Die Masseneinwanderung verwickelt das Land in eine unendliche Rettungsaktion, die alle Kräfte in Anspruch nimmt und für Jahrzehnte auf eine lähmende, deprimierende Hängepartie festlegt. Der Migrationstheologie scheint diese Lähmung ganz recht zu sein.
Eine Szene aus dem Berliner Stadtbezirk Reinickendorf: Vor einer Schule demonstrieren Eltern, Lehrkräfte und Schüler gegen die Beschlagnahme ihrer Turnhalle zur Unterbringung von Flüchtlingen. Und es gibt eine Gegendemonstration. Sie wird von den Kirchen und von einem moslemischen Verband organisiert. Eine denkwürdige Gegenüberstellung: Die Kirche gegen die Schule, gegen die Res publica. Im Namen christlicher Werte sollen die säkularen Bildungsgüter, das Erbe der Aufklärung, zweitrangig werden. Im Zweifelsfall werden sie beschlagnahmt. Das alles geschieht unter Berufung auf die Migrationswelle. Im „Flüchtling“ hat die Theologie eine Figur gefunden, mit der sie die Bürger unter Druck setzen kann. Wir hatten schon einmal eine „Befreiungstheologie“, die sich als Triebkraft einer sozialistischen Weltrevolution verstand. Nun bekommen wir eine Migrationstheologie, die eine nicht weniger radikale Weltveränderung betreibt.
Der Riss geht auch mitten durch die Kirchengemeinden. Es hat an diesem Weihnachten 2015 viele Menschen gegeben, die mit erheblichen Bauchschmerzen in ihre Kirche gegangen sind. Sie waren zwischen zwei Dingen hin und her gerissen: Auf der einen Seite war da die religiöse Erwartung, im Licht des Weihnachts-Ereignisses die Anwesenheit Gottes zu spüren und die Worte, Lieder und Bilder wiederzufinden, die seiner Größe Ausdruck geben. Auf der anderen Seite mussten sie damit rechnen, dass in den Predigten das Weihnachtsereignis benutzt wird, um für noch mehr Aufnahmeopfer zu werben. Tatsächlich war in zahlreichen Predigten die Formel zu hören, dass Maria, Josef und Jesus „Flüchtlinge“ gewesen seien und deshalb auch die heutigen Migranten in einem gleichsam überirdischen Licht stehen. Wer dies anders sieht, musste an diesem Heiligen Abend 2015 damit rechnen, als unchristlich aus seiner Kirche ausgebürgert zu werden. Nein, das ist nicht nur ein politischer Streit, der von außen in die Kirchen dringt. Vielmehr stehen sich hier unterschiedliche religiöse Grundideen gegenüber.
Die Mystik des „fremden Menschen“
Es gibt schon seit längerer Zeit vielfältige Äußerungen aus Kirchenkreisen, die nicht nur für einen freundlichen Empfang der Migranten plädieren, sondern die Migranten zu exemplarischen Repräsentanten des christlichen Menschenbildes erklären. Schon vor einem Jahr bezeichnete der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Kardinal Marx, das Weihnachtsereignis als eine „Revolution ohne Vergleich“. Dadurch, dass Gott Mensch werde, sei die „Anerkennung des anderen“ begründet (vgl. FAZ 27.12.2014). Auch in der Evangelischen Kirche Deutschlands gibt es diese gläubige Verehrung des Migranten, der ihr als „Flüchtling“ ein Sinnbild des Bedürftigen ist, und der zugleich als wandernder „Fremder“ etwas mystisch Großes hat und über den Niederungen irdischer Sesshaftigkeit schwebt. Annette Kurschuss, Präses der Evangelischen Kirche von Westfalen und Herausgeberin der Zeitschrift „chrismon“ schreibt: „Wir dürfen vor der Fremdheit nicht davonlaufen…Nicht vor ihrem Anderssein und nicht vor unserem Nicht-Verstehen. Uns befremden lassen: Das wär´s.“
Das Wortgeschraube um die „Fremdheit“ befasst sich nicht mit den realen Migranten. Sie verkennt, dass der größte Teil von denen, die sich bis nach Deutschland durchschlagen, nicht unmittelbar aus Kriegsnöten fliehen, sondern zu einem Ort weiterwandern, von dem sie sich bessere Lebensbedingungen versprechen. Um den Migrationsschritt nach Deutschland zu tun, haben sie eine Abwägung gemacht und die Hoffnung auf ihr Land aufgegeben. Das kann man, angesichts der schwierigen Situation in Syrien, im Irak oder in Afghanistan verstehen – aber es handelt sich weder um eine absolute Notlage, noch ist diese Migrationsentscheidung ein Weg zur Lösung der Probleme.
Es hat auch nichts gemein mit der Rückkehr von Maria und Josef an ihren Geburtsort in Galilea, und mit der Geburt von Jesus in Betlehem, die zur Weihnachtsgeschichte wurde. Welche Vermessenheit, in alles menschliche Migrieren diese Geschichte der stillen und heiligen Nacht hineinzulesen. Die theologische Überhöhung der Migration hat mit der Weihnachtsbotschaft nichts zu tun. Besagt diese doch gerade die Zuwendung Gottes zu einem bestimmten Ort, zum irdischen Dasein überhaupt. Sie sagt den Menschen, dass dies Dasein wertvoll ist und nicht nur ein Provisorium. Dass sie daher den Ort, an den sie gestellt sind, annehmen sollen und nicht nur auf der Erdoberfläche umherirren sollen.
Bei „fremd“ sollte man nicht gleich an „böse“ oder „feindlich“ denken. Aber es ist eine sehr abstrakte, leere Bestimmung des Menschen. Der Kult der Fremdheit interessiert sich erstaunlich wenig für die sozialen Merkmale der ins Land Kommenden, weder für ihre wirkliche Zahl noch für die verschiedenen Milieus. Die auffällig große Gruppe der jungen, alleinstehenden Männer, die (oft fehlenden) Bildungs- und Arbeitserfahrungen, die (im Verhältnis dazu) sehr schnell erhobenen Versorgungsansprüche – bei alledem will man sich nicht länger aufhalten. Auch bei den Berichten über Gewalt in den Aufnahmeunterkünften will man nicht wirklich wissen, was da in den Tätern vorgeht. Es wird irgendwie unter „Sie sind ja arm und traumatisiert“ abgebucht. Im Grunde ist es egal. Die neue deutsche „Offenheit“ ist eine erstaunlich blinde Offenheit. Und dafür ist „der fremde Mensch“ das passende Blindwort.
Stattdessen findet eine theologische Projektion statt. Der Fremde wird in ein göttliches Licht gestellt. Er ist ein willkommenes Objekt für die Idee vom barmherzigen Gott. Es ist diese Idee, die im Fremden ihr passendes Gegenüber findet. Dessen Rolle beschränkt sich darauf, das Licht der Barmherzigkeit zurückzuspiegeln. Und hier kommt der helfende Mensch ins Spiel. Um seinen Akt des Helfens geht es. Dieser Moment der guten Tat ist wichtiger als das Ergebnis der Tat. Denn in diesem Moment wird das Licht der Barmherzigkeit zurückgespiegelt. Deshalb ist das Interesse an den Eigenschaften des Migranten so gering. Deshalb wird so hartnäckig und wider alle rechtliche und sozioökonomische Wahrheit am Oberbegriff „Flüchtling“ festgehalten. Dies Wort steht für den reinen, von allen eigenen Mitteln entblößten Menschen. Die Migranten sind als Gelegenheit für ein gutes, gottgefälliges Werk willkommen. Sie stehen letztlich nur am Wegesrand zu Gott. Der selbstlos helfende Mensch ist mehr mit sich selbst beschäftigt, als er zugeben will.
Doch die Migration kann in dieser dienenden Funktion mit beängstigender Unaufhaltsamkeit immer weiter wachsen. Am Wegesrand des guten Menschen zu Gott gibt es keine Obergrenze.
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