Deutschland hat eine der letzten großen Denkergestalten des zwanzigsten Jahrhunderts verloren, auf die es für immer stolz sein kann. Robert Spaemann ist auf der ganzen Welt anerkannt als einer der bedeutenden Philosophen unserer Zeit, die über Jahrhunderte zementierte Einseitigkeiten und Sackgassen der Interpretation des Verhältnisses des Menschen zur Welt und seinem Leben radikal revidiert und ihnen gegenüber den ganzen Reichtum jener einzigartigen Lebensform neu erschlossen haben, die in der abendländischen Geschichte mit Sokrates, Platon und Aristoteles ihren Anfang genommen hat und bis heute lebendig geblieben ist.
Der unrelativierbare Kern dieser Lebensform ist das unerschütterliche Vertrauen auf Vernunft und Wahrheit als die Leitprinzipien unseres Daseins von seinem Anfang bis zu seinem Ende. Den bedeutenden Philosophen macht es aus, dass er sie nicht nur, wie Kant in seinem „Weltbegriff“ der Philosophie sagt, „als Lehrer der Weisheit in Lehre und Beispiel“ vorlebt, sondern dass er sie aus sich selbst heraus noch einmal auf eine Weise zu begründen vermag, die man so nur bei ihm findet. Das ist Robert Spaemann gelungen, indem er die denkerische Besinnung neu und wieder auf einen Leitbegriff gerichtet hat, von dem her die großen griechischen Denker den „Sitz im Leben“ bestimmt haben, der uns allein die Bedeutung zu verstehen erlaubt, die Vernunft und Wahrheit für uns haben. Dieser Leitbegriff ist der Begriff der Natur, den Spaemann wie kaum ein Zweiter im zwanzigsten Jahrhundert neu in der Mitte des philosophischen Denkens verankert hat.
Die Kunst des lässigen Anstands
Er greift dazu auf das griechische Verständnis der „physis“ als der Grundverfassung zurück, die jedes Lebewesen zu einem macht, das von sich aus auf etwas aus ist, dem also aufgrund seiner Artbestimmung eine Lebensform vorgegeben ist, die sich von ihm selbst her zeigt und die durch keine von außen kommende Steuerung, „Programmierung“ oder Manipulation jemals ersetzt werden könnte. Seine Natur ist das, was einem lebendigen Wesen ein Ziel gibt, durch das es sich auf seine Art von der Natur aller anderen Lebewesen unterscheidet. „Ziel“ bedeutet dabei nicht einen angeblichen Endpunkt, auf den seine Entwicklung hinzielt und auch nicht ein „design“, das ihm von einer außernatürlichen Steuerungsinstanz eingegeben wäre, sondern den normalen Lebensweg, der sich von sich selbst her zeigt, wenn ein Wesen sich gemäß seiner Natur zu entfalten vermag. „Natur“ in diesem Sinne ist also dasjenige, was ein Lebewesen hat, wodurch es sich von Wesen anderer Art unterscheidet.
So verstanden, hat der Mensch selbstverständlich eine, seine Natur; sie ist es, wodurch er sich von allen anderen natürlichen Wesen unterscheidet, ohne deshalb aus „der Natur“ herauszufallen oder ihr gegenüberzustehen. Das Natürliche am Menschen ist das, wodurch er sich von allen Tieren unterscheidet, und ihn in dieser Einzigartigkeit zu respektieren, das ist die Leitlinie, an der sich Gesellschaft und Kultur orientieren müssen, wenn Vernunft und Wahrheit unser Leben bestimmen sollen.
In diesem Rückgang auf den klassischen Naturbegriff hat sich Robert Spaemann immer als Verteidiger einer Tradition begriffen, die angesichts der Engführungen, die aus dem seit langer Zeit wirksamen Missverständnis des Natürlichen als des Tierischen am Menschen neu zur Geltung und begrifflichen Klärung gebracht werden muss.
Er hat die Philosophie, vor allem die Ethik und ihre Anwendung auf die Politik, ganz entschieden begriffen als Erinnerung an das, was wir geradezu als Synonym für das Natürliche das „Selbstverständliche“ nennen. Nicht zuletzt die tiefgreifenden Erfahrungen, die er in der Zeit des Krieges und der totalitären Diktatur, die ihn noch als jungen Mann an die Grenze der Todesgefahr brachten, hat machen müssen, aber auch die von ihm als für Universität und Gesellschaft zerstörend begriffenen Rasereien des „68er“ Bewusstseins haben Spaemann zu der ganz dezidierten Überzeugung gebracht, dass man Vernunft und Wahrheit als Leitprinzipien eines Menschen niemals allein daran erkennt, wie eloquent er redet und wie selbstsicher er auftritt, sondern mitunter und zu ganz bestimmten Zeiten fast eher aus dem Gegenteil, also daraus, dass er von der Öffentlichkeit zum Schweigen gebracht oder ins Abseits gestellt wird.
In der, sei es zynisch betriebenen, sei es mitläuferhaft übernommenen Zurückweisung der Selbstverständlichkeit der dem Menschen natürlichen Lebensformen hat Spaemann die Macht am Werk gesehen, die er als die der radikalen Entgegensetzung zur Vernunft und Wahrheit vom griechischen Denken nicht adäquat eingeholte Macht begriffen hat, die Macht des Bösen. Die Sünde und die sie nachvollziehbar machende Geschichte von Urstand und Fall des Menschen sind für ihn Grenzmarkierungen gewesen, denen sich das philosophische Denken um seiner selbst willen anzunehmen hat und die insofern nicht schon Sache einer Offenbarung auslegenden Theologie sind. In seinem großen Buch über die Person hat er das für unser Dasein spezifische, das freie Verhältnis des Menschen zu seiner Natur zu dem Grundgesichtspunkt gemacht, unter dem man als eine der essentiellen Implikationen – nicht Voraussetzungen – des Menschseins die mögliche Entscheidung gegen die Natur und damit die unter Umständen sehr vernünftelnd und zungenfertig daherkommende Entscheidung gegen Vernunft und Wahrheit erkennen muss. Es gehört zu den Implikationen der humanen Natur, dass das sie habende Wesen inhuman sein und handeln kann. Auch das ist ein Spezifikum des Menschen.
Hier liegt die Schaltstelle, von der her man Spaemanns Denken auch als ein dezidiertes Hinausgehen über die Tradition der griechischen Metaphysik verstehen muss. Der Anknüpfungspunkt an sie liegt in dem klar zum antiken Konzept der teleologischen, also der zielgerichteten Verfassung alles Natürlichen gehörigen Prinzip, dass es zum Wesen der menschlichen Natur gehört, über sich und damit über die Natur überhaupt hinauszuschreiten, sich also zu „transzendieren“. Was Spaemann dem gegenüber auf ganz eigenständige Weise akzentuiert hat, ist jedoch das Paradoxe dieser Grundbestimmung. Für die Antike war es ein „nous“, ein letztlich abstrakter Geist, der, wie es bei Aristoteles heißt, „durch die Tür“ in unser Leben hineinkommt, durch den wir zu dieser Selbstüberschreitung gekommen sind. Platon lässt Sokrates unter Verweis auf sein „daimonion“ einräumen, dass die Philosophie sich hier mit einem Rätsel konfrontiert sieht. Spaemann sieht hier, an den Grenzen des auf Vernunft und Wahrheit gerichteten Erkenntnisanspruchs der natürlichen Vernunft, die diesem nicht gegenübertretende, sondern von ihm implizierte und geforderte Erklärungskraft, die das Einmalige, das Einzigartige, das Ausnahmsweise enthält, auf das wir uns nur als ein Ereignis der unser Dasein bestimmenden Geschichte beziehen können. Nicht erst oder nur der die Offenbarung auslegende Theologe, sondern auch der aus dem Paradox denkende Philosoph gelangt hier zur Annahme einer für die Begründung von Vernunft und Wahrheit fundamentalen Bedeutung des trinitarischen Gottesbegriffs und des an der Natur des Gottmenschen Christus auf unvergleichliche Weise sichtbar gewordenen Eigenart dessen, was wir mit „Person“ meinen.
Wer diese komplizierten Zusammenhänge mit der Hilfe dieses großen Denkers einmal durchdacht hat, der wird das innere Band der gesamten Breite seiner Stellungnahmen zu ethischen und politischen Brennpunkten der neueren Zeit und die innere Logik und Konsequenz seines Einsatzes für die Verteidigung der Unteilbarkeit der Menschenwürde ganz von selbst, mit rein vernünftigen Argumenten und ohne „weltanschauliche“ Dezisionen, nachvollziehen können. Darin hat Spaemann Unschätzbares zur Verteidigung von Humanität und Rationalität in einer der geistigen Orientierung immer mehr entbehrenden Zeit und in einer zutiefst den Quellen ihrer Legitimität entfremdeten politischen und gesellschaftlichen Ordnung geleistet. Er hat dabei als innersten Kern seines Einsatzes die Haltung der Gelassenheit verwirklicht, die er als die rechte Mitte zwischen Zynismus und Fanatismus begriff. Das Wort von Thomas von Aquin, dass wir uns nicht vornehmen können, den Willen Gottes auf Erden zu exekutieren, sondern nur so gut wie möglich das zu wollen, wovon Gott will, dass wir es wollen, hat ihm jene „Mischung aus Heiterkeit und Skepsis“ verliehen, die er einmal als die Grundverfassung seiner Persönlichkeit bezeichnet hat. Ihn als akademischen Lehrer und Freund haben zu dürfen, ist ein unvergleichliches Glück für jeden gewesen, der zu ihm kommen durfte. Auf Sokrates hat er sich berufen mit dem Wort, dass er dem, der zu ihm kam, nur eines versprechen könne, nämlich dass er ihn ihm als einen Besseren zurückgeben werde als er der er war, als er zu ihm kam. Er hat sein Leben von Anfang bis Ende dem Guten gewidmet.
Der Autor Walter Schweidler ist Professor für Philosophie an der Katholischen Universität Eichstätt. Er habilitierte sich und war Assistent bei Robert Spaemann. Sein Beitrag erschien zuerst in Die Tagespost. Katholische Wochenzeitung für Politik, Gesellschaft und Kultur, der wir für die freundliche Genehmigung zur Übernahme danken.
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Der dreieinige, zeitlos ewige Gott ist glücklicherweise nicht davon abhängig, was das jeweilige Menschenhirn sich so alles ausdenkt, um ihn unters Mikroskop zu legen und zu sezieren, damit man ihn endlich in den Griff kriegt. Ich meine, diese Versuche sind bis heute und für alle Ewigkeit gescheitert. Man muß auch nicht, er ist ja in Christus erkennbar und befragbar, soweit hat er sich aus seinem Absconditum für uns menschenoffenbart. Und das genügt. Daneben kann man durchaus zur Verstandesertüchtigung die philosophischen Modelle des „Anfangs“ studieren. Dabei kommt dann gelassene Heiterkeit durchaus auf. Zum Teil auch Schwindel. Und: Die Vernunft wird sich… Mehr
Ich habe keine religiösen Gefühle, nur Glauben. Insofern kein Problem. Und: Er kann, da bin ich bei Ockham. Aber er hat sich festgelegt und will nicht, da bin ich bei Christus. Darüber hinaus gibt es wohl nur Spekulation.
„Die SPD braucht dringend eine neue Lichtgestalt …“ – Aber woher nehmen? Z.Zt. sehe ich dort nur republikanische Wichtgestalten, die ihre Wähler verjagen, Abtreibungen bis kurz vor der Geburt befürworten und Deutschlands Zukunft zerstören. – An Brandt sollte vielleicht auch einmal das ziemlich unerträgliche Pathos seiner sich meist aufgeblasen dahinschleppenden Reden herausgestellt werden. Weltpolitik hat er bestimmt nicht gemacht und nach 1974 (Rücktritt) realpolitisch eigentlich nur noch quergeschossen und sich als Sozialistischer Internationalist inszeniert, der der Anti-Sadam-Hussein-Koalition dann (1990) auch noch als ‚Geiselbefreier‘ (Konzessionär eines üblen Geiselnehmers) in die geplante militärische Kuweit-Befreiung hineingrätschte.
Sorry, Kommentar versehentlich falsch plaziert! Richtig wäre die Zuordnung zum letzten Beitrag von Josef Kraus (Buchrezension Wolffsohn): https://www.tichyseinblick.de/feuilleton/buecher/friedenskanzler-willy-brandt-nicht-vom-sockel-geholt-aber-einen-sockel-tiefer-gestellt/