In einer Zeit, in der der Mensch nur noch an Konsum und Produktivität gemessen wird, steigt der Druck, nicht nur effizient zu leben, sondern auch effizient zu sterben. Was steckt hinter der zunehmenden Normalisierung der Selbsttötung?
In der Schweiz ist der assistierte Suizid legal, wenn er nicht aus eigennützigen Motiven erfolgt. In den letzten Jahren haben die Gerichte in Deutschland und Österreich Beihilfe zum Suizid entkriminalisiert. Auch in England und anderen europäischen Ländern ist die Legalisierung des Suizids auf dem Vormarsch. Dank moderner Technologie wird Suizid bald sogar ohne Mithilfe einer anderen Person möglich, und ohne Unbeteiligte gegen ihren Willen zu involvieren, wie etwa beim Sprung vor den Zug. Ein Knopfdruck, nach wenigen Sekunden kommt der schmerzlose Tod: so verspricht es eine Suizidkapsel namens «Sarco», die sich mit Stickstoff füllt, wobei der Insasse an Sauerstoffmangel stirbt und nachträglich, wie in einem High-Tech-Sarg, abtransportiert werden kann.
Aus liberaler Sicht spricht wenig gegen das Recht auf den Freitod. Es gibt keine Pflicht zu leben, daher muss die Entscheidung, sich das Leben zu nehmen, respektiert werden. Auf der anderen Seite ist der Mensch keine Monade, die autark auf der Insel Entscheidungen trifft. Konstitutiv für das Ich ist nicht das Ich selbst, sondern das Du des Mitmenschen, im Zusammenspiel mit Natur und Gesellschaft. Empfängnis und Geburt sind Beziehungsereignisse, so wie die Kindheit und das Heranreifen. Der Mensch lebt in einem Netzwerk von Bindungen, innerhalb derer Entscheidungen fallen. Den Raum einer bindungslosen Willensfreiheit gibt es nicht. So wird die Rede vom selbstbestimmten Sterben zumindest fraglich. Ist das Leben ein Beziehungsereignis, gilt dies auch fürs Sterben, das wesentlich zum Leben gehört. Die Erfahrung verschiedener Hospize, Palliativ-Care-Teams und Familien zeigt: der Sterbeprozess wird stark von Beziehungen beeinflusst, positiv wie negativ. Oft müssen Konflikte gelöst werden, bevor der Sterbende loslassen kann. Eine wach erlebte, letzte Wegstrecke, auf der Begegnungen und Aussprachen erfolgen, löst in vielen Fällen Dankbarkeit aus.
Zur Beurteilung des Suizids ist es von Bedeutung, nicht alles auf die Frage zu reduzieren, ob jemand das Recht hat, sich das Leben zu nehmen. Wichtig wäre die Frage, warum jemand gerade jetzt sterben will, warum er darauf verzichtet, seine Liebsten noch einmal zu sehen, einen weiteren Sonnenaufgang zu erleben, eine weitere Jahreszeit. Auf dieses Warum gibt es Antworten aus der Palliativmedizin, aus der Sterbebegleitung und der Alterspflege. Der Wunsch nach Selbsttötung hat meist zwei Ursachen: erstens die Angst vor unerträglichem Schmerz, zweitens das Gefühl, nur noch eine Last zu sein, für nichts mehr zu taugen. Hier spielt das Thema Einsamkeit eine wichtige Rolle.
Noch größer wäre die Niederlage, wenn sich immer mehr Menschen aus Einsamkeit das Leben nehmen. Die Sterbehilfe könnte zur willkommenen Entlastung einer Gesellschaft werden, die kälter wird und für Zuwendung wenig Zeit hat. Das betrifft nicht in erster Linie den Selbstmord aufgrund psychischer Erkrankungen wie Depression und Psychose, diese sind ein Sonderthema der Medizin und Psychiatrie. Nach dem Schweizerischen Gesundheits-Observatorium denken jedoch rund 540’000 Menschen allein in der Schweiz im Wochentakt darüber nach, sich das Leben zu nehmen, ohne im klinischen Sinn depressiv zu sein. Seit Jahren steigt der Anteil an Menschen mit Suizidgedanken. Für den Deutschen Psychiater Manfred Spitzer ist die Einsamkeit die «tödlichste aller Krankheiten». Unter Einsamkeit versteht Spitzer nicht nur soziale Isolation, sondern einen anhaltenden inneren Schmerz der Beziehungslosigkeit, an dem Menschen auch mitten im Alltag, im größten Aktivismus, leiden.
Jugendliche verbringen bis zu neun Stunden am Tag am Smartphone. In den Städten leben immer mehr Singles. Dank der Automatisierung des Alltags ist es möglich, online einzukaufen, Fahrkarten zu lösen, im Shoppingcenter zu bezahlen und sich tagelang durchzuschlagen, ohne mit einem einzigen Menschen kommunizieren zu müssen. Selbst Leute, die beruflich mit Menschen zu tun haben, etwa Mediziner oder Seelsorger, klagen über eine dicker werdende Decke aus Rationalisierung und Bürokratisierung, die den Freiraum für Begegnung und Beziehung erstickt.
Eine soziale Antwort auf diese Tendenz kann nicht der Suizid sein, sondern sie müsste zur gemeinsamen Anstrengung führen, den technisch getriebenen Lebensstil unserer Tage wieder langsamer zu machen, wachsamer und menschlich wärmer. Das gilt auch für das Gefühl älterer Menschen, nur noch eine Last zu sein, für nichts mehr zu taugen. Wie kann da der Selbstmord als Fortschritt der Selbstbestimmung gelten? Lebensdienlicher wäre eine Kritik der bestimmenden Megatrends unserer Zeit. Eine unausgesprochene Doktrin dieser Zeit ließe sich so formulieren: «Ich verwirkliche mich selbst, indem ich mich ausbeute und optimiere. Wenn das nicht mehr geht, wenn ich nicht mehr funktioniere, ist es mein Recht, Sterbehilfe in Anspruch zu nehmen.»
Der deutsch-koreanische Philosoph Byung-Chul Han sieht eine solche Kultur als System der Totalverwertung. Beziehungen, Sex, Kinder, selbst Lebenskrisen sind nur noch kurze Unterbrechungen der Produktivität und des Konsums. Die Social Media verwickeln den Menschen in eine «endlose Ich-Schlaufe» und gehören ebenfalls zur Verwertungskette. Selbst der Tod darf nichts Abgründiges mehr haben, sondern er bedeutet einfach das Ende von Produktion und Konsum. In einer solchen Stimmung ist es verständlich, wenn Kranke und Depressive, abgeschnitten von Produktion und Konsum, keinen Sinn mehr sehen, ja wenn sie sich fühlen wie eine defekte Daseinsmaschine, die man lieber abstellt.
Nicht zu unterschätzen beim Thema Sterbehilfe ist der finanzielle Aspekt. In Westeuropa altert die Bevölkerung jedes Jahr mehr, während die Gesundheitskosten steigen und die Sicherung der Altersvorsorge schwieriger wird. Internationale Studien zeigen außerdem, dass die letzten zwei Jahre im Leben eines Menschen aufgrund der gesundheitlichen Versorgung in der Regel die teuersten sind. Zieht man das in Betracht, so ist es für den Staat oder die betroffenen Versicherungen eine grosse Verlockung, die letzten Jahre «günstiger» zu machen, durch die allgemeine Akzeptanz des Suizids im Namen der Selbstbestimmung. Es können jedes Jahr Milliarden eingespart werden, wenn der Mensch in Zukunft nicht nur effizient lebt, sondern auch effizient stirbt.
Das bedeutet nicht, dass in Politik und Wirtschaft ein bewusster Kosten-Nutzen-Zynismus herrscht, der eine humane Kultur zerstört. Aber es bedeutet, dass es einen wachsenden finanziellen Druck in Richtung Sterbehilfe gibt, der nicht ignoriert werden darf. Vor die Wahl gestellt, das Thema auf «Selbstbestimmung» zu reduzieren oder es zu öffnen für gesellschaftspolitische und zivilisatorische Überlegungen im Sinn der humanistischen Tradition, scheint nur eine ganzheitliche Betrachtung angemessen. Bereits Arthur Schopenhauer hatte festgestellt: «Der Selbstmörder will das Leben und ist bloß mit den Bedingungen unzufrieden, unter denen es ihm geworden.» Eine Zivilisation mit menschlichem Gesicht ist darum bemüht, diese Bedingungen so zu gestalten, dass die Liebe zum Leben auch in schweren Stunden überwiegt.
Ein wahrhaft würdevolles Sterben setzt eine Gesellschaft voraus, in der ein Klima der selbstverständlichen Zuwendung herrscht, in der sich Kranke nicht als Last empfinden, weil Leben und Sterben ganzheitlich gesehen werden. Weil in Familien, Gemeinschaften, Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen jeden Tag erlebbar ist, dass Geborenwerden und Sterben ein Beziehungsereignis darstellen. Weil auch in Politik und Medien klar ist: niemand möchte durch den Knopfdruck in einer Erstickungsmaschine sterben, oder durch die Hand eines professionellen Assistenten, sondern an der Hand eines geliebten Menschen.
Giuseppe Gracia ist Schriftsteller und Kommunikationsberater.
Sollten Sie das Gefühl haben, dass Sie Hilfe benötigen, kontaktieren Sie unbedingt die Telefonseelsorge. Unter der kostenfreien Rufnummer 0800-1110111 oder 0800-1110222 bekommen Sie Hilfe von Beratern, die Ihnen Hilfe bei den nächsten Schritten anbieten können. Hilfsangebote gibt es außerdem bei der Stiftung Deutsche Depressionshilfe und der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention. Im Netz gibt es – Beispielsweise bei der Stiftung Deutsche Depressionshilfe – auch ein Forum, in dem sich Betroffene austauschen können.
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„Bereits Arthur Schopenhauer hatte festgestellt: «Der Selbstmörder will das Leben und ist bloß mit den Bedingungen unzufrieden, unter denen es ihm geworden.»“ Vielleicht ist Schopenhauer ja auch, jedenfalls in dieser Frage, nicht zur tiefsten Weisheit durchgedrungen- einfach weil es ihm an Spiritualität mangelte. Die Philosophin Simone Weil hatte demgegenüber in der Auflösung des Egos den Sinn des Lebens erkannt und folgte damit uralten spirituellen Pfaden bis in den „Freitod“. Von ihr stammen die Zitate https://de.wikipedia.org/wiki/Simone_Weil : „Das ist es, was wir Gott geben, das heißt: zerstören sollen. Es gibt durchaus keinen anderen freien Akt, der uns erlaubt wäre, außer der… Mehr
Eigentlich sehe ich nicht viel „Selbstausbeutung“ in meiner Umgebung. Ich sehe aber eine starke Tendenz sich beruflich so einzurichten, dass man sich nicht „überarbeitet“. Weiter sehe ich eine starke Tendenz soziale Beziehungen durch zwischenmenschliche Machtausübung so zu gestalten, dass es nach außen zwar so aussieht, dass man ein guter Mensch ist, der sich aufopferungsvoll kümmert, dass es aber eigentlich so läuft, dass man unter dem Strich emotional und finanziell profitiert. Demgegenüber werden Menschen, die beruflich viel leisten müssen -einfach weil deren Tätigkeiten es ihrer Natur nach nicht anders hergeben- regelmäßig abwertend mit dem unzutreffenden Label „neoliberale Selbstausbeuter“ belegt, obwohl sie… Mehr
MaMaMia, seid ihr verloren! In Hinsicht dessen ist es vielleicht noch nichtmal verkehrt diese genetische Teilgruppe der modernen Menschheit abschaffen zu wollen.. Money is not the Key to life – or death! Check your Spirit, and your Wallet will be fine …
Wenn man über den tatsächlichen Zweck des Menschen hinwegdenkt, kommt man unweigerlich zu der Tatsache, sich das eigene Leben, so gemütlich wie möglich zu machen. Das waltwide dazu kein Geld benötigt ist bemerkenswert.
Möge er uns einen Einblick ins seine Lebenswirklichkeit gestatten.
Zitat: „Das bedeutet nicht, dass in Politik und Wirtschaft ein bewusster Kosten-Nutzen-Zynismus herrscht, der eine humane Kultur zerstört. Aber es bedeutet, dass es einen wachsenden finanziellen Druck in Richtung Sterbehilfe gibt, der nicht ignoriert werden darf.“ > Mhh, nur ein Gedanke: Wenn Sterbehilfe gesetzlich erlaubt wird, vielleicht sollte hier dann gesetzlich festgesetzt werden, dass die Sterbehilfe nur von Unternehmen mit ärztlichen/med. Hintergrund durchgeführt werden dürfen UND das diese ausführenden Unternehmen außer einer reinen Unkostenerstattung (z.Bsp für Materialien und Arbeitszeit usw) ansonsten keinerlei finanz Gewinn erziehlen dürfen.🤔 Mir ist schon klar, dass sich hier besonders letzteres mit dem finanziellen Teil etwas… Mehr
„Ein wahrhaft würdevolles Sterben setzt eine Gesellschaft voraus, in der ein Klima der selbstverständlichen Zuwendung herrscht“ Das wäre natürlich sehr wünschenswert, in der Tatsache sind wir aber so weit entfernt von einer solchen Gesellschaft wie wir nur sein könnten. Es stellt sich schon die Frage, wer hier wem Zuwendung geben soll, wenn die Familien überfordert oder psychisch krank sind und/oder das Pflegepersonal, das jetzt schon keiner mehr bezahlen kann usw. Wer mal ganz unten war, und sei es nur, dass er als Kind obdachlos wurde, lernt außerdem, dass da niemand in der Gesellschaft wirklich hilft (an Zuwendung ist schon gar… Mehr
Das ökonomische Postulat unserer westlichen Gesellschaften ist ein Faktor: Bindungen, die den wirtschaftlichen Erfolg des einzelnen hindern, werden oft leichtfertig zerstört. Ein besser bezahlter Arbeitsplatz rechtfertigt weite Umzüge, was Freundschafts- und Familienbande schwächt/beendet. Familienarbeit zählt weniger als Erwerbstätigkeit.
Die moderne „Befreiungstheologie“ postuliert zudem, dass die Gesellschaft den einzelnen mit Bindungen fessele, die man zerschneiden müsse. Zu Weihnachten etwa viele Artikel, wie man dem Familien-Elend entgehen könne, so, als ob Familie nur Gefängnis bedeute.
Die resultierende Vereinsamung ist ein hoher Preis für wirtschaftlichen Erfolg und individuelle „Befreiung“.
Also umbringen darf ich mich.
Wenn ich aber mit meinem alten Diesel nicht
angeschnallt durch die Gegend fahre, muss ich
ein Bußgeld zahlen.
Kann mir das bitte jemand erklären.
Nichts weiter als ein neues Mittel gegen Weiße/Europäer. Denn nur die würden je auf den Gedanken kommen kommerzialisierten Suizid zu begehen.
Es kann sicherlich schön sein alt zu werden. Endlich Zeit für sich zu haben, machen zu können was immer man möchte und sich leisten kann. Aber unsere Gesundheitstechnik hält inzwischen Menschen am Leben, die auf Grund ihrer Demenz nicht einmal mehr wissen wer sie selbst sind, die auf Grund eines verletzlichen Körpers nur noch im Bett liegen und künstlich ernährt werden. Das sind lebende Körper aber keine Menschen mehr. Wer das einmal gesehen hat, wird alles dafür tun vorher rechtzeitig zu sterben. Für viele alte Menschen ist ihr Leben nur noch ein Warten auf den Tod. In ihren Heimen werden… Mehr
Wer Hand an sich selbst legt hat gute Gründe.
Erinnert euch an die frühestmögliche Kindheitserinnerung.
Was war davor?
Alles schwarz!
Aber die spätestmögliche Erinnerung spielt keine Rolle.
Alles schwarz!
Schon George Michael oder Joe Marx stuften das Leben als Zeitverschwendung ein.
Und die sind eines natürlichen Todes gestorben.
Robin Williams oder Robert Enke haben Suizid begangen.
Worin unterscheidet sich also die Erkenntnis?