Deutsche und Türken

In den 1990er Jahren, nach dem Fall der Mauer, gab es einen schleichenden, nicht reparierten Bruch in der Entwicklung des Verhältnisses zwischen Deutschen und Türken.

Als die ersten Trabbis kamen und dann immer mehr, standen wir staunend am Bürgersteig. Gemeinsam mit unseren türkischstämmigen Nachbarn, dem Gemüsehändler, dem Imbissbetreiber, dem Sozialhilfeempfänger und dem VW-Arbeiter. Selten noch war das Verbundenheitsgefühl so groß wie damals. Da kamen Fremde. Und es fühlte sich so an.

Privater Umgang zwischen Deutschen und Türken blieb aber dennoch selten. Er kam nur vor, wenn Kinder zusammen aufgewachsen waren, Tür an Tür. So eine Freundschaft hielt dann länger. Insgesamt kann man sagen: man hatte sich aneinander gewöhnt. Hier ein freundliches Wort auf der Straße, dort mal eine gegenseitige Hilfestellung, wenn’s irgendwo hakte. Das mag in Braunschweig noch einfacher gewesen sein als in größeren Städten. Ghettobildung ist in der Provinz  schwieriger, es fehlen einfach die ganz großen billigen Wohnviertel.

Als Kinder fuhren wir mit meinen Eltern auf Rundreise durch die Türkei. Individualtourismus würde man heute sagen. Einen Tag Badeurlaub, den anderen irgendeine eine Ausgrabung besichtigen, der Vater war archäologisch interessiert. Troja, Aspendos, Ephesus. In Ephesus wird heute immer noch gebuddelt und Neues entdeckt. Gerade erst schickten die Türken wegen diplomatischer Spannungen ein paar österreichische Archäologen nach Hause, von dort, wo Archäologen aus Österreich seit fast einhundert Jahren graben.

Wir waren 1970 und 1974 dort. Und wir fuhren mit deutschem Kennzeichen. Eines ist mir besonders in Erinnerung: Eine umfassende und herzliche Freundlichkeit, eine Zuneigung, wie man sie wohl damals als Deutscher in keinem anderen Land erleben konnte. Der Grund ganz einfach: Deutschland war das Land der Träume für viele dieser Menschen. Die, die schon da waren, erzählten in gebrochenem Deutsch von ihren Erlebnissen. Und wenn einer ein paar Jahre in Hamburg war, dann war Braunschweig eben gleich nebenan.

Immer wieder mussten wir irgendwo halten, einen Tee trinken und noch einen. Als das Auto kaputt ging, wurden wir in die Werkstatt gezogen, privat untergebracht, Hotel wäre eine Beleidigung gewesen, und die türkischen Mechaniker wehrten sich anschließend mit Händen und Füßen gegen jede Bezahlung. Vater musste alle Schlauheit anwenden, um diese Schuld irgendwie doch zu begleichen. Dann war es eben kein Geld, sondern der transportable große Weltempfänger, der dort blieb. Ein Gegengeschenk.

Als die Trabbis kamen

Aber noch mal zurück zu den Trabbis. Da stand man also gemeinsam und staunte über die Karawane. Wir waren wir und die, die dort kamen, waren Fremde. Instinktiv wussten wir, etwas wird sich verändern und nie mehr so sein, wie zuvor. Die BRD-Blase war zwar nicht mit einem Knall, aber mit einem vernehmlichen Klopfen der Zweitaktmotoren geplatzt.

Ich glaube heute sogar, die Türkischstämmigen haben sich mehr gefürchtet. Sie hatten Sorge um ihren angestammten Platz an unserer Seite. Der eine oder andere sicher auch um seine staatliche Unterstützung, aber das ging den Deutschstämmigen nicht anders. Und die Sorge war berechtigt: Nicht nur die Zonenrandförderung für grenznahe Gemeinden wie Braunschweig brach weg, Schröders Agenda 2010 entsorgte den Rest dieser BRD-deutschen – heute anachronistischen – Behaglichkeit. Die Folge war auch eine schleichende Ernüchterung im Verhältnis zu den türkischstämmigen Mitbürgern und umgekehrt.

Sagen türkische Verbände
Die Presse aus Wien: "Viele Türken würden für Geld gehen"
Wurde es zuvor von den Türken selbst noch als nicht schlimm bis normal empfunden, dass der türkischstämmige Bürger, was Wohlstand und Arbeit anging auch in zweiter oder gar dritter Generation noch nicht den bundesdeutschen Durchschnitt erreicht hatte, stieß das nun unangenehm auf. Die Deutschen aus der ehemaligen DDR bekamen nicht nur ihr Aluminiumgeld in harte Währung umgetauscht. Die Renten und Löhne der ehemaligen DDR-Bürger bewegten sich im rasanten Tempo aufeinander zu, wo die türkischen Gastarbeiter der ersten Stunde besonders als billige Arbeitskräfte geschätzt waren, ohne dass sich irgendwer darüber empört hätte, dass das Gefälle zwischen türkischen und deutschen Kollegen teilweise noch größer war als zwischen Mann und Frau.

In einem Faltblatt der Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung aus dem Jahr 1963 stand zu lesen: „Sie haben sich entschlossen, in der Bundesrepublik Deutschland zu arbeiten. Fleißige Leute sind in der Bundesrepublik Deutschland gut angesehen. Die Bundesrepublik Deutschland entbietet Ihnen, die Sie fleißige Leute sind, ein herzliches Willkommen und versichert Ihnen, dass Sie sich auf unsere Gastfreundschaft verlassen können.“ Allerdings darf man auch nicht vergessen: Die Initiative zum Anwerbeabkommen türkischer Arbeitskräfte zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Türkei von 1961 ging von der Türkei aus.

Der ehemalige Innenminister Otto Schily sagte 2007: „… weil Integration, davon bin ich fest überzeugt, nur gelingen kann, wenn den Bürgerinnen und Bürgern ausländischer Herkunft über den Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit die gleichberechtigte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben in Deutschland ermöglicht wird.“ Die Kurden hatten damals schon eine Sonderrolle gegenüber den Türken ohne kurdische Wurzeln: Sie konnten in Deutschland einen Asylantrag stellen.

Erdogan nutzt die Türkischstämmigen aus

Das also ein Streiflicht auf die Vorgeschichte des Verhältnisses zwischen den Deutschen und ihren türkischstämmigen Mitbürgern. Nun lesen sich die Zahlen von heute tatsächlich wenig hoffnungsvoll. Erdogan schreit zwar nicht „Heim ins Reich“, aber seine Zwangsumarmung der türkischen Community trifft Menschen, die auch 60 Jahre nach Beginn der Anwerbung noch weit unterhalb des deutschen Durchschnitts leben, was Wohlstand und vor allem Bildung angeht. Solche Fakten erschrecken auch deshalb, weil man sie im Alltag ja nur individuell wahrnimmt: „Unter den heute 17- bis 45-Jährigen mit türkischen Wurzeln haben 40 Prozent höchstens die Hauptschule abgeschlossen; 51 Prozent haben nach der Schulzeit keinen Berufsabschluss erreicht.“ Noch erschreckender: Die  negativen Ergebnisse des umstrittenen aktuellen Armutsberichtes basieren auch auf genau diesem Missstand.

Dietrich Creutzburg schrieb im Juni 2016 für die FAZ: „Beim näheren Blick zeigt sich, dass die Kluft zwischen Arm und Reich nicht nur ein Gegensatz zwischen unten und oben ist, sondern auch einer zwischen Menschen mit und ohne Migrationshintergrund.“ Und der Autor fragte: „Türkische Migranten in Deutschland. Arm, aber zufrieden?“ Die Antwort fällt heute leider ganz anders aus, als noch in den 1970er Jahren: „Die Türken in Deutschland sind öfter arm, krank und unzufrieden“. Mehr als ein Drittel lebt unter der Armutsgrenze. Auch fühlen sie sich so stark diskriminiert wie keine andere große Migrantengruppe.

Klar ist auch, was sich hier gedreht hat: Die erste Einwanderungsgeneration verglich ihre Lebensumstände nicht zuerst mit denen in Deutschland, sondern mit denen in ihrem Herkunftsland. Die nachfolgenden Generationen kennen die Heimat nur aus dem Urlaub. Dennoch besitzen nicht wenige von Ihnen weiter die türkische Staatsbürgerschaft. Noch verhängnisvoller: Zwar haben sich mittlerweile 80 Prozent aller Migranten hierzulande auf ein dauerhaftes Leben in Deutschland eingestellt. Unter Menschen türkischer Herkunft, der größten Gruppe mit langer Geschichte in Deutschland, sind es immer noch deutlich weniger. Der Präsident der Türkei weiß das alles. Und er weiß es für sich zu nutzen: Er zeigt diesen Menschen die Wurzeln ihrer Vorfahren, freilich ohne dass diese in die Heimat ihrer Vorfahren zurückkehren sollten: „Da wo ihr arbeitet und lebt, ist nun eure Heimat. (…) Macht fünf Kinder, nicht drei, denn ihr seid Europas Zukunft“.

In den 1990er Jahren gab es einen schleichenden, nicht reparierten Bruch in der Entwicklung des Verhältnisses zwischen Deutschen und Türken. Eine langsame zwar, aber doch kontinuierliche Annäherung stoppte. Damals hatten wir wohl Wichtigeres zu tun. Die Wiedervereinigung musste vollzogen werden. Der bedrohliche Unterton Erdogans schlägt genau in diese Kerbe.

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Kommentare ( 140 )

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jossi
7 Jahre her

Was war es denn nun, was Sie verwirrte?
Daß Sie plötzlich zwei Trabbis auf einer Straße ausmachten…?
Oder, daß sie nebeneinander fuhren?
Sind Sie denn nun im Straßengraben gelandet?

„Nichts war mehr so, wie wir es kannten.“

Und verlassen Sie sich darauf: Für die Ossis war auch nichts mehr, so wie sie es kannten. – Und das ist es oft auch heute noch nicht.

Und was haben diese privaten Reminiszenzen mir der Integrationsunwilligkeit der Türken, als gesellschaftlichem Phänomen, zu tun?

Andrea Dickerson
7 Jahre her
Antworten an  jossi

Ich dachte eigentlich mich deutlich ausgedrückt zu haben. Herr Wallasch beschrieb die Verwirrung der Westler im Grenzgebiet, was jenen, die nicht täglich mit dem Umstand im Rücken konfrontiert wurden. wohl fremd war. Sie wuchsen nicht mit dem Zaun auf oder dem Umstand, Zonenrandgebiet zu sein. Es ist etwas anderes mitten im Westen als am Rande des Kommunismus zu leben. Viele Antworten stritten das ab, daß es nach der Grenzöffnung auch unschöne Szenen gegeben hat, gegenüber unseren östlichen Brüdern und Schwestern, weil man im Zonenrandgebiet eben etwas „beschränkt“ war. Mit den Türken hat das insofern zu tun, als nun Konkurrenz kam,… Mehr

Verena Schwarzenbach
7 Jahre her

Der Text gibt ja durchaus korrekt wieder, was viele Nachkriegswestdeutsche damals, 1989/90, so empfunden haben – ich würde mich da durchaus einschließen. Allerdings sehe ich die (auch meine eigene) Reaktion auf die Vereinigung der beiden deutschen Staaten damals von heute aus als Versäumnis und als blinden Fleck; das war das Resultat einer ganz spezifischen westdeutschen und westberliner Wahrnehmung, die schon recht verzerrt war. Von heute aus wirkt diese Sicht aber schräg, ebenso schräg wie die oft wiederholten und dadurch nicht überzeugenderen „Argumente“; denen zufolge die Migranten das zerstörte Deutschland (mit) aufgebaut haben und die Kriegsflüchtlinge und (illegalen) Einwanderer der Jahre… Mehr

Michael M.
7 Jahre her

Wenn ich den text richtig verstanden habe, dann sind wir ossis, in form der wende, weniger als auslöser, sondern viel mehr als augenöffner zu verstehen.

Letzten endes gehts um eine simple neid- diskussion.
Faulheit („„Unter den heute 17- bis 45-Jährigen mit türkischen Wurzeln haben 40 Prozent höchstens die Hauptschule abgeschlossen; 51 Prozent haben nach der Schulzeit keinen Berufsabschluss erreicht.““) funktioniert halt nicht mehr.

obo68
7 Jahre her

Ich finde das eine gute Idee!
Bitte schreiben Sie doch mal so einen Text. Ich könnte mir vorstellen, das er auch auf TE veröffentlicht wird.
Wäre eine spannende Diskussion!

Luisa
7 Jahre her

Ich fand dies Unwort auch arrogant und bin froh, sagen zu können, dass dieses Wort nie gebraucht habe. Danke für Ihre Einstellung.

Luisa
7 Jahre her

Für mich ist die Hatz aufeinander der sichere Beweis, dass das Chaos gewollt ist. Eine NWO soll’s dann richten. Der „arme David Rocke“ ist übrigens gestern im Alter von 101 Jahren verstorben – nach einem langen glücklichen Leben, wie er gesagt haben soll.
Sind Sie fertig mit der Absicherung Ihres Grundstückes? Gruß

hasenfurz
7 Jahre her
Antworten an  Luisa

Seit vorgestern ist die Welt ein besserer Ort, sage ich dazu. Hat wohl noch nicht so ganz geklappt, mit dem Transhumanismus! Aus einer Website dazu: „David Rockefeller bricht im Alter von 101 Jahren Rekord für die meisten Herztransplantationen“ „Der Rockefeller-Familienpatriarch weigert sich, der Natur ihren Lauf zu lassen und hat sich stattdessen im Alter von 101 Jahren für eine weitere Herztransplantation entschieden, wodurch er Berichten zufolge offiziell den Rekord für mehr Herztansplantationen als jeder ander Mensch, der jemals gelebt hat, aufgestellt hat. Die International Society for Heart and Lung Transplantation erklärt, dass Patienten 70 Jahre oder jünger sein sollten, um… Mehr

Luisa
7 Jahre her
Antworten an  hasenfurz

Danke für Ihre freundliche Antwort. Es scheint also doch eine höhere Macht über den selbst ernannten „Göttern“ zu geben. Viele vergessen, dass sie nackt gekommen und nackt wieder gehen müssen, dass sie nur Gast in dieser Welt sind. „Achtet auf die falschen Propheten“. Und um diese Hybrioten zu erkennen, fällt nun wirklich nicht schwer. Allzu transparent agieren die Trilateralen, woran man erkennt, für wie blöd sie uns halten. Einstein hatte recht – Dummheit hat wohl das ganze Universum gepachtet. Schade, dass viele mit der Freiheit und ihrem Verstand nichts anfangen können. Erst wenn die Zensur regiert, weiß man was man… Mehr

Luisa
7 Jahre her

Ich verstehe Ihre berechtigte Aufregung. Aber bitte denken Sie daran, dass die Mehrheit weiß, wie schwer Sie es anfangs hatten.

Luisa
7 Jahre her

Muss man jetzt wohl so sehen. Für wie dumm wollen diese Osmanen uns den noch verkaufen. Und zwar alle Deutsche? Um so klarer stellt sich heraus, dass unsere Regentin, die die Richtlinien bestimmt, uns weder beschützt noch uns „dient“.

Reinhard Peda
7 Jahre her
Antworten an  Luisa

Vor unserer Regentin und sonstigen politischen Entscheidern in der Welt, sind die Völker der Welt nur geschützt, durch Einführung der direkten Demokratie! Das wird Herrschaftsgelüsten und sonstigen Entscheidungen zum Nachteil der Völker, durch politische und sonstige Entscheider, einen Riegel vorschieben.

Den Islamgläubigen in der Welt, wird die direkte Demokratie nicht Helfen, sich aus ihrem Glaubensgefängnis zu befreien. Nur geht das mich nix an, die müssen Selbst damit Klarkommen.

Für fast alle anderen gilt, das der mörderische Wettbewerb zwischen den Staaten, bei klugem Vorgehen, beendigt wird. Dies zum Vorteil aller daran beteiligten Menschen.

Aegnor
7 Jahre her

Also zum Einen wollten „wir“ damals überhaupt keine Türken, weil man schon damals die kulturelle Distanz als zu groß betrachtete. Und dabei ging es in der Tat nur um temporäre, industrielle Hilfskräfte und nicht um Vertreter der Intelligenz. Die gebildete, kemalistische Elite (die sogen. „weißen Türken“) wollte/sollte überhaupt nicht nach Deutschland. Das Anwerbeabkommen ging zudem, wie im Artikel erwähnt, von der Türkei aus, welche überzählige Arbeitslose loswerden wollte und gleichzeitig westliche Devisen brauchte. Die türkische Regierung setzte dann die USA unter Druck, im Wissen um ihre strategische Bedeutung im kalten Krieg, woraufhin die USA die unwillige Bundesregierung „überzeugte“. Zum Anderen… Mehr

Luisa
7 Jahre her

So und nicht anders sehe ich das auch.