Warum die EU von Afghanistan lernen sollte

Das Projekt EU scheitert nicht an den Bevölkerungen und am Nationalismus, sondern an der Unfähigkeit der Eliten, die Menschen in das neue Zeitalter der Globalisierung und der Digitalisierung zu führen und dabei gleichzeitig die soziale Frage für die Abgehängten zu beantworten.

© Zh. Angelov/Hulton Archive/Getty Images
Circa 1975: Studentinnen der Polytechnischen Universität in Kabul

Afghanische Schriftsteller, die in den 80ern erfolglos gegen die kommunistische Herrschaft anschrieben und dies mit ihrem Leben bezahlten, kritisierten, dass im Kommunismus das Kollektiv auch mal weiß zu schwarz erklären könne, auch wenn weiß offensichtlich weiß war. Was sie allerdings beschrieben, war kein Merkmal des Kommunismus‘, sondern Eigenschaft jedes totalitären Systems. Es ist auch kein Merkmal einer Elitendiktatur, denn auch ein großes Kollektiv kann dem Einzelnen eine falsche Wirklichkeit aufdrücken. Dem Einzelnen bleiben dann genau drei Möglichkeiten: Widerstand, Wahnsinn oder stumme Wut.

Afghanistan in den 70ern war ein Land im Aufbruch in die Moderne. Die Monarchie war gerade abgeschafft worden im islamisch geprägten Land. Frauen liefen im Minirock über die schicken Flaniermeilen der Hauptstadt. Die Jugend traf sich in den Kinos und schaute freizügige Filme aus dem Westen. Frauen machten Karriere, wurden Richterinnen, Ärztinnen, Abgeordnete. Flughäfen wurden gebaut, eine landesweite Autobahn und selbst ein afghanisches Auto wurde konstruiert. Hippies strömten in das Land, beseelt von Abenteuer, Natur und freien Drogen. Fragte man damals einen jungen Afghanen, vielleicht noch frisch von der Uni aus den USA, Ägypten, der Sowjetunion oder Deutschland zurückgekehrt, er hätte gesagt, dass er im Paradies lebe und die goldene Zukunft auf ihn warte.

Das moderne Afghanistan scheiterte am Zwang

Ganz anders sah es der ältere Grundbesitzer auf dem Land. Die geöffneten Handelsgrenzen überschwemmten die Märkte mit sowjetischen und amerikanischen Produkten und Lebensmitteln. In den neuen Büros der Städte brauchte man studierte Leute, oder zumindest welche, die lesen und schreiben konnten. Für einen Analphabeten wie ihn war kein Platz mehr in der neuen Gesellschaft. Für seine Söhne auch nicht. Was ihm in der neuen Welt blieb, war sein privater Rückzugsraum, seine Familie, seine Kultur, seine Religion. Wenn er die Haustür hinter sich schloss, war die Welt wieder in Ordnung. Bis zum Tag, als die Männer aus der Stadt kamen, Vertreter der neuen Regierung und der neuen Zeit, und ihm erklärten, dass er seine Töchter auf die Schule schicken müsse, dass die Frauen das Recht hätten, sich zu kleiden, wie sie wollten, und dass der Dorfmullah auch nicht die Weisheit mit dem Löffel gefressen, geschweige denn je den Koran gelesen habe. In den Städten machte man sich über ihn lustig. Er konnte nicht mit einem Fernseher oder Radio umgehen, lief in Klamotten herum, die überhaupt nichts mit der neuesten europäischen Mode zu tun hatten und kannte weder die Beatles noch Dostojewski. Wenn die modernen Städter mit ihm redeten, dann lachten sie und redeten irgendwann mit ihm wie mit einem Kind.

Einst war er die geachtete Säule seines Dorfes. Die Jugend schaute zu ihm auf, er sorgte für seine Familie und beschützte die Frauen, nun war er nur noch ein hilfloses Relikt der Vergangenheit, das den Spott der Gegenwart zu ertragen hatte. Die Welt hatte sich verändert und nur eine Hölle hinterlassen. Er war in dieser Hölle aber nicht allein. Seinem Bruder ging es genauso, seinem Nachbarn, seinen Freunden, selbst seinen Feinden. Sie trafen sich Abends unter einem Baum, grillten und erzählten sich mit zunehmender Wut von den Demütigungen, die sie zu erleiden hatten. Die Welt hatte sich geändert, aber ihnen und ihren Kindern wurde nichts angeboten, um in der neuen Welt zurecht zu kommen. Stattdessen redeten die Vertreter der Regierung von Chancen, von Freiheit, von Zukunft.

Die Zukunft sah dann so aus, dass dann irgendwann die Soldaten vor ihnen standen, um die Töchter und Frauen zur Schule abzuholen. Am nächsten Tag sagte ihnen ihre Tochter, dass sie ihren Mann selbst aussuchen und nach der Schule zum Studium in die Stadt ziehen und keinen Schleier, sondern auch einen Minirock tragen wolle. Der Dorfmullah erklärte, dass nicht nur die Ehre, sondern auch die Seele verloren wäre. Es war eigentlich alles verloren und das brauchte man ihm nicht zu sagen, dass sah er auch so. Am nächsten Tag jagte er dem Wachsoldaten an der Mädchenschule eine Kugel in den Kopf und zündete das Gebäude an.

In der Stadt sah man sich nun bestätigt. Diese idiotische Barbaren waren unbelehrbar und eine goldene Zukunft nur möglich, wenn man sie zu ihrem Glück zwang. Es gab Stimmen, die darauf hinwiesen, dass man den Verlierern der Modernisierung mehr Zeit lassen und ihnen Angebote und Bildungsmaßnahmen zukommen lassen müsse, dass man die Gewinne der Modernisierung gleichmäßiger verteilen müsse, auch an die, die dazu nichts beitragen konnten, dass man ihnen wenigstens die kulturelle und religiöse Identität belassen solle, dass man erst auf dem Land investieren solle etc. Diese Stimmen wurden des Verrats bezichtigt. Offensichtlich wollten sie den Fortschritt nur aufhalten, verlangsamen, sabotieren. Sie wurden alt, rückständig, dumm genannt und mundtot gemacht. Sie wurden aus den Redaktionen und den Hochschulen verbannt. Die Revolution ließ sich nicht aufhalten, von niemandem, denn die jungen studierten Kosmopoliten wussten selbstverständlich besser als das Volk, was gut für das Volk war. Der alte Mann, seine Nachbarn und Freunde wurden vor den Augen ihrer Söhne an die Wand gestellt und erschossen. Die mahnenden Stimmen ebenfalls. Der Rest ist seitdem blutige Geschichte.

Scheitert die EU, dann auch sie am Zwang

Was in den 70ern der Einbruch der Industrialisierung und Moderne ins mittelalterliche Afghanistan war, das ist heute die Digitalisierung und Globalisierung in Europa. Wir haben eine kosmopolitische Schicht, die mehrsprachig und mit digitalen Kompetenzen ausgestattet, zwischen Entwicklungshilfeprojekt in Afrika und eigenem Start-Up in Berlin pendelt und zu Recht die unendlichen und fantastischen Möglichkeiten für die Zukunft der Menschheit sieht.

Auf der anderen Seite haben wir all die Personen ohne die nötigen Kompetenzen, die man zum erobern der schönen neuen Welt braucht, die auch keinen Zugang mehr zu ihr finden werden, sei es, weil die Infrastruktur, die Möglichkeiten oder die Fähigkeiten fehlen. Ein fairer und freier Wettbewerb erfordert Wettbewerbsfähigkeit. Wo diese fehlt, gibt es nur ein Spiel mit gezinkten Karten. Die Wut des Verlierers ist dann nur allzu verständlich, besonders, wenn sich der Sieger über den Verlierer auch noch permanent lustig macht.

Die Urteile über die vermeintliche Dummheit der Brexit-Befürworter in Großbritannien ist z.B. ein Beweis unglaublicher Arroganz und tatsächlicher Dummheit. Selbst als Brexit-Gegner muss man sich für den undemokratischen und unsouveränen Umgang mit dem Votum fremdschämen. Es wird nichts Produktives aus dieser Art des Umgangs mit der Mehrheit der Bevölkerung erwachsen. Es ist dies vielleicht der größte Fehler von Progressiven, die denken, dass andere als dumm herabzuwürdigen, diese dazu bringt, die Intelligenz der Progressiven anzuerkennen, damals in Afghanistan genauso wie heute in Europa.

Ich sah im britischen Fernsehen eine Debatte zwischen Brexit-Befürwortern und Gegnern. Es stand ein farbiger Migrant auf und hielt ein flammendes Plädoyer für einen Brexit, nicht weil er nationalistisch war, sondern weil er völlig zu Recht die soziale Frage für ihn als Angehörigen der arbeitenden Unterschicht aufwarf und noch berechtigter nachwies, dass die EU keine Antwort auf diese Frage bot. In diesem Zusammenhang ist es auch schlicht falsch zu behaupten, die Rechtspopulisten böten keine Antworten. Schutzzölle und Marktbarrieren für ausländische Konkurrenten sind für viele Leute der darbenden Industriearbeiterschaft rationale Antworten auf ihre Probleme. Dem Migranten gegenüber standen dann junge Studenten aus noblen Stadtteilen Londons, die erklärten, dass sie weiter gern durch Europa reisen wollen und die EU doch mit viel Geld den Armen in Großbritannien unter die Arme greift. Diese Armen wissen jedoch, dass sie trotzdem arm sind und bleiben werden.

Der britische Komiker Jonathan Pie hat dies treffend auf den Punkt gebracht, als er bemerkte, dass wenn das einzige Argument gegen den Brexit ist, dass man die Sicherheit des Status Quo der Unsicherheit eines Brexit vorziehen soll, er immer die Unsicherheit vorziehen würde. Denn Unsicherheit würde wenigstens die Hoffnung bieten, dass er aus dem persönlichen Elend und der Armut rauskommen würde, wohingegen der Status Quo das individuelle Elend zementierte.

Europa, das ist die traurige Wahrheit und hier muss man Bundespräsident Gauck vehement widersprechen, scheitert nicht an den Bevölkerungen und am Nationalismus, es scheitert an der Unfähigkeit der Eliten, die Menschen in das neue Zeitalter der Globalisierung und der Digitalisierung zu führen und dabei gleichzeitig die soziale Frage für die Abgehängten zu beantworten.

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