Die von ihren Rändern her zerfallenden europäischen Städte sind Spiegelbilder der Weltaufstellung: Der christliche Westen mit seinem Wohlstand gegen den destabilisierten Nahen Osten und Elends-Nordafrika. Der Islam trennt Arme und Reiche und wird daher zur Waffe der Zu-Kurz-Gekommenen.
In immer mehr europäischen Vorstädten entstehen neue – bzw. festigen sich bereits vorhandene – Parallelgesellschaften als Brutstätten für Hass und Gewalt. An potenziellem Nachwuchs mangelt es ihnen dank millionenfacher Zuwanderung nicht. Die düsteren Hotspots von morgen sind am Reißbrett bereits real. Die Millionen Neuankömmlinge müssen dauerhaft untergebracht werden. Nun könnte man es sich einfach machen, indem man diese fremde und archaische Religion namens Islam dafür verantwortlich macht. Und man läge nicht einmal falsch damit. Die Protagonisten tragen die Fahne des Propheten vor sich her um damit jegliche Form von Gewalt zu legitimieren.
Armut ist muslimisch
Schief an dieser Betrachtungsweise ist allerdings die Tatsache, dass es sich hier um gar keine religiöse, sondern um eine aus der Verzweiflung der Armut heraus entstandene und gegen den Wohlstand der anderen gerichtete Gewalt handelt. Dass die Trennlinie zwischen arm und reich dennoch religiös definiert wird, ist kein Zufall. Diese von ihren Rändern her versiffenden europäischen Städte mit ihren Armutssatelliten sind Miniaturspiegelbilder der Weltaufstellung: Der christliche Westen mit seinem Wohlstand gegen den destabilisierten Nahe Osten, Nordafrika usw. – handlungsunfähig, hochverschuldet, verarmt, durch Kriege zerrüttet. Und also auch ohne irgendeine Form staatlich organisierter sozialer Netze. Nein, auch soziale Netzwerke ersetzen keine staatliche Wohlfahrt. Facebook für alle macht die Bäuche nicht voll.
Die Antwort auf die Frage, warum sich die im Westen geborenen Gewalttäter mit Migrationshintergrund – warum sich diese Vorstadtbewohner – auf den Islam berufen, ist denkbar einfach: diese Religion gehört ihnen exklusiv. Niemand würde ihnen diesen zweifelhaften Wertekanon streitig machen. Null Begehrlichkeiten, auch kein intellektuelles Streiten. Also bleibt es in den Händen stumpfer Radikaler, wie sie ihre Werte auslegen. Ob friedlich oder aggressiv, sie konkurrieren mit niemandem. Kein religiöses Wetteifern, kein Marktplatz der Überzeugungen. Nicht einmal die sogenannten gemäßigten, die angeblich wahren Muslime, treten in Erscheinung. Mal von gesamtgellschaftlich eingeforderten Beileidsbekundungen und Bemühungen um verschiedene Moscheebauten abgesehen, lebt die schweigende Mehrheit ihre Religion seit den ersten Einwanderungstagen im mehr oder weniger Verborgenen.
Weder Reform noch durchgehend Integration
Aus Nostalgie, aus einer irgendwie gearteten Verbundenheit zur alten Heimat oder schlicht aus Bequemlichkeit hat man es sich verwehrt, die ebenfalls mit migrierte Religion den neuen Lebensumständen anzupassen. Nein, es gibt keine nennenswerten Reformen, die etwa aus den westlich-muslimen Hinterhofmoschee-Enklaven auf ihren Ursprungsort zurückstrahlen würden. Da ist selbst in Jahrzehnten nichts entstanden, das Vorbild sein könnte, das nah genug am realen Leben der nächsten Generation wäre, diese positiv zu entflammen. Nichts, das irgendeine gesellschaftsrelevante Langzeitwirkung hätte.
Zwar gehen viele junge muslime Frauen in Europa mit gleichaltrigen, christlich geprägten Mädchen gemeinsam zur Schule. Aber sie erleben nicht selten über Jahre hinweg ein Wohlstandgefälle, ohne dass sich an den eigenen Lebensumständen etwas Entscheidendes ändern würde. Und diese Mädchen werden Zeuginnen der weiter wachsenden Freiheiten der anderen, bleiben aber selbst auf der Strecke. Freiheiten, die sie für sich selbst, auch drei, vier Generationen nach der Einwanderung ihrer Vorfahren, nicht gegen diese komplizierten interfamiliär religiösen Ressentiments erkämpfen könnten. Und es ist nichts Adäquates vorhanden, das sich entgegensetzen ließe. Keine Hilfe, keine Unterstützung. Nichts als laue Willensbekundungen der sogenannten Willigen. Nichts, das ersatzweise stolz machen könnte, um so fehlendes Selbstwertgefühl zu kompensieren, das seinerseits für eine bessere Verständigung auf Augenhöhe sorgen könnte. Ja, es ist wohl so: Wohlstand macht selbstbewusster. Und Selbstbewusstsein heißt Frieden. Manchmal sogar Glück.
Nun flüchten sich einige dieser jungen Frauen in Autoaggressivität oder sie ergeben sich irgendwann still. Die Selbstmordrate dieser Mädchen ist doppelt so hoch, wie die ihrer christlichen Schulkameradinnen.
Die Mondsichel ist das neue Brandzeichen
Kommen wir zu den Brüdern dieser Mädchen, zu den jungen Männer dieser vergessenen Vorstädte. Die bringen sich nicht einfach um; die Frustriertesten von ihnen verwandeln ihre Unzufriedenheit in Hass und Gewalt. Zu ihrem Brandzeichen wurde die Mondsichel. Wurden islamische Werte, als die einzigen Werte, die ihnen ihr christlich-kapitalistisches Umfeld nicht streitig machen will, die ihnen exklusiv gehören. Und die sie nun mit einer Forderung nach bedingungsloser Unterwerfung verknüpfen. Und damit haben sie sie mit einer archaischen Energie aufgeladen, die diesen Männer ihre Religion dem säkularisierten Christentum gegenüber weit überlegen erscheinen lässt – Todesboten aus grauer Vorzeit für die Düsterkrake IS.
Mit dieser Kampfansage oder Kriegserklärung verkennen sie allerdings, dass der Ursprung dieses Wohlstandsgefälles überhaupt nicht religiös bedingt ist. Nein, das Christentum, die Werte der christlichen Welt, die sie vorgeben zu bekämpfen, sind längst aufgegangen oder untergegangen – je nach persönlichem Standpunkt – in Demokratie und Kapitalismus.
Aber warum sollte der Kapitalismus nur christlichen Ursprungs sein? Die arabische Welt hat doch eine viel längere Tradition in Handel und Wandel. Die Seidenstraße könnte man sogar als einen der ersten Vorboten eines globalisierten Welthandels verstehen. Nein, den entscheidenden Unterschied macht diese westlich-historische Dreifaltigkeit aus Christentum, Demokratie und Kapitalismus. Das Christentum hat in unserer Hemisphäre schon beginnend 700 Jahre vor der Geburt des Islams dafür gesorgt, dass ein mehr oder weniger einheitliches, für alle verbindliches System etabliert und akzeptiert wurde.
Gläubige konnten über tausende Kilometer hinweg halbwegs sicher sein, dass in den christlichen Kirchen anderswo ähnliches praktiziert wird, wie bei ihnen zu Hause, dass ähnliche Regeln des Zusammenlebens vergleichbaren ethisch-moralischen Vorstellungen unterlagen. Das galt dann natürlich gleichermaßen für die Handeltreibenden, die ihren Radius der bekannten Welt so exorbitant auszudehnen bereit waren.
Dreieinigkeit von Kirche, Kapitalismus und Demokratie
Weil dieses System nun aber den Kirchen eine ungeheure Machtfülle bescherte und sich Klerus und Adel zudem zu einer gemeinsamen, Erbrecht gestützten Herrschaftsklasse verschmolzen haben, formte sich aus wachsendem Unmut, aus Unterdrückung und Leibeigenschaft in einem Jahrhunderte andauernden Prozess, die moderne Demokratie, wie wir sie heute kennen.
Die für die Kirche schmerzhafte, ihr gegenüber nicht selten mit der Mistgabel und dem Schafott durchgesetzte Säkularisierung stand am Anfang der Vollendung dieser Dreiklangs-Chronologie. Erst die Demokratie als universeller, den christlichen jetzt sogar übergeordneten Werten, war der perfekte Nährboden für einen Kapitalismus, wie wir ihn heute kennen. Für einen Kapitalismus mit christlichen Wurzeln.
Aber das wirklich Fatale: Der Kapitalismus in seiner menschlichsten, wenn auch geradezu utopisch anmutenden Form, im Wohlstand für alle, wurzelt auf dem Christentum, klammert in Europa aber ausgerechnet jene Vorstädte aus, die von Migranten, Fremden, die von Einwanderern aus den muslimischen und undemokratischen Ländern der Welt hier hergekommen sind. Die Ausgrenzung ist perfekt: christlich, demokratisch, kapitalistisch versus muslimisch, diktatorisch, verarmt – „diktatorisch“ hier von Herkunft und Sozialisation der Einwanderergeneration aus betrachtet.
Uns muss die Quadratur dieses Teufelskreises gelingen. Uns muss es gelingen, davon zu überzeugen, dass Kapitalismus und Demokratie sich nicht notwendigerweise nur auf den Stümpfen eines Christentums entfalten können. Es muss gelingen, reformwillige Muslime mit einer sicheren Aussicht auf gleichen Wohlstand zu fördern. Auf welchem Niveau sich dieser gemeinsame Wohlstand dann auch immer einpendeln wird, Hauptsache, ihm liegt eine echte Chancengleichheit zu Grunde.
Ohne Kapitalismus bleibt der Islam arm
Denn es ist doch so: ohne Demokratie in den islamischen Ländern, die ja fast zwangsläufig mit einer Säkularisierung einhergehen wird, wird es auch keine Chance für Kapitalismus, also für Wohlstand geben. Dann bleibt es immer der verdammte Kapitalismus und Wohlstand der anderen – der christliche Kapitalismus. Erst Objekt der Begierde, dann des Hasses. Und final der Auslöser für Gewalt und Terror.
Gut, jetzt könnte man sagen, in Saudi-Arabien gibt es aber doch Wohlstand ohne Demokratie. Ja, aber auch ohne Anstrengung: er sprudelt aus dem Boden!
Die Muslime, die es geschafft haben – denn solche gibt es ja auch in Europa – müssen ihren Wohlstand in die muslimische Welt hinausbrüllen. Und sie müssen klarstellen, worauf er basiert: Auf Demokratie. Auf Säkularisierung. Auf den Werten Europas: Auf somit allem, was die in den Tagen des Terrors von Paris weggebombt werden sollte: Liberté, égalité, fraternité.
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