Die Globalisierung geht auch an Indiens Musliminnen nicht vorbei. Viele sind es leid, Opfer eines archaischen Familienrechts zu sein. Sie hoffen auf ein Ende der rechtlich sanktionierten Ungleichbehandlung, die Kritiker auch „religiöse Apartheid“ nennen.
Die Aussage ist eindeutig: Die indische Regierung fordert das Oberste Gericht auf, die Praxis der „Scheidung durch Verstoßung“ – „talaq“ genannt – sowie die Vielehe für verfassungswidrig zu erklären.
Mit dieser Grundsatzentscheidung in einer zentralen Frage des Familienrechts der muslimischen Minderheit erreicht ein seit Jahrzehnten, ja letztlich seit der Republikgründung schwelender Streit einen Wendepunkt. Die Frage, welches Scheidungsrecht für Indiens Muslime zu gelten habe, ist seit jeher mehr als ein juristischer Disput. Hier geht es um das prekäre Verhältnis von religiöser Mehrheit (Hindus) zu religöser Minderheit (Moslems), sodann um eine staatspolitische Grundsatzfrage: Wie säkular ist die indische Republik?
Als Verfassungsgrundsatz ist der Säkularismus in Indiens Grundgesetz festgeschrieben. In der größten Demokratie der Welt klaffen Verfassungsanspruch und Verfassungswirklichkeit aber nicht selten auseinander. Das gilt auch, wenn es um die Situation der 180 Millionen Inder muslimischen Glaubens geht.
Nur in Indonesien leben mehr Muslime als in Indien. In zivilrechtlichen Fragen gilt für sie ein gesondertes – islamisches – Personenstandsrecht. Bei Heirat, Scheidung, Adoption oder Erbfolge ist für Indiens Muslime die Scharia das Maß aller Dinge. Die Debatten darüber, ob dieser Sonderstatus mit dem Einheitscharakter Indiens und dem oft gefeierten Säkularismus des südasiatischen Vielvölkerstaates kompatibel ist, sind so alt wie die Republik selbst.
Vereinfacht ausgedrückt stehen sich zwei Lager gegenüber: Die Befürworter eines islamischen Personenstandsrechts verweisen auf den Grundsatz der Religionsfreiheit, der ebenfalls einen hohen Rang in Indiens Verfassung einnimmt. Für sie ist das islamische Recht eine identitätsstiftende Klammer, ein Instrument zur Bewahrung einer muslimischen Identität. Auf der andren Seite stehen die Verfechter eines einheitlichen Zivilrechts; sie bemühen den Grundsatz des Säkularismus und verlangen, dass für alle indischen Bürgerinnen und Bürger – unabhängig von der jeweiligen Religionszugehörigkeit – ein und dasselbe Recht zu gelten habe.
In den indischen öffentlichen Debatten, die in hohem Maße von den großen Englisch-sprachigen Tageszeitungen geprägt werden, haben die Scharia-Befürworter einen schweren Stand. Viel Platz nehmen Berichte über Musliminnen ein, in denen diese über die Auswirkungen der Scheidungspraxis des so genannten „dreifachen talaq“ klagen. Die Times of India berichten über den Fall der Ishrat Jahan, die Opfer der kontroversen „Blitzscheidung“ wurde, als ihr in Dubai lebender Ehemann in einem Telefonat drei Mal das Wort „talaq“ (wörtlich: Verstoßung) aussprach. Damit war die Ehe nach islamischer, in Indien praktizierter Rechtspraxis hinfällig.
Nun klagt die Verstossene vor Gericht um Alimente und das Sorgerecht für die Kinder. Der Fall hat es bis in die höchste Instanz geschafft und – mit anderen, ähnlich gelagerten Fällen – die demnächst anstehende Grundsatzentscheidung des Obersten Gerichtes nötig gemacht.
Für weltoffene säkulare Inder sind die „Blitzscheidungen“ auf dem Weg eines dreimaligen Zurufs des Mannes ein unerträgliches Überbleibsel aus einer längst überwunden geglaubten Zeit: „Das ist eine Art IS-Recht, das in Indien herrscht“, zitiert die Nachrichtenagentur Associated Press die am Obersten Gericht zugelassene Anwältin Monika Arora, die eine Parallele zur Terrormiliz „Islamischer Staat“ herstellt. „Kein progressives Land kann dies tolerieren.“
Für die Abschaffung des Sonderscheidungsrechts für Muslime streiten verschiedene Nichtregierungsorganisationen. Eine Kampagne rühmt sich, 50.000 Unterschriften gesammelt zu haben und zitiert eine wenig repräsentative Umfrage, nach der 92 Prozent der indischen Musliminnen für die Abschaffung der „Blitzscheidung“ seien.
Indiens Scharia-Befürworter reagieren gelassen: „Diese Randgruppen haben keine Glaubwürdigkeit bei den muslimischen Massen“, sagt Asma Zehra. Die vollverschleierte Frau spricht für den „All India Muslim Personal Law Board“ (AIMPLB). Hinter dem sperrigen Namen verbirgt sich der 1973 ins Leben gerufene Verband, dessen Hauptanliegen die Bewahrung eines eigenen, islamischen Personenstandsrechts für Indiens Muslime ist. In der politisch fragmentierten muslimischen Bevölkerung gilt AIMPLB als die führende und einflussreichste Organisation der religiösen Minderheit.
„Alle, die zu einem prinzipienlosen Lebensstil wechseln wollen, können nach den zivilrechtlichen Vorschriften des Landes heiraten“, empfiehlt Asma Zehra ihren Gegnern. Während dieser Hinweis für gut gebildete Musliminnen in der Anonymität der urbanen Zentren eine Option sein mag, ist es eher unwahrscheinlich, dass die Masse der überwiegend ungebildeten, verarmten Frauen sich dem sozialen Druck des Establishments in einer nach wie vor in hohem Maße patriarchalischen Gesellschaft entziehen können.
In der aktuellen Debatte wählt die Regierung einen Mittelweg und meidet die totale Konfrontation mit dem größten Muslim-Verband: Eindeutig ist zwar das Verlangen nach einem Verbot der „Blitzscheidung“ und der Polygamie. Ausgeblieben ist indes die Forderung nach Einführung eines einheitlichen, für alle Religionsgemeinschaften verbindlichen Zivilrechts, wie es im Wahlprogramm der Bharatiya Janata Party (BJP, Indische Volkspartei) des Narendra Modi angekündigt worden war.
„Die Gleichheit der Geschlechter und die Würde der Frau sind nicht verhandelbare überlagernde Verfassungswerte. Hier kann es keinen Kompromiss geben“, heisst es in dem Regierungspapier. Um der Argumentation vor allem in muslimischen Zielgruppen Gewicht zu geben, verweist die Regierung auf die Rechtspraxis in einer Reihe mehrheitlich muslimischer Staaten, die namentlich genannt werden: Pakistan, Bangladesch, Afghanistan, Marokko, Tunesien, die Türkei, Indonesien, Ägypten und Iran. „Die Tatsache, dass muslimische Länder, in denen der Islam Staatsreligion ist, weitreichende Reformen durchgeführt haben, zeigt, dass die besagten Praktiken nicht als integraler Bestandteil des Islam bezeichnet werden können.“
Es ist eine Ironie der Geschichte, dass sich ausgerechnet die Hindu-nationalistische BJP, die politisch am rechten Rand angesiedelt ist, als Sachwalterin des Säkularismus und der Rechte der muslimischen Frau profiliert. Die politische Heimat der gesellschaftlich marginalisierten und über mannigfache Diskriminierung klagenden Muslim-Minorität ist traditionell die Kongress-Partei, die aktuell auf den harten Bänken der Opposition sitzt. Kritiker werfen der Partei Gandhis und Nehrus vor, aus wahltaktischen Motiven zu lange mit dem konservativen muslimischen Establishment und den religiösen Eliten der Minderheit gemeinsame Sache gemacht und dabei die Zeichen der Zeit verschlafen zu haben.
Im Zuge der Globalisierung ist die Modernisierung auch an Indiens Musliminnen nicht spurlos vorbeigegangen. Viele von ihnen sind es leid, Opfer eines archaischen Familienrechts zu sein. Sie hoffen auf ein Ende der rechtlich sanktionierten Ungleichbehandlung, die Kritiker auch als „religiöse Apartheid“ bezeichnen.
Dr. Ronald Meinardus leitet das Regionalbüro Südasien der Friedrich Naumann Stiftung für die Freiheit (FNF) in Neu Delhi. Zuvor verbrachte er viele Jahre im Nahen Osten, in Ostasien und Griechenland. Der gelernte Hörfunkredakteur nennt journalistisches Schreiben ein Hobby. Für ihn ist die Informierung interessierter Menschen in Deutschland über die Partnerländer auch Teil seines beruflichen Auftrags. Das gelte besonders für Indien, das in den deutschen Medien nicht die Beachtung finde, die ihm wegen seiner Größe, vor allem seines enormen Potentials zustehe.
Sie müssenangemeldet sein um einen Kommentar oder eine Antwort schreiben zu können
Bitte loggen Sie sich ein