Es geht um den Markenkern und um die Perspektiven zur Gestaltung von Deutschland, Europa und der Welt. Welche realistischen Machtperspektiven kann es geben? Die sehr einfache Frage: “Welche Hoffnung gibt es denn?“ ist nicht einfach zu beantworten.
Der SPIEGEL-Redakteur Markus Feldenkirchen durfte – ganz im Gegensatz zu den üblichen Gepflogenheiten – den SPD-Kanzlerkandidaten Martin Schulz fast ein halbes Jahr lang im Wahlkampf begleiten und war bei über 50 (auch internen) Terminen dabei (SPIEGEL Nr. 40 vom 30.9.2017).
1. Siegessicherheit wider besseres Wissen
Martin Schulz hatte trotz eines riesigen Rückstands in allen Wahlprognosen nicht nur permanent erklärt, er werde Kanzler der Bundesrepublik Deutschland, sondern in seinem Zweckoptimismus gleich auch noch der amtierenden Kanzlerin die Vizekanzlerschaft unter seiner Führung angeboten – scheinbar ein Fall von völligem Realitätsverlust. Der SPIEGEL beschreibt eindringlich, wie die SPD und der Kandidat permanent die Umfrage-Werte beobachtet haben. Die Realität drängte auch bei Martin Schulz zum Gedanken: „Ich kann mich nicht lächerlich machen. Ich muss da jeden Tag erklären, dass ich Kanzler werden will, und jeder weiß: Der wird niemals Kanzler. Die Leute finden mich peinlich, die lachen doch über mich.“ (SPIEGEL S. 25). Die völlig unglaubwürdige Kanzler-Vision hat bei vielen Menschen dazu geführt, gar nicht mehr hinzuhören. Motto: der erzählt viel, wenn der Tag lang ist, aber er wird nichts umsetzen, weil er nicht Kanzler wird. Im Wahlkampf kommuniziert wurde eine grundlegend falsche Annahme, wohl um andere Fragen (wie die nach der Machtperspektive) zu vermeiden.
2. Unnötige Dämonisierung des Gegners – Merkel gleich Erdogan/Kaczynski?
Die Schulz-Kampagne schwankte in ihrer Wahlkampf-Idee zwischen unkonkret bleiben (am Anfang) und konkrete Vorschläge machen (am Ende), zwischen weniger scharfer und schärferer Attacke auf Merkel. Irgendwann hatte Martin Schulz eine eigene Idee und freute sich über den Jubel von 6.000 Freunden in der Dortmunder Westfalenhalle ebenso wie über die Presse-Resonanz. Er warf Kanzlerin Merkel vor, sich nicht mit ihm auf jede Kontroverse einzulassen und Konflikte zu vermeiden und verstieg sich zu einer in allen relevanten Medien verbreiteten Formulierung, auf die er auch noch stolz war: „Die sinkende Wahlbeteiligung vorsätzlich in Kauf zu nehmen ist ein Anschlag auf die Demokratie.“ (SPIEGEL S. 17). Faktisch ist die Wahlbeteiligung (um fast 5%) gestiegen, hängen geblieben ist aber nur der letzte Teil: Merkel begeht einen Anschlag auf die Demokratie. Schulz stellte Merkel in eine Reihe z. B. mit Erdogan und Kaczynski – wen soll das überzeugen?
3. Wedelt der Schwanz mit dem Hund?
Der SPIEGEL zeichnet das Bild eines Kanzlerkandidaten, der von Natur aus sehr kämpferisch und prägnant ist, aber durch die „Wahlkampf-Maschine“ im Willy-Brandt- Haus und seine Berater „weichgespült“ wurde. Der SPIEGEL berichtet aus internen Sitzungen, in denen es um eine Rede des Kanzlerkandidaten ging, für die Martin Schulz einige eigene Ideen hatte. Schulz probte die von seinen Helfern formulierte Rede und war verwundert: „Fast alles Scharfe, Mutige, auch Riskante, das er drei Tage vorher angeregt hatte, ist raus. Es ist nicht ganz klar, wie viele Abteilungsleiter hier am Werke waren, aber sie scheinen erstens ihren Kandidaten und zweitens die Gesetze des Wahlkampfs schlecht zu kennen. Den gewinnen eher selten die bravsten Herausforderer.“ (DER SPIEGEL, S. 17). Da dürfte der Spiegel-Redakteur zwar die Sicht von Schulz transportieren – aber ein so unprofessionelles Helfer-Team kann sich kein Kandidat leisten. Und die Frage bleibt, warum der Schwanz mit dem Hund wedeln durfte. Minimal müsste Schulz jetzt für den Fall seines Verbleibens im Amt des SPD- Vorsitzenden viele personelle Konsequenzen ziehen und sich von einigen Abteilungsleitern trennen.
4. Für oder gegen Schröder und die Agenda?
Der SPIEGEL berichtet, dass Schulz von einem Meinungsforscher darüber aufgeklärt wurde, dass sein Höhenflug nach seiner Nominierung auch mit seiner Kritik an den Hartz-Gesetzen der Regierung Schröder zu tun hatte. Die 33% in den Umfragen zu Beginn sind immer mehr abgeschmolzen, und die ausdrückliche Einladung an Gerd Schröder zum Parteitag vor der Wahl hat sicher nicht den Eindruck verstärkt, Schulz wolle sich von dem Erbe der Agenda befreien. DER SPIEGEL: „’Die neue Klientel war die alte Klientel der SPD, die verloren gegangen ist’, sagt Hilmer. Millionen Menschen, die sich vor allem nach der Agenda 2010 abgewandt hätten. Diese Leute hätten kurzzeitig zur SPD zurückgefunden, seien jetzt aber wieder weg.“ (S. 19).
So war der auf dem SPD-Parteitag am 25.6.2017 umjubelte Schröder (SPIEGEL vom 25.6.: „Schröder begeisterte den Saal“) sicher kein Wahlkampf-Helfer für Martin Schulz. Eine interessante Frage ist, wie viele der 9,5 Millionen SPD-Wähler die Partei 2017 wegen und wie viele sie trotz Schröder gewählt haben.
5. Nur Rangelei um die GroKo-Führung und SPD gleich CDU?
Wenn Martin Schulz mitten in seinem Wahlkampf gegen die amtierende Kanzlerin dieser die Vizekanzlerschaft unter seiner Führung anbietet, dann ist das doch nicht anders als das Angebot zu einer großen Koalition zu verstehen. Dieses Interesse des Kandidaten war vielleicht nicht wirklich überraschend – man erinnert sich an den Europa-Wahlkampf des Spitzenkandidaten Schulz gegen seinen großen Kumpel Juncker von den Konservativen, in dem Schaum geschlagen und später schnell alle Posten ausgedealt wurden. Aber es zeigt das Dilemma, das auch ein inhaltliches war. Schulz hielt das CDU-Wahlprogramm für eine Kopie der SPD-Ideen: „Haben wir den Mut zu sagen: Das ist abgeschrieben!“… „Schlicht und einfach von uns abgeschrieben“ (so Schulz laut SPIEGEL, S. 17).
Damit war die Verlängerung des Dilemmas eines konfrontativen Oppositions- Wahlkampfes aus der Regierungsverantwortung heraus unvermeidlich: Aus Gründen der Show mussten Differenzen konstruiert werden, an die man selber nicht geglaubt hat und das Interesse an einem Ende der Großen Koalition suggeriert werden, an der man im Prinzip festhalten wollte.
6. Opposition aus Staatsräson?
Der bisherige SPD-Fraktionsvorsitzende Thomas Oppermann hat nach übereinstimmenden Medienberichten zu der Wahlniederlage erklärt, bei einem Wahlergebnis von 23% wäre die SPD in eine große Koalition eingetreten, bei 20% präferiere sie die Opposition. Der Hamburger Bürgermeister Olaf Scholz hat noch am Wahlabend den Gang in die Opposition mit der Übernahme staatspolitischer Verantwortung erklärt: man wolle der AfD nicht die Rolle der Oppositionsführung überlassen. (Hätte man das bei 2,5% mehr Wählerzuspruch getan?). Auf die Vorhaltung des Interviewers, Franz Müntefering habe doch gesagt „Opposition ist Mist“, hat Olaf Scholz dann zustimmend erklärt, das sei wahr – aber man müsse ja an die Demokratie denken. Etwas viel scheinbare Selbstaufopferung.
In Zukunft kann es ja kein Wahlkampfziel sein, stärkste Oppositionsfraktion zu werden. Also bleibt die Frage nach zukünftigen Machtoptionen – und danach, auf welche Variante(n) sich denn die unterschiedlichen Kräfte in der SPD verständigen können.
7. Keine Analyse, keine Erneuerung, keine Perspektive?
Als die SPD im Jahr 2004 bei der Europawahl gerade noch 23% erreicht hat, waren u. a. Heinz Thörmer (immerhin 25 Jahre sehr eng an der Seite von Gerd Schröder) und ich alarmiert. Wir haben lange an einem Buch gearbeitet, das Anfang 2007 erschienen ist: „Aufstieg und Krise der Generation Schröder“. Der Schlusssatz (S. 159) artikulierte die Hoffnung auf massive Veränderungen der Partei mit der Folge, „dass die 140 Jahre alte Tante SPD nicht auseinander fällt wie ein marodes Gebäude oder implodiert wie ein defektes Fernsehgerät, sondern dass sie sich bei den weiteren Wahlen zumindest stabilisiert.“
7.1. Fragen zur Diagnose
Ohne halbwegs zutreffende Diagnose gibt es kaum Chancen auf eine wirksame Therapie. Einfache Fragen scheinen unbeantwortet: Was erklärt den Absturz der europäischen Sozialdemokratie in die weitgehende Bedeutungslosigkeit? Weniger als 6% in Griechenland, um 7% in Frankreich und um 6% in Holland sind für ehemalig regierende sozialdemokratische Parteien ein Desaster. Und was erklärt den Absturz der deutschen Sozialdemokratie von über 40% der Wählerstimmen im Jahr 1998 auf gerade einmal 20% im Jahr 2017? Wenn in den SPD-Hochburgen statt ehemals über 50% gerade einmal 30% erreicht werden und in vielen Landstrichen jedes Ergebnis über 10% als Erfolg gilt – woran liegt das?
7.2.Fragen zur Erneuerung
Die SPD hat nach einschneidenden Wahlniederlagen in der Vergangenheit mehrfach vorgeführt, wie „Erneuerung“ aussieht. Die Wahlverlierer an der Spitze der Partei lassen sich am Wahlabend in der Parteizentrale für ihre katastrophalen Ergebnisse feiern, übernehmen die Verantwortung und teilen die wichtigen Jobs am besten noch in der Wahlnacht weiterhin unter sich auf. Zur Not wird eine Spitzenfigur geopfert, die andere(n) besetzen die Kommandohöhen der Macht.
7.3. Fragen nach den Perspektiven
Der Angelpunkt für das Ansehen aller Personen und Positionen dürfte die Frage der Glaubwürdigkeit und der Ehrlichkeit sein: Man kann nicht Massen für Positionen mobilisieren, an die man selber nicht glaubt. Und irgendwann kann man sich um Entscheidungen nicht mehr herummogeln. Formelkompromisse und Personen- Proporz zwischen unterschiedlichen Flügeln der Partei helfen bei 20% an Wählerstimmen irgendwann nicht mehr weiter. Es geht um den Markenkern der Partei und um die Perspektiven zur Gestaltung von Deutschland, Europa und der Welt. Welche realistischen Machtperspektiven kann es denn geben? Die sehr einfache Frage: “Welche Hoffnung gibt es denn?“ ist leider nicht sehr einfach zu beantworten.
Edgar Einemann ist Professor im Studiengang Informatik der Hochschule Bremerhaven. 1968-2013 SPD- Mitglied, 1992/93 Abteilungsleiter Organisation in der SPD-Parteizentrale. URL: www.einemann.de
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Die Sozialdemokratie war dann erfolgreich als sie starke Persönlichkeiten an der Spitze hatte, in den siebziger Jahren Willy Brandt, Herbert Wehner und Helmut Schmidt, später dann Gerhard Schröder.
In Parteizentralen ausgeklügelte Strategien zur Einflussnahme auf Wahlentscheidungen des Souveräns helfen wenig bis nichts, wenn an der Spitze
Leute agieren ohne Charisma.
Man vergleiche nur eine Figur wie Oppermann mit dem in politischen Kämpfen
gestählten Herbert Wehner, dem damaligen Zuchtmeister der SPD.
Die SPD ist nur noch ein trauriges Abbild dessen was sie mal war. Wahlergebnisse von 10-15% wie die ihrer Schwesterparteien im übrigen Europa sind schon mehr als genug.
Tja, nach eigener Aussage ist z.B. Wolfgang Kubicki, nun da er doch nach Berlin gekommen ist, in Gefahr, ein „Trinker und Hurenbock“ werden. Ganz sicher aber wird er im Parlament ein Stänkerer und sturer Bock werden.
http://www.bz-berlin.de/artikel-archiv/vor-berlin-hatte-ich-immer-angst-hier-zum-trinker-oder-hurenbock-zu-werden-jetzt-bin-ich-sittlich-und-moralisch-gefestigt
Warum, immer wieder die Frage warum die SPD da steht wo sie inzwischen angekommen ist. Aus meiner einfachen Sicht der Dinge sind dies 2 Ursachen: 1. Das Personal der SPD besteht nur noch aus aalglatten Karrieristen, die sich schon in der Schulzeit für die Parteikarriere entschieden haben und denen der Mensch in diesem Land völlig gleichgültig ist. 2. Die „Eliten“ der SPD sind unerreichbar weit weg von denen die schon länger hier leben und den Wohlstand schaffen, den diese Herrschaften genießen und mit vollen Händen aus dem Fenster werfen. Die echten Probleme in diesem Land werden bagatellisiert oder die Bürger… Mehr
Es ist doch gar nicht schwer: ein Politiker, der nie demokratisch legitimiert zum Multimillionär wurde und was von „sozialer Gerechtigkeit“ faselt, ist unglaubwürdig. Einer, der die echten Probleme des Landes nicht anerkennen will (anders kann ich das nicht ausdrücken mit Blick auf die Migrationskrise) und stattdessen noch mehr davon will, da wäre der Wähler ja nicht ganz bei Trost, so einen zu wählen. Auch hat ihn m.E. sein ehemaliges Alkoholproblem runtergezogen – völlig zu Recht. Nicht, dass er es hatte (solche Vorhaltungen wären unfair). Das kann theoretisch jedem passieren. Vielmehr die Aussage dahinter: ich hab Probleme, die betäube ich jetzt… Mehr