kam der Sonntag, die Gans war verdaut, das abgeschöpfte Gänsefett im Glas längst hart geworden. Es konnte also mit zur alten Tante, die darauf schwor. Die beiden übrig gebliebenen Gänseflügel, ein Rest Fleisch vom Vogelgerippe und mit Konfitüre aufgepeppter Rotkohl ging ebenfalls mit auf die Reise. Die Kinder nahmen sogar allein die Straßenbahn, die Eltern durften zu Hause entspannen.
Familie ist ein starkes Band
Die Wohnungen der Oma und der Tante waren immer ein schönes Ziel. Nie kamen sie mit leeren Händen zurück. Aber auch ohne diese Zuwendungen wäre dieses bedingungslose „Gemochtwerden“ Grund genug gewesen, hinzufahren. Familie ist ein starkes Band. Gewoben aus Familiensinn. Und jetzt Grund für einige Gedanken.
Generativität ist ein wenig gebräuchliches Wort. Übersetzt man es aber mit „Familiensinn“, wird es verständlicher. Beim Familiensinn geht es im Wesentlichen um die Fürsorgepflicht der Generationen füreinander. Wohlmeinend zurück- wie vorausschauend: zurück zu den Eltern und Großeltern und vorwärts zu den Kindern und Enkelkindern. Der Staat sollte nur dort unterstützend eingreifen, wo die individuelle Fürsorge versagt oder verwehrt bleibt.
Die Gesamtheit individuellen Familiensinns prägt die Art und Weise, wie die Mitglieder einer Gesellschaft kollektiv miteinander umgehen. Die Entwicklungsstufe des Sozialstaats eines Landes spiegelt daher Qualität und Kontinuität von Familiensinn. Einfacher gesagt: So, wie ich mit Alten und Kindern umgehe, erzählt, wie gesellschaftlich verankert Familiensinn ist oder eben nicht.
Es geht auch um andere gegenseitige Unterstützung: um Mentorenschaften vom alten zum jungen Menschen. Und um Pflegeleistungen vom jungen für den alten. Es geht um die Aufgabe, Kultur und Tradition zu vermitteln, und die jüngere Generation vollzieht den nötigen Anpassungsprozess des Gelernten an eine sich verändernde Umwelt.
Kollektiv gelebt wird das beispielsweise im Vereinsleben, in der generativen Übergabe von Verantwortung in den Betrieben bis hin zur Inszenierung von weltlichen und religiösen Feiertagen – der Staffelstab wird immer an die nächste Generation weitergegeben.
Kontinuität ist auch ein Sicherheitsversprechen. Jene Sicherheit, die jede neue Generation braucht, um über die vorhergehende hinauszuwachsen, partiell mit ihr zu brechen, ohne freilich das Gesamtkonstrukt zu gefährden. Zukunftsvisionen brauchen ein Fundament, einen sicheren Rückzugsort für jene, die die Visionen umsetzen.
Wo bleibt das generative Denken?
Ist Deutschland dieses generative Denken abhandengekommen? Wurde die Familie als individueller Ursprungsort einer kollektiven Fürsorgepflicht vakant gestellt? Zerbrechen die traditionellen Generationenverträge – oder sind sie es gar schon? Oder wie kommt es, dass es die Bundeskanzlerin vor der Bundestagswahl (gegenüber dem „Focus“) als ihre erste Aufgabe sah, über ein gezieltes Fachkräftezuwanderungsgesetz zu referieren, über ein flächendeckendes Gigabitnetz und die Verbreitung des autonomen Fahrens, aber nicht über die Familie?
Aber kann das funktionieren? Will der Staat als Hüter der Gemeinschaft Gemeinschaftssinn zukünftig virtuell implantieren? In Thüringen beispielsweise beschloss die rotrotgrüne Koalition gerade, die erst vor gut zehn Jahren gegründete Stiftung für Familiensinn 2019 wieder aufzulösen. 2005 hatte die CDU-Alleinregierung mit der Gründung der Stiftung eine „nachhaltige Familienoffensive“ begründen wollen.
Thüringen ist nur ein Beispiel: Am Anfang steht die Demontage des Begriffs Familie und mit ihm des Familiensinns. Ohne eine emotionale Familienbindung aber kann es kein Solidaritätsprinzip geben. Dann müssen die Leistungen aus der Steuerpuderdose kommen, dann degeneriert eine Gesellschaft zum Geschäftsmodell.
Dass nun allerdings der einzelne Individualist, der Einzelgänger, der Familienlose vergessen zu haben scheint, dass er überproportional von den kinderreichen Familien profitiert, ist nur ein kleines Drama am Rande des Vergessens des generativen Denkens, das bis heute aus einem bestimmten historischen Blickwinkel kontaminiert erscheint und sich in Auflösung befindet.
Über ein weiteres Indiz dieser Auflösung berichtete der Historiker Michael Wolfssohn in der „Welt“, als er schrieb: „Seit der faktischen Aufhebung der Wehrpflicht sind Passdeutsche keine Schutzgemeinschaft mehr. Bei uns ist der Schutz des Staates keine Gemeinschaftsaufgabe, sondern nur noch bezahlte Dienstleistung.“
Wolfsohn weiter: „Der instrumentelle Seinsgrund eines Staates kann allerdings nur funktionieren, wenn es in der Staatsgesellschaft mindestens einen ideellen Seinsgrund gibt. Der ist das Bindemittel einer Gesellschaft zur Staatsgemeinschaft.“
Familien könnten dieses Bindemittel sein, aber man baut als Staat nicht mehr auf sie. Und damit macht dann aber auch das generative Denken nur noch innerhalb der Familien Sinn. Verbannt ins Private. Als individuell menschliche Erscheinung, basierend auf Verwandtschaft, Kindsein und Elternschaft. Als Baumeister für die Konstruktion eines Staates, einer Nation oder eines Volkes ist die Familie dann allerdings nebensächlich geworden.
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Ein sehr schöner und berührender Beitrag! Vielen Dank, Herr Wallasch. Viele Erinnerungen sind dadurch auch bei mir aufgekommen und ein Gedanke, der mich sogar ermutigt. Und das ist nicht einfach, in diesen Zeiten irgendwo noch Hoffnung zu finden. Zeiten, in denen ich mich vor allem, und zwar täglich mehr, um die Zukunft meiner Kinder (21 und 25) in diesem Land sorge. Die Familie ist der einzige Hort, den wir uns von niemandem zerstören lassen dürfen. Und gegen diese Zerstörungswut der Eliten können wir leise, aber dennoch bestimmt ankämpfen, indem wir für den Zusammenhalt in unseren Familien einstehen – mit all… Mehr
Eine Weihnachtsansprache der ganz besonderen Art. Da wird man still und geht in sich. Das Gefühl, das sich einstellt: beschämend und erlösend zugleich. Danke.
Der Staat ist nicht die Gesellschaft. Das Fundament der Gesellschaft sind die persönlichen Beziehungen, die eine gegenseitige Abhängigkeit pflegen und ein gemeinsames Schicksal haben. Wo dieser Kitt fehlt, gibt es nur individualisierte einzelne, die ohne Ziel und Bestimmung durch die Zeit getrieben werden. Der losgelöste freie Einzelne war das Sehnsuchtsziel, als man die Last der Pflichten noch drückend schwer auf sich lasten fühlte. Das Credo der 68er war, daß es in der kapitalistischen Gesellschaft keine (freie) Liebe geben kann. Das Ideal war der sozialistische neue Mensch, der unterschiedslos diskriminierungslos alle liebte. Angeblich praktizieren dies auch eine Reihe von linksgrünen jungen… Mehr
Ich bin hin- und hergerissen zwischen Bedauern der vergangenen Zeiten und Anerkennung der Realitäten, die Welt entwickelt und ändert sich stetig weiter. Auch ich neige dazu, die Vergangenheit zu verklären und ertappe mich bei Parolen, die mein Opa früher abließ: Früher war alles besser. Denke ich jedoch länger darüber nach, war früher eben auch nicht alles Gold, was glänzt. Große Familientreffen waren keineswegs nur harmonische Begebenheiten, im Gegenteil. Da wurde gestritten (und gesoffen), was das Zeug hält. Niemand hatte viel Geld und bei den Geschenken war ich als Kind oft entäuscht. Und schwor mir oft, wenn ich groß bin, mache… Mehr
In unserer Siedlung (Durchschnittsalter: ca. 37 Jahre) gibt es nicht ein Haus ohne Weihnachtsbaum und Familienweihnacht. Heile Welt? Aber es stimmt: Die ideologischen Angriffe auf die Familie waren in der Gesellschaft nicht folgenlos. Einige entfernte Verwandte feiern am liebsten allein oder gar nicht („finde Weihnachten schrecklich“), und es gibt in unserer Verwandtschaft nicht nur zu Weihnachten so gut wie keinen Zusammenhalt mehr. Wir sind auf die Kernfamilie plus Großeltern zurückgeworfen. Kann daraus jemals wieder eine echte Familie erwachsen? Zu Weihnachten lebt der Traum…
Na ja, Muttis Dr. Arbeit in Chemie, sie ist ja „nur“ Diplomphysikerin, wurde von ihrem späteren Ehemann gefördert. Kinder haben die beiden keine. Was also eine Familie ausmacht geht denen ab. Der Fisch fängt bekanntlich am Kopf an zu stinken. Es gibt viele solcher Karrieren bei den Staatenlenkern. Das Ergebnis braucht niemanden zu wundern.
Ja, so ist es, Generativität soll, im Grunde, keine weitere Bedeutung haben, denn, so die entsprechende Sicht, nur zufällig ist man das Kind dieser Eltern, nur zufällig in diese oder jene Kultur hineingeboren….im Zentrum der zukünftigen, beliebigen Gesellschaft soll allein das Individuum stehen, frei von der bindenden Generativität, hinsichtlich der Vergangenheit und der Zukunft….die gelebte, lebendige Geschichte ist die, die sich, mit allen Schattenseiten, von Generation zu Generation mitteilt, nicht allein in den Fakten, sondern in den Erlebnissen und Erzählungen, wie sie im emotionalen Ausdruck der Erzählenden sichtbar wird, in den Erzählungen der Großmutter aus ihrer Kindheit, die sie der… Mehr
Lieber Herr Wallasch, Ihnen und Ihrer Familie wünsche ich ein frohes Weihnachtsfest und ein gutes neues Jahr 2018. Irgendwo habe ich gelesen: Familie ist der Ort, wo man Dir zwar Fragen stellt, wo Du aber nie in Frage gestellt wirst. Klingt etwas trocken und hölzern, beschreibt aber den Sachverhalt. Wenn ich heute zurückblicke, dann bin ich das, was ich heute bin, durch die Familie – Mama und Papa – aus der ich komme. Was mir an Mutterliebe zuteil wurde, hat mich über die Jahre getragen. Mein Frauenbild wurde geprägt am Vorbild meiner Mutter. Und so kann ich heute weiter sagen:… Mehr
Immer, wenn etwas größer wird, geht auch etwas verloren. Demokratie geht nur in einem beschränktem Umfeld…je größer, desto weniger Demokratie. Die Familie braucht ebenfalls ein Umfeld, das ihre der Nationalstaat geboten hat. Die EU kann das nicht, und so verschwindet die Familie zugunsten anderer Projekte…Ehe für alle, die ohne Sinn und Inhalt ist. Eine one world kann es nicht geben, das hat die Bibel mit Babylon schon gezeigt. Alle Eroberer sind gescheitert…auch die USA ziehen sich jetzt Stück für Stück zurück. Die Familie kann nur in den Grenzen ihrer Nation ihre Identität bewahren, ansonsten wird sie verschwinden, wie man heute… Mehr
Dem Herzen wird es wohlig warm, das macht die Weihnachtsgans im Darm. Wo bleibt das generative Denken? Das generative Denken ist noch da! Es lebt in einer Szene, die von vielen gerne belächelt – „Eure Mütter“ haben sie sogar als „verblödet“ verspottet – und von vielen fasziniert wahrgenommen: Die Mittelalter-Szene. Wer als Lagerteilnehmer einige Zeit dort ist, wird merken, dass das Interesse an diesem, sagen wir mal, „Hobby“ nicht nur ein Zeitvertreib ist, sondern zur Lebenseinstellung wird. Das Alter spielt dort keine Rolle mehr – man lebt im Mittelalter. Die wirtschaftlichen Verhältnisse sind in der Regel unbekannt – man spielt… Mehr