Dahrendorf lebte an drei Wohnsitzen: London, Köln und im Schwarzwald. Begraben ist er aber in seiner Heimatstadt Hamburg, neben seinem Vater, dem ehemaligen Reichstagsabgeordneten Gustav Dahrendorf. Die Ligaturen reichen über den Tod des Einzelnen hinaus.
Im „Dahrendorf-Jahr“ 2019 (1. Mai 1929 Geb., 17. Juni 2009 Tod) konfrontiert uns der Blick auf sein Wirken mit vielen, nicht leicht zu vereinbarenden Bildern: der Mann des öffentlichen Lebens, der kultivierte und streitlustige Intellektuelle, der Publizist. Unvergesslich die Diskussion mit APO-Wortführer Rudi Dutschke auf dem Dach eines VW-Transporters 1968, bei dem er ihm die Umgehung der parlamentarischen Institutionen und eine pauschale antikapitalistische Schelte vorhält. Dann sehen wir den Ordinarius für Soziologie, der erst 1967 in die FDP eintritt, sie nach kurzer, aufregender Karriere aus EU-kritischen Motiven wieder verlässt und schließlich ein Vierteljahrhundert in England erfolgreich als Wissenschaftsmanager von sich reden macht; dort 1993 zum Lord geadelt und mit britischer Staatsbürgerschaft versehen wird. Das sind Zäsuren einer deutschen und europäischen Laufbahn, die noch glänzen (Franziska Meifort hat dazu 2017 eine empfehlenswerte Biografie im Münchner Beck-Verlag verfasst).
Die Erinnerungen an den Wissenschaftler verblassen dagegen zusehends, finden keinen eindeutigen Anhaltspunkt. Mit dem „Homo Sociologicus“ konstruiert er 1965 ein düsteres Modell sozialer Wirklichkeit, in welchem die durch Macht gestützten Ansprüche der Gesellschaft – angeblich – das freiheitsliebende Individuum beschränken würden, ein Gedanke, der die Zeitstimmung geschickt aufgreift. Dagegen, so Dahrendorf weiter, wehrt sich Protest mit nachfolgendem sozialem Umbau auf der Basis gegenseitiger Abkommen. Eintracht und Frieden wären damit aber nur vorübergehend gesichert, bis zur nächsten Interessenkollision und zu neuen Regelungen des sozialen Umgangs, die bereits den Keim späterer, neuer Spannungen und Krisen enthielten. Das sei die Dynamik des Fortschritts, die sich aus Entfremdung, Protest und labilen Ordnungen konstituiere.
Ab 1979 bricht er mit diesem Konfliktmodell. Er fordert nunmehr, „eine haltlos gewordene Welt“ solle sich vor allem auf ihre historische Substanz besinnen. Nicht eine abstrakte Freiheit von gesellschaftlichen Zumutungen, sondern tätige Freiheit zu sozialer Verantwortung und Gestaltung („Optionen“) müsse jetzt die Losung sein, die nur aus der Bindung an Überliefertes („Ligaturen“) ihre Kraft schöpfe.
Trotz Dahrendorfs Generalabrechnung bleiben wesentliche Momente seiner früheren Weltsicht prinzipiell erhalten. Konflikte und Auseinandersetzungen treiben sozialen und technischen Wandel und Entwicklung voran; sie dürfen nicht verschwiegen, kleingeredet oder unterdrückt werden, sondern verlangen nach vereinbarten Lösungen. Auch beseitigt man keine Differenzen mit pazifistischen Beschwörungen. Die Politik bleibt ein Kampf um Chancen legitimer Herrschaft, die Zwietracht zwischen Menschen und Menschengruppen zählt zu den Konstanten des Lebens. (Dahrendorf erweitert das Spektrum der Konflikte sogar: kannte er bis dato nur Klassenkonflikte, rückt jetzt der internationale Konflikt mit in den Blick – der Zerfall des Ostblocks, Jugoslawiens und der Terrorismus dürften dabei Pate gestanden haben).
Im Ergebnis wird „Anomie (Regellosigkeit) zu einem Element des Lebens vieler, insbesondere derer, die erst noch zu vollen Mitgliedern der Gesellschaft werden sollen: der Geschichtsunterricht wird reduziert, die Kirche wird zur Tauf- und Beerdigungsanstalt; Mobilität ist ein höherer Wert als Heimattreue; Familien sind häufig zerbrochen oder erkaltet. So entsteht eine unvollständige, eine leere Modernität.“ Freilich, wie Dahrendorf weiß, Ligaturen können nicht einfach dekretiert werden, sie müssen wachsen, reifen, gepflegt werden.
Aber der Staat kann fördernde Randbedingungen schaffen in der Sozialpolitik, im Generationenvertrag, in der Bürgergesellschaft. Besonders diese hat es ihm angetan. „Menschen schließen sich um ihre Interessen und Vorlieben zusammen … Die genossenschaftlichen Bindungen sind die Lebenswelt, … politische Demokratie ohne das Netzwerk der Bürgergesellschaft schwebt entweder in der Luft oder sie wird überfordert“. Als beispielhafte neue Bündnisformen „mit Struktur, Regel und Regelwachen … (zählt er auf:) Nachbarn, Kollegen, Ämter und Gerichte … Familien, Gemeinden, Betrieb, Verbände, Landschaften, Länder.“
Der Verfassungspatriotismus leiste dagegen keinen entscheidenden Beitrag zu neuen Formen der Solidarität, er sei eine „allzu dünne, anämische Form“ des Miteinander, überhaupt löse die ganze Ethikdiskussion die Problematik von sinnspendenden Ligaturen nicht. Ebenso wenig globale Institutionen. „Noch das Kosmopolitentum stiftet höchst abstrakte Bindungen, von denen nicht sicher ist, ob sie Halt geben. So gut die Weltbürgergesellschaft klingt, so sehr muss man doch fragen, was für Ligaturen sie stiftet.“ – „Vom Ende des Nationalstaats wird oft zu leichtfertig gesprochen. Tatsächlich sind nach wie vor die Lebenschancen der Einzelnen ausschlaggebenden Politiken nationalstaatlich.“
Falsch liegt, wer darin ein Plädoyer für separatistische Bestrebungen zu erkennen glaubt. Gegen sie wendet Dahrendorf seine ganze Polemik. „Eine unabhängige Slowakei, ein unabhängiges Quebec, ein unabhängiges Baskenland heißt nicht mehr Freiheit, sondern mehr Macht in den Händen regionaler Potentaten und Demagogen.“ Auch Schottland und Katalonien, heute wohl die Orte der bekanntesten Unabhängigkeitsbewegungen, kriegen ihr Fett ab. Wie passt das ins Konzept? Nun, diese Regionen haben alle Jahrzehnte, Jahrhunderte des Zusammenlebens mit größeren Einheiten hinter sich, in denen sich durchaus tragende Verbundenheiten herausgebildet haben. Wird die alte Zugehörigkeit aufgegeben, so auch mit ihr die ihnen innewohnenden Lebenschancen. Projekte staatlicher Gemeinschaft nur aufgrund ethnischer Verwandtschaft haben deshalb konsequenterweise nicht die Zustimmung des Autors.
Alles in allem: Die Soziologie der Entfremdung weicht einer Soziologie der Antwort. Altes und Neues müssen in ein optimales Verhältnis gebracht werden, eine Aufgabe der Praxis, die Dahrendorf als homo politicus immer im Blick hatte. Der Maßstab kann nicht statistisch angegeben werden, sondern nur qualitativ: welche Entfaltungshorizonte erschließt (oder verhindert) ein soziales Vorhaben, eine neue Form des Zusammenlebens?
Man kann sich ausmalen, welche Verwirrung solche Thesen und Prognosen bei den Adressaten mit ihrem festgezimmerten Dahrendorf-Bild des Konfliktsoziologen auslösen musste. Das Echo war denn auch seinerzeit ziemlich lau. Überlebt hat nur der Homo Sociologicus als ein vereinsamter, kategorialer Rest einer komplexen Wissenschaftlerlaufbahn, die aufzuarbeiten es an der Zeit wäre. Seine letzten Botschaften sind allerdings unmissverständlich. „Der Wert dessen, was von Dauer ist, bedarf der Wiederbelebung. Auch unsere soziale Welt braucht indessen Nachhaltigkeit, weil nur mit eine Freiheit gedeiht, die mehr ist als ein Wochenende des Genusses der Freizeit.“
Dahrendorf war ein mutiger Wanderer zwischen den Welten, als Mensch und als Gelehrter. Zuletzt lebte er an drei Wohnsitzen: London, Köln und im Schwarzwald. Begraben ist er aber in seiner Heimatstadt Hamburg, neben seinem Vater, dem ehemaligen Bürgerschafts- und Reichstagsabgeordneten Gustav Dahrendorf. Die Ligaturen reichen über den Tod des Einzelnen hinaus.
Dr. Rainer Waßner, Dozent für Soziologie i.R. an der Universität Hamburg
Literatur von Ralf Dahrendorf: Über Grenzen, Lebenserinnerungen, 4. Aufl. München 2002; Lebenschancen. Anläufe zur sozialen und politischen Theorie, Frankfurt 1979; Auf der Suche nach einer neuen Ordnung. Vorlesungen zur Politik der Freiheit im 21. Jahrhundert. München 2003; Homo Sociologicus (mehrere Auflagen seit 1958).
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Den größten Überlebensvorteil hat aber nicht der beste Kämpfer, sondern der, der andere für sich kämpfen lässt.
In der FAZ gibt es seit vielen Jahren Mittwochs 2 Seiten „Natur und Wissenschaft“ und gleich anschliessend 2 weitere Seiten „Geisteswissenschaft“.
Natur und Wissenschaft lese ich gerne und verstehe fast jedes Wort.
Artikel in Geisteswissenschaft sind in einer für mich fremden Sprache geschrieben. Nur bei wenigen bringe ich es über die ersten 5 Zeilen und schaffe es bis zum Ende.
Zu dieser Kategorie gehört dieser Artikel über den guten Lord Dahrendorf..
PS.: Ich habe einen lieben Schwager, der offenbar die ganze FAZ liest und mir diese 4 Seiten seit vielen Jahren sammelt und zukommen lässt!
Soziologen und Philosophen ringen wortreich und mühselig um grundlegende Erkenntnisse, die auch ganz einfach in Darwins leicht verständlichen 200 Jahre alten Veröffentlichung nachlesen könnten.
Als Professoren bräuchten sie vermutlich nur ein paar Türen weiter auf dem Universitätsflur beim Evolutionsbiologen klopfen, um sich ihre ganzen Fragen beantworten zu lassen. Machen sie natürlich nicht, denn sie sägen sich ja nicht den Ast ab, auf dem sie sitzen.
Sehe ich ähnlich, Anthropologie und Ethologie sollten stets eine Bezugsbasis soziologischer Texte sein. Daher empfinde ich auch A. Gehlen als sehr fruchtbar mit seinem originellen Mix aus Bezügen zu I. Eibl-Eibesfeld, K. Lorenz, aber auch R. Musil und G. Benn.
Wenn ich mal empfehlen darf: „Moral und Hypermoral“ von Gehlen.
Vielen Dank Herr Professor Waßner für Ihre Skizze, sie hat mich neugierig gemacht auf das Spätwerk Dahrendorfs.