Varoufakis ist unterwegs für das von ihm mitgegründete „Democracy in Europe Movement 2025“, kurz: DieM25. Für den demokratischen Aufstand der Völker. Das darf auch was kosten.
Nein, Idomeni ist nicht die Hölle. Es klingt nur wortmächtiger. Die Hölle ist wohl eher Aleppo, die Hölle ist Homs, die Hölle sind all die zerbombten, niedergebrannten und entvölkerten Orte weltweit, von denen Menschen fliehen und beispielsweise in Idomeni stranden. Dort, wo Norbert Blüm im nassgeregneten Wurfzelt übernachtete. Dort, wo die Kinder die Nacht durchhusten und die Väter am Morgen wieder den Grenzzaun stürmen, nur um erneut mit Gummigeschossen dicker als Weinkorken und Wolken von Tränengas vertrieben zu werden. Nein, wenn Idomeni die Hölle ist, dann ist diese Hölle an vielen Orten in Europa. Und Höllen sind ein Thema der Linken, seit der junge Friedrich Engels die Manchester Industrielandschaft als „Hölle auf Erden“ bezeichnete.
Hölle muss sein. Immer. Überall.
Für Dieter Dehm, der den Vorredner gibt für den Auftritt des griechischen Ex-Finanzministers Prof. Dr. Yanis Varoufakis in Braunschweig, sind die Höllen der Welt wohl nicht mehr in den europäischen Fabriken zu finden. Da hat sich was verbessert in den vergangenen 150 Jahren. Aber Hölle muss sein, also ist Idomeni die Hölle. Und einig sein darf man sich, dass dort niemand zelten möchte. Nicht einmal für einen Tag wie Norbert Blüm jetzt weiß.
Dieter Dehm ist hier in seiner Funktion als Schatzmeister und Vorstandsmitglied der EuropeanLeft, der europäischen Linkspartei (EL). Also auch eine Art Finanzminister. Und ebenfalls einer mit nicht gerade prall gefüllten Taschen, wie die Sammelbox belegt, die später im Saal herumgereicht wird und die während der Rede des Griechen ordentlich klimpert, weil nur kleine Münzen eingeworfen werden. Aber es läppert sich. Dieses Mal reichte es nur für die Congress-Halle, das ist der Wurmfortsatz der Braunschweiger Stadthalle – ein 1970er(…)-Traum in Nussbaum bis hoch zur Decke, zugelassen für 500 Besucher.
An diesem Varoufakis-Abend müssen deshalb 100-200 weitere Zuschauer mit dem Foyer Vorlieb nehmen, in das die Rede kurzfristig noch per Lautsprecher übertragen wird. Die Technische Universität hatte ihr Audimax abgesagt. Der legendäre Ort, an dem einst Wolf Biermann sein „Che Guevara“ sang, will keine linke Veranstaltung. Oder darf keine, wie die TU mitteilte:
„Aufgrund der Verpflichtung von Hochschulen zu parteipolitischer Neutralität vermietet die TU Braunschweig keine Räume an Parteien. Diese Entscheidung ist keine Wertung gegenüber Personen oder Parteien.“
2008 reichte es für Oskar Lafontaine, Norbert Blüm und Ottmar Schreiner (R.I.P) noch für den großen Saal der Stadthalle. Das Motto lautete damals: „WÜRDE IM ALTER, Nein zur Rente ab 67!“. Aber verhandelt wurden auf dieser lange im Vorfeld geplanten Veranstaltung dann doch die Ereignisse rund um die Finanzkrise. Vorweg gesagt: das wird auch an diesem 12.April acht Jahre später nicht anders. Thema des Abends: „Wie der Neoliberalismus Europa zerstört und was man dagegen tun kann!“
Nicht dabei: Dr. Frankenstein
Kommen wir also zum Mann des Abends: Yanis Varoufakis ist eine Lichtgestalt der europäischen Linken. Er hatte dem Kapital in Brüssel die Stirn geboten. Zumindest sehen das er selbst und die Linke so. Er stand als griechischer Finanzminister im Mittelpunkt der zähen Verhandlungen rund um die Griechenlandkrise. „Dr. Frankenstein“ wird er seinen Gegenspieler, den deutschen Finanzminister Dr. Wolfgang Schäuble im Laufe des Abends mehrfach nennen. „ …a tragedy of his own made“. Einer, der es – immerhin – gut meinte, aber das Monster geschaffen hätte.
Ja doch, Yanis Varoufakis ist ein smarter Entertainer. Ein taffer Erzähler mit tiefem warmen Bariton und einem Mimik- und Gestenschatz, der die emotionale Seite seiner Zuhörer noch direkter berührt, als es der Inhalt seines Vortrags vermag. Aber auch der hat es in sich. Noch vor wenigen Stunden hatte man vor annährend eintausend Linken in Hannover gesprochen. Lafontaine war auch dabei, aber Braunschweig ist 2016 nicht mehr auf dem Tourneezettel des Saarländers. Dieter Dehm erscheint in der immer selben Jeansjacke mit dem immer selben Fischerhemd darunter. Der Grieche mag es flotter: kragenlose dunkle Lederjacke, Jeans ohne Gürtel, die er mehrfach am Abend hochziehen muss und ein anthrazitfarbenes Seidenhemd mit Fünfknopfleiste. Etwas fülliger scheint er geworden, aber immer noch schlanker als die meisten im Saal. Der Stress der Amtszeit und der zähen Verhandlungen um Geld, um Geld und noch mal Geld ist vorbei. Das Amt niedergelegt. Also auch mal Zeit für eine gemütlichere Rückschau auf dieses kurze, schnelle Leben im Auge des Hurrikans – Dieter Dehm würde vielleicht sagen: in der Hölle der Realpolitik.
Zur Hölle mit der Realpolitik
Natürlich war Erdogans Beleidigtsein auch ein Thema. Varoufakis hatte sich am Vormittag schon mit Böhmermann solidarisch erklärt, pressewirksam und höchstwahrscheinlich auf Empfehlung vom Dehm. Der befindet zum Fall Erdogan und dessen Rechtsempfinden: „Man kann doch nicht den Vampir zum Oberaufseher der Blutkonserven machen.“ Und „Das wäre doch so, als hätte Adolf Hitler Charly Chaplin verklagt für seine Rolle in „Der große Diktator““. Ja, das ist die erfolgreiche Dialektik der Altlinken. Das kommt an, das hat Schmackes. Auch dann noch, wenn dieser Dieter Dehm immer wieder den Dieter Dehm erklärt. Mit 66 Jahren ist das vielleicht so. Dann muss so ein aufreibendes linkes Lebenswerk eben auch mal eigenhändig beleuchtet werden, wenn’s sonst keiner macht. Die Zeit für das Quantum Nachruhm drängt im Herbst des Lebens. Und als dieser omnipotente Varoufakis redet, wird die Dehm-Erschöpfung noch sichtbarer. Müde wirkt der Kämpfer gegen die Höllen dieser Welt. Varoufakis sucht immer wieder den Blick Dehms, aber trifft ihn selten im übermüdeten nach unten auf die helle Resopaltischplatte schauenden Gesicht.
Dieser Yanis Varoufakis sprüht vor Energie. Er lächelt, er spielt mit den Zuschauern, sein Englisch ist so gewählt, das man es noch mit Realschulbildung halbwegs verstehen kann. In Hannover hatte man noch simultan gedolmetscht. Hier lässt man es ganz bleiben. „Wer einen englischen Popsong versteht, versteht auch diese Rede“, erklärt Dehm. Das Publikum grinst sich einen ob dieser versehentlichen Doppeldeutigkeit. Halb Männlein, halb Weiblein, wo sonst die alten weißen Männer in der Mehrheit sind. Anziehungskräfte, die man natürlich nicht zugeben will, aber die rüstige 55-Jährige kann sich, darauf angesprochen, dann doch ein verräterisches Lächeln nicht verkneifen. Che Guevara tot, Castro steinalt. Und Varoufakis in Topform. Muss man also mal gesehen haben, wenn der schon nach Braunschweig kommt.
Der im März 55 Jahre alt Gewordene beginnt mit der Beziehung zwischen Deutschen und Griechen. Er erzählt von seiner Kindheit, als es ihm seine Großeltern und Eltern verboten, die Deutsche Welle zu hören. Und wie sich das griechisch-deutsche Verhältnis dann doch immer weiter entspannt hätte in den folgenden Nachkriegsjahrzehnten. So leitet er dann fließend über zur Finanzkrise. Seinem Masterthema: Der griechische Bankrott. Damals forderte die deutsche Linke Solidarität mit Griechenland, heute bringe er den Deutschen die Solidarität der griechischen Linken schmunzelt Varoufakis. „This crisis is a crisis of europe“ wird sein Credo des Abends. Es gäbe keine Griechenland-, keine Portugal-, keine Spanien- keine sonst was -krise, Europa stehe insgesamt auf dem Prüfstein. In der Finanzkrise wäre die „brave new world collapsed“. Was Dehm Hölle nannte, ist für den Griechen sein „Armageddon“. Man lässt kein Düstersuperlativ aus. Dieser Bruce Willis für Linksintellektuelle streut sogar Witze ein. Und die funktionieren gut in diesem sympathischen Varoufakis-Englisch: Der Grieche beschuldigt den Türken, der Portugiese den Spanier, der Ire den Engländer usw. Seine Pointe: … and the German blames the German.
Der Himmel ist in Panama
Ein Schenkelklopfer. Aber hier erzählt keiner, weil er auf den großen Bühnen nichts mehr zu erzählen hätte. Im Gegenteil: „The Times Europe“ taxiert seinen Marktwert mittlerweile auf 40.000 Euro pro Auftritt. Und man will sogar herausgefunden haben, dass er seine Einahmen bei Offshore-Banken vergräbt: „ …seeking payment via an HSBC bank account in Oman“.
Gut, das könnte noch peinlich werden. Ist aber heute in Braunschweig noch kein Thema. Hier ist die deutsche Linke unter sich mit einem Star der europäischen Linken. Sogar Dehm benutzt den Begriff „Star“, fügt aber an, er wisse einfach nicht, wie man ihn sonst bezeichnen sollte.
Nein, es geht Varoufakis auf dieser Tournee durch Europa nicht um persönliche Bereicherung. Er ist unterwegs für das von ihm mitgegründete „Democracy in Europe Movement 2025“, kurz: DieM25. Und es ist wohl wie immer, wenn sich Linke organisieren. Alles ein bisschen unübersichtlich. Wenig werblich, schwer fassbar. So viele Strömungen und Forderungen und unterschiedliche europäische linke Haltungen sind schwer unter einen gemeinsamen Hut zu bekommen. Und damit wären wir bereits mitten im Vortrag des Griechen angekommen: Die Deutschen waren doch so glücklich, als Griechenland „Ja“ zum Euro sagte, weiß er. Sie exportierten Autos und sie exportierten das Geld, diese Autos zu kaufen. Es verdienten die deutsche Industrie und die deutschen Banken. Und der Grieche war glücklich, nicht nur den Porsche zu bekommen, sondern auch noch das Geld, ihn zu bezahlen. Nun seien aber die Exportüberschüsse des einen die Schulden des anderen. Damit wäre die Tragödie eingeleitet. Das ist natürlich eine Binsenweisheit. Oder soll man es nur als – na ja: – banale Anregung verstehen weiterzudenken?
Varoufakis möchte mit DieM25 nicht weniger erreichen, als den demokratischen Aufstand der Völker. Es dürfe nicht sein, dass Wahlen in Europa nichts mehr verändern könnten. Was wir jetzt nötig haben, sei eine pan-europäische Bewegung. Und das müsse schnell gehen. Die rechten Kräfte hätten sich in der Krise erschreckend schnell aufgestellt. Und noch alarmierender: Die Linke ist 1930 viel stärker gewesen und trotzdem sei der Horror passiert. Sein Aufruf an die europäische Linke: „We must cross borders!“. Das Manifest der neuen DieM25-Bewegung trägt den Titel: „Die EU wird demokratisiert, oder sie wird zerfallen.“
Allenfalls irritierend ist Varoufakis ausgeprägte Bewunderung des US-amerikanischen Krisenmanagements des 20. und 21. Jahrhunderts. Er ist nicht nur voller Lob für Roosevelts New-Deal-Politik. Er bewundert ebenfalls den Pragmatismus der USA im Umgang mit der Finanzkrise: Das kennt man bei der Linken in Deutschland so nicht. Die US-Regierung hätte die Pleite-Banken übernommen, saniert und sich dann das Geld wieder zurückgeholt. Auch bei der Rettung von General Motors wäre man auf diese Weise vorbildlich damit umgegangen. Den Betrieb erhalten, aber die Führungskräfte zum Mond schießen. Die Europäer hingegen würden retten und die Verantwortlichen am Leben lassen. Das sei „the madness of what’s going on in europe!“
Putzfrauen und Sparkassen
Nein, heute möchte Dieter Dehm der Radikalere des Abends sein. Die Deutsche Bank, „diese Finanziers von Auschwitz“ hätte man in eine Sparkasse umwandeln müssen. Und Dehm verweist auf Artikel 14 (2) des Grundgesetzes, der besagt: „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.“ Dehm und Varoufakis, die europäische Linke: nein, da passt längst noch nicht alles zusammen.
Interessant wird es noch einmal, als die Fragestunde eröffnet wird. Varoufakis nimmt sich die Zeit. Wortgewandt, selbstsicher. Aber zunächst auch auffällig lässig. Sichtbar angespannter wird er erst, als ein griechischer Landsmann ans Mikrofon und den Ex-Finanzminister seines Landes aufgeregt fragt, was er denn nun überhaupt erreicht hätte, außer die viel zitierten Putzfrauen wieder in Arbeit zu bringen. 15-20 Minuten lang dauert die Antwort auf Englisch. Als Dehm wie zuvor schon zu einer umständlichen mit vielen Dehm-Verweisen gespickten Zusammenfassung in deutscher Sprache ansetzen will, winkt Varouvakis lächelnd ab, das sei etwas zwischen zwei Griechen. Lachen im Saal. Aber die meisten haben sowieso verstanden, was Varoufakis auf englisch zu seiner Verteidigung angebracht hatte: Er hatte erinnert an die „300.000 Prepaid-Cards for Food“. Als Finanzminister hätte er armen griechischen Familien Gratis-Bankkarten mit einer bestimmten Summe ausgehändigt, mit der sie Essen für sich und die Kinder und Strom bezahlen konnten. Das ist es also, was der Grieche von seiner Arbeit bei Landsleuten in Erinnerung behalten haben möchte. Platz für Emotionalität, als Yanis Varouvakis von dem sieben- oder achtjährigen Jungen erzählt, den er traf und der den Umstehenden stolz erklärt hätte: „This ist the guy that gave our mother this card.“
Anhaltender Applaus zum Schluss. Eine junge Blonde ist als erstes auf dem Podest, um ihr Selfie mit dem Griechen abzuholen. Weitere linke Smartphones folgen. Aber keiner will zu Dieter. Dafür organisiert der Altlinke nach wenigen Minuten das Tohuwabohu und spielt den Fotografen für den Selfie-Sturm über Varouvakis. Handy für Handy wird ihm angereicht. Bild für Bild. Ja, Dehm ist alt geworden. Und man sieht es. Aber dieser agile Yanis wird auch älter. Irgendwann. Und es steht in den Sternen, ob die Welt dann eine bessere geworden ist. Und dass die Linke selbst noch tapfer daran glauben will, dafür sorgen immer mal wieder für ein paar Stunden die Heros der Bewegung. Denn ohne charismatische Galionsfiguren geht es auch bei der Linken nicht.
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