Viktor Orbán im TE-Interview: Wir brauchen eine europäische Armee

Anlässlich seines Besuchs in Berlin führte Tichys Einblick mit dem ungarischen Ministerpräsident Viktor Orbán ein Interview. Themen waren die aktuelle Wirtschaftskrise, Europa und der Ukraine-Konflikt. Unter anderem fordert Orbán eine europäische Armee.

Foto: Tichys Einblick
Viktor Orbán und Roland Tichy, vorne: Klaus-Rüdiger Mai

Viktor Orbán hat bei seinem Besuch in Berlin im Interview mit „Tichys Einblick“ über die europäische Sicherheitsordnung, den Ukraine-Konflikt sowie die EU-Außenpolitik und Innenpolitik Ungarns gesprochen. Nachfolgend präsentieren wir Auszüge. Das komplette Gespräch finden Sie in der kommenden November-Ausgabe des Monatsmagazins „Tichys Einblick“.

Tichys Einblick: Herr Ministerpräsident, während Ihres Besuchs in Deutschland haben Sie sich mit Kanzler Scholz getroffen, aber auch mit Armin Laschet, Angela Merkel und Gerhard Schröder. Gute Gespräche mit alten Weggefährten?

Viktor Orbán: Die Gespräche waren sehr produktiv. Von Laschet wollte ich seine Meinung als christlicher Konservativer hören. Angela Merkel und Gerhard Schröder sind erfahrene Politiker und Kanzler, die mir wertvolle Erfahrungen und Ratschläge geben konnten.

Zum Gespräch mit Kanzler Scholz kann ich Ihnen leider wenig sagen. Auch wenn es ungewöhnlich ist, hat der Kanzler entschieden, dass es keine Pressekonferenz geben wird. Als Gast möchte ich da seinem Wunsch folgen. Es war aber ein produktives Gespräch und Kanzler Scholz ist ein angenehmer Gesprächspartner: geradlinig und auf einer Ebene mit dem Gegenüber. Man kann mit ihm reden, er hat keine Tabus und er sagt, wie er die Sachen sieht. Mit ihm zu reden, ist wie mit einem Ungarn zu reden. In vielen Fragen haben wir unterschiedliche Positionen, aber in strategischen Fragen sind wir uns nahe.

Kontroversen in welchen strategischen Fragen?

Orbán nach dem Spitzentreffen des EU-Rates:
"Über die Erziehung der ungarischen Kinder dürfen nur die Ungarn entscheiden"
Meiner Meinung nach ist die wichtigste strategische Frage heute, wie man die Desintegration der Europäischen Union aufhalten kann. Es ist besser, die Union zu haben, als sie nicht zu haben, und deswegen versuchen wir dieser Desintegration entgegenzuwirken. Davon unabhängig gibt es viele Positionen, in denen sich Deutschland und Ungarn nicht einig sind. Dazu gehören das europäische föderale Wesen, die Außenpolitik und die globale Mindestbesteuerung.

Woran machen Sie die Desintegration Europas fest?

Der Austritt des Vereinigten Königreichs brachte die europäische Politik ins Wanken. Die Briten standen mit Mitteleuropa für ein Europa der Vaterländer, die, wo es geht, national agieren und bestimmte Dinge gemeinschaftlich regeln. Dagegen stehen Frankreich und Deutschland, die eine „ever closer union“, eine immer engere europäische Föderation anstreben. Waren beide Lager vorher im Gleichgewicht, hat nun das Lager der Föderalisten Oberhand gewonnen. Das führt zum Rechtsstaatlichkeitsmechanismus, dem Konditionalitätsverfahren, die die Verteilung von EU-Geldern regeln und Ungarn und Polen ausschließen. Die Briten hätten nie akzeptiert, dass der Europäische Gerichtshof den britischen Obersten Richtern sagt, was Recht ist. Gegen diese Überordnung des EU-Rechts in praktisch allen Fragen wehren wir uns vehement.

Mit Italien hat nun in einem weiteren Land eine konservative Strömung die Regierung erreicht. Im vergangenen Sommer bezeichneten Sie diese Möglichkeit eines Sieges von Georgia Meloni als Gamechanger. Bewahrheitet sich dies nun?

Balkanroute
Wie in Moria: Serbien wird zum Brennpunkt der Migration
Die Tür steht jetzt offen. Es kann sein, dass sich die politische Lage in Europa nun grundlegend ändert, aber Italien hat es nicht leicht. Brüssel hat einen sehr großen Einfluss auf das Land und auf die Regierung. Sie haben die Mittel, um Rom ihren Willen aufzuzwingen. Aber die neue Regierung möchte nationale Interessen vertreten, ist gegen Migration und für die traditionelle Familie. Ob sie schlussendlich für ihre Meinung kämpfen werden, weiß ich nicht. Aber die Tür steht offen. Denn gerade in Verbindung mit den Wahlen in Schweden muss das liberale, föderale, progressive Lager erkennen, dass sie keine Hegemonie innehaben.

Im Ukraine-Konflikt zeigen sich Risse im politischen Block der Visegrád-Staaten. Sie sagen, das liegt an unterschiedlichen geopolitischen Interessen. Wie unterscheiden sie sich?

Die Tschechen, die Slowaken und auch die Polen, sie sind für den Krieg. Sie sagen offen, dass es für sie nicht genug ist, dass die Ukraine den Krieg gewinnt. Sie wollen, dass Putin versagt, dass Russland den Krieg verliert. Ungarn hingegen gehört dem Friedenslager an.

Das ist ein schwächeres Lager. Zu ihm gehören der Papst, Kissinger, Habermas. Einige amerikanische Republikaner und Elon Musk. Und eben Ungarn. Wir möchten keinen Krieg. Wir wollen eine sofortige Feuerpause und Verhandlungen. Denn tausend Stunden Verhandlung sind besser als eine einzige Kugel. Sie müssen verstehen: Für viele ist dieser Konflikt weit weg. Selbst für Deutschland. Wir aber sind der direkte Nachbar. Es leben gut 200.000 Ungarn in der Ukraine, oft mit doppelter Staatsbürgerschaft. Es sind schon 200 von ihnen gestorben, viele von ihnen im Kampf gefallen, denn auch sie werden eingezogen.

In Ungarn sind wir nah am Krieg, und daher interessierter an einem sofortigen Waffenstillstand als andere. Wenn wir nicht zeitnah eine Feuerpause erreichen, befürchte ich eine weitere Eskalation des Konflikts.

Sie bezeichnen sich vielleicht nicht gerne so, aber Sie sind doch Europas wichtigster Kremlologe. Einst haben Sie selbst, als Student, gefordert: „Die Russen müssen raus aus Ungarn.“ Was nun also?

Uns Ungarn braucht man nichts von der Brutalität der russischen Armee erzählen. Diese konnten wir mehr als jedes andere Land der Union erst 1956 erleben. Unser Selenskyj wurde damals gehängt, hingerichtet. Wir wissen, wie es ist, mit Russland im Krieg zu sein.

Doch darum geht es hier nicht, sondern wie man dem Krieg ein Ende bereiten kann. Die Russen müssen in ein Sicherheitssystem mit einbezogen werden und wir Europäer müssen mit am Tisch sitzen. Das wurde jetzt verunmöglicht. Merkel konnte diese Situation beherrschen. In der Krimkrise erklärte sie den Konflikt zu einem lokalen Konflikt und verhinderte so die internationale Eskalation.

Es braucht die Amerikaner nicht, wenn sich die Russen, Franzosen, Deutsche und Ukrainer an einen Tisch setzen. Doch wir haben ein Führungsproblem und eine schwache Außenpolitik und deshalb konnten wir den Ausbruch des Konflikts nicht verhindern. Wenn führende Politiker wie Scholz, Macron und Biden mit Innenpolitik beschäftigt sind, brauchen wir eine starke gemeinsame Außenpolitik. Aber wir haben keine europäische Armee, die wir bräuchten. Wir haben keine gemeinsame Verteidigungspolitik, keine Koordination in der Rüstung. Nicht einmal der Rat der Europäischen Außenminister ist bisher funktionsfähig. Wir müssen die Frage einer europäischen Armee erörtern.

Eine EU mit Armee ist aber ein ganz anderer Tenor als das Europa der Vaterländer, das sie eingangs angesprochen haben.

Es ist ein Fehler, die Frage des europäischen Föderalismus schwarz-weiß zu sehen. Es gibt Themen, bei denen sind die Nationalstaaten besser in der Führung. Und es gibt Themen, in denen wir nur als geeintes Europa relevant bleiben. Ein solches Thema ist die Verteidigung. Als Kontinentaleuropa müssten wir hier zusammenarbeiten, um unsere Interessen gemeinsam zu verteidigen und durchzusetzen.

Mit Viktor Orbán sprachen Roland Tichy und Klaus-Rüdiger Mai. Das Interview wurde sowohl auf Englisch als auch Ungarisch mit Simultanübersetzung geführt.

Anzeige

Unterstützung
oder

Kommentare ( 44 )

Liebe Leser!

Wir sind dankbar für Ihre Kommentare und schätzen Ihre aktive Beteiligung sehr. Ihre Zuschriften können auch als eigene Beiträge auf der Site erscheinen oder in unserer Monatszeitschrift „Tichys Einblick“.
Bitte entwerten Sie Ihre Argumente nicht durch Unterstellungen, Verunglimpfungen oder inakzeptable Worte und Links. Solche Texte schalten wir nicht frei. Ihre Kommentare werden moderiert, da die juristische Verantwortung bei TE liegt. Bitte verstehen Sie, dass die Moderation zwischen Mitternacht und morgens Pause macht und es, je nach Aufkommen, zu zeitlichen Verzögerungen kommen kann. Vielen Dank für Ihr Verständnis. Hinweis

44 Comments
neuste
älteste beste Bewertung
Inline Feedbacks
Alle Kommentare ansehen
Iso
2 Jahre her

Man muss sich nur anschauen, wie alle Vereinbarungen bei der Schaffung der Währung umgangen, gebrochen und geschliffen werden. Nichts anderes wäre es mit dieser europäischen Armee, die schließlich keinen Krieg gewinnen könnte. Da würde jeder jeden täuschen und am Ende ist es wie bei der Bundeswehr. Die hat für 5 Tage Munition und für 10 Tage Treibstoff. Genau das, was in deren Tankfahrzeugen ist. Gesellschaften sollten in der heutigen Zeit kooperieren, Gräben überwinden und auf Ausgleich setzen. Wer aber Feindbilder aufbaut, wie Russland, wie China, wird sich irgendwann mit ihnen im Krieg befinden. Das ist wie das Verhältnis zwischen Griechen… Mehr

Oneiroi
2 Jahre her

Na da ist es ja mal gelungen an einen richtig hochkarätigen Gast zu kommen…Glückwunsch. Mal schauen ob das als Video gibt…

doncorleone46
2 Jahre her

Eine europäische Armee in den Händen der Kommission halte ich für höchst gefährlich. Die sind nicht reif für so etwas. Dann geht es uns, wie auf dem Finanzsektor. Ich hoffe, dass die EU vor der Installation einer Armee zusammenbricht.

Timur Andre
2 Jahre her

Wo Euro draufsteht ist Frankreich der Gewinner, ob Währung oder Armee und Union. Durch unsere Politiker, sogar die mit Studiumabschluss haben wir nur drittklassige Vertreter, die im Wettbewerb hoffnungslos unterlegen sind.

Ralf Poehling
2 Jahre her

Zitat:“Europa braucht keine einheitliche Armee, Europa braucht viele gut gerüstete Armeen um sich zu verteidigen, darüber hinaus sollte die alte Strategie des Gewehrs hinter jedem Grashalm wieder propagiert werden, mit zumindest Infanterietraining für jeden physisch fähigen Erwachsenen Bürgers sowie deren Ausrüstung.“

Volltreffer. Der Trick liegt in der richtigen Organisationsstruktur. Die gute Verzahnung der Verteidigung ins gesamte Volk ist dabei entscheidend.

Ralf Poehling
2 Jahre her

Sie denken zentralisiert. Und damit kommen Sie nicht zum richtigen Schluss.
Die Wehrmacht war in den Anfangstagen des zweiten Weltkrieges eine dezentral operierendes Unternehmung und hat genau deswegen halb Europa in Tagen überrannt. Der Auftrag muss nur klar sein. Und das ist er.

Wolfgang M
2 Jahre her

Die EU müsste ähnlich wie die USA organisiert sein. Dort hat jeder Staat gewisse Freiheiten. Der eine hat die Todesstrafe, der andere nicht. Jeder Staat hat seine eigenen Abgasvorschriften. Über allem steht eine gemeinsame Regierung mit einem vom Volk gewählten Präsidenten. Natürliche habe die amerikanischen Staaten eine gemeinsame Armee. Sie haben eine gemeinsame Währung. Wer in den USA einen Verantwortlichen anrufen will, weiß, an wen er sich wenden kann. Anstatt die EU ständig zu vergrößern, hätte man sich erst um eine vernünftige Verfassung kümmern müssen. Bei so vielen Mitgliedern ist eine Verfassungsänderung schwierig.

Manfred_Hbg
2 Jahre her

Zitat 1: „ein Europa der Vaterländer, die, wo es geht, national agieren und bestimmte Dinge gemeinschaftlich regeln.“ > Fast genau auch meine Vorstellung. Denn gerade mit Blick auf die Außenpolitik und das es heute auch immer mehr einzelne kleinere Staaten gibt die sich zu irgendein Bündnis zusammenschließen, wird es bei z.Bsp. Probleme für einen einzelnen europäischen Staat immer schwerer oder gar unmöglich werden dagegenhalten zu können – – – – – – Zitat 2: „Dagegen stehen Frankreich und Deutschland, die eine „ever closer union“, eine immer engere europäische Föderation anstreben. “ > a) Dass sich mittlerweile seit etwa 20 bis… Mehr

Klaus D
2 Jahre her

Wir brauchen eine europäische Armee. So ist es denn dann wäre Putin nie auf die ide gekommen sich die krim zu nehmen geschweige denn die ukraine anzugreifen. Putin hat die schwäche der EU erkannt und konnte deswegen tun was er getan hat bzw tut.

Wolfgang Schuckmann
2 Jahre her

Wer hlaubt denn noch daran, dass die jemals verschwinden werden. Eher fällt dieser Kontinent in Schutt und Asche,
Keine Militärmacht hat je einen schlimmeren Trümmerhaufen zurückgelassen als unsere ‚Befreier‘.
Ich denke ewig an die Worte meines Onkels, der berichtete, dass die Briten Plakate auf ihre Panzer montiert hatten, worauf gestanden haben soll:. Wir kommen nicht als Befreier, wir kommen als Sieger.