Der Islam tritt in Europa zu einer historischen Zeit auf den Plan, in der die Idee vom Fortschritt schwach geworden ist.
Es geht gegen die Moderne, gegen Säkularismus
Westliche Gesellschaftstheoretiker (z. B. Gray: Die Geburt al-Qaidas aus dem Geist der Moderne) gefallen sich darin, die Verantwortung für den Totalitarismus islamischer Prägung den modernen Vorbildern Faschismus und Marxismus anzulasten. Darin steckt einerseits subtile Polemik: Liebe Moderne, selbst schuld, aber zugleich ein unangebrachtes Maß an Selbstüberschätzung. Nicht auf alles auf der Welt hat die westliche Moderne ein Copyright. Eine Linie vom Faschismus zum Islamismus zu ziehen, ist nicht falsch, aber diese Verbindung ist zu kurz. Der Faschismus mit seinen Fantasien vom Tausendjährigen Reich und der Marxismus mit dem Ziel der Weltrevolution, der profanen Variante des Paradieses, sind ebenfalls Knoten in einer langen Schnur, die bis zu den Apokalypsen der Offenbarungsreligionen zurückreicht. All diesen Lehren gemeinsam ist die Arbeit am Endsieg. Nachdem die profanierten Ideologien versagt haben, ist nun wieder das Original am Zuge: die apokalyptische Religion. Die säkularisierten Varianten mit ihrer Diesseits-Heilserwartung werden nun wieder um die Jenseitskomponente erweitert und damit der Kreis geschlossen. Tatsächlich nichts Neues unter der Sonne, natürlich abgesehen von den verfügbaren Waffen.
Das zentrale Schlagwort der Islamisten lautet: „Al-islam huwa-l-hall“: „Der Islam ist die Lösung“. Gemeint ist damit die Lösung aller politischen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Probleme durch Schleier, Bart und Gebetsschwiele. Das Wort hall (Lösung) hat aber noch andere Bedeutungen. Es heißt auch Lossprechung, Absolution. Wie so viele angeblich echt islamische Begriffe stammt er ursprünglich aus der christlichen Tradition. Die Bedeutung „Endlösung“ schwingt darin mit. Hall hat eine apokalyptische Dimension. Vor dem Islam war schon das Christentum apokalyptisch und hat apokalyptisch in der Geschichte gewirkt. Die Offenbarung des Johannes, eine Hasspredigt, war ein Schlüsseltext des Nationalsozialismus. (Bärsch, Die politische Religion des Nationalsozialismus, S. 315) Der halluzinierte Endzweck, die vollkommene, harmonische, ewig geeinte Gesellschaft, ist ohne das Schwert nicht zu bekommen. Der Dschihad ist ein erneuter Versuch, die Geschichte in einem Gottesreich an ihr Ende zu bringen.
Der islamistische Terror ist Fortsetzung von Kulturkritik mit anderen Mitteln. Der Westen hat bisher nicht verstanden, dass ein großer Teil der Menschheit seine Werte ablehnt und schon immer abgelehnt hat. Der Westen glaubt seit der Aufklärung an eine universale Rationalität. Er pflegt eine liberale Naivität, einen einfältigen Optimismus. (Berman, Terror und Liberalismus, S. 163f) Nun ist er enttäuscht.
Muslime dürfen nach islamischer Lehre keine Säkularisten sein. Das Volk kann nicht Souverän sein, weil nur Gott der Souverän ist. Der Primat der menschlichen Vernunft wird abgelehnt. Absolutes kosmologisches Wissen steht gegen relatives menschliches Wissen. Unveräußerliche und ewige Rechte, die dem Menschen allein aufgrund seines Menschseins außerhalb des Raumes der Religion, ja sogar gegen religiöse Autoritäten zukommen, kann es ebenfalls nicht geben, sonst wäre der Tatbestand der Vielgötterei erfüllt, schirk, die größte Sünde im Islam. Demokratie ist Atheismus. Individualismus ist unislamisch. Die ummah, die Gemeinschaft der Muslime, steht über dem Individuum. Frauen und Nichtmuslime sind nicht gleichberechtigt.
Die Scharia macht den Islam aus, nicht der Glaube
Dies sind die Grundlinien der Scharia. Die Scharia, das Gesetz, macht den Islam aus. Dem Islam kommt es auf Glauben nicht an, es geht um die Scharia, notiert der islamistische Vordenker Sayyed Qutb in seiner programmatischen Schrift Milestones. Die Theologie ist zweitrangig. „Theologie, wie sie im Westen verstanden wird, ist im Christentum zentral, im Gegensatz zum Islam, wo Theologie nicht so wichtig ist wie das islamische Recht,“ schreibt einer der bedeutendsten muslimischen Denker der Gegenwart, Seyyed Hossein Nasr. Derselbe Gelehrte fügt hinzu: „Islam ist eine Nomokratie, das heißt ein System, das vom Gottesrecht regiert wird.“ (Nasr, A Young Muslim’s Guide to the Modern World, Kindle Pos. 1244-1245: „Islam is a nomocracy, that is a system of rule by Divine Law.“) Dieser Satz kann gar nicht oft genug wiederholt werden. Der Islam ist in erster Linie Nomos. Religion im islamischen Sinne ist nicht nur Kultus und Bekenntnis, sondern beinhaltet verbindliche Regeln für alle, Gläubige und Ungläubige.
Im Westen wird Religion als Überbauphänomen betrachtet, das nie „wirklich“ der Grund für irgendetwas sein kann. „Wirkliche“ Gründe im Sinne einer wissenschaftlichen Analyse sind immer ökonomischer, sozialer, politischer Art. Der Punkt ist nur: Islam ist ökonomisch, politisch und sozial. Mit Islam ist auch eine bestimmte Form des menschlichen Zusammenlebens gemeint. Dazu gehören die Geschlechtertrennung und die Zuweisung bestimmter Räume und Aufgaben an die Frauen, genannt „Schutz durch das Gesetz“, dessen Frauen besonders bedürften. Dazu gehören das Zinsverbot, was einen weit reichenden Eingriff in die wirtschaftliche Verfassung westlicher Gesellschaften bedeuten würde, und die Alkoholprohibition, was nicht nur individuell zu bewältigende Unbequemlichkeiten, sondern auch umfassende Berufs- und Gewerbeverbote mit sich bringen würde. Der Islam lässt es nicht bei Gebeten bewenden.
Der Islam ist selbst Rechtsordnung und lässt sich in keine andere einordnen
Europäische Politiker erwarten, dass der Islam Teil des Nationalstaats wird. Der Islam will sich dagegen die Staaten unterordnen. „Der Islam“ ist nicht nur ein privater Glaube, sondern einer, der Allmacht und Vorherrschaft für sich beansprucht, und er ist zudem ein Rechtssystem, dessen Kompatibilität mit autochthonem Recht zumindest geprüft werden müsste. Der Westen hat nicht nur eine andere Religion, sondern auch ein anderes Recht importiert. Noch einmal: Islam ist nicht in erster Linie Theologie, sondern Jus.
Bei einer Prüfung würde sich herausstellen, dass islamisches Recht in großem Umfang mit dem Grundgesetz nicht vereinbar ist. Es ist kaum zu glauben, dass die Außerkraftsetzung von Grundrechten wirklich gewollt wird, aber dies wird eintreffen, wenn der Islam weiterhin auf dieselbe Weise rezipiert wird wie bisher. Wenn die Inschutznahme von Minderheiten gegen eine Minderheit, die gegen Rechte anderer Minderheiten agitiert und Meinungs- und Religionsfreiheit ablehnt, diffamiert wird. Wenn Wiedergutmachung sich das falsche Objekt wählt und unbedacht (?) eine feindselige und potentiell zerstörerische Lehre päppelt.
Wie kann das sein? Einiges liegt an den Politikern, Eliten, Entscheidern und ganz normalen Menschen, die über kein historisches Tiefengedächtnis mehr verfügen. Sie wissen schlicht nicht mehr, dass Freiheit und Gleichheit schwer errungen wurden. Es sind tatsächlich „Errungenschaften der Moderne“. Erinnert sich noch jemand an dieses Schlagwort, das oft gedankenlos nachgeplappert wurde? Es hat Bedeutung! Die berühmte „Aufklärung“ kam nicht einfach vom Himmel. Sie war kein Wetterphänomen, das plötzlich das „dunkle Mittelalter“ ablöste. Deutschland hat lange gekämpft, um ein säkularer Staat zu werden. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass heute Linke und Liberale der Religion wieder eine prägende Kraft und Rolle zubilligen wollen. Wenn das Christentum, speziell der Katholizismus, heute noch im Westen herrschte, dann lebten wir in einem Kirchenstaat nach dem Modell des Vatikans, dem einzig verbliebenen absolutistischen System in Europa. Es gäbe keine Demokratie, denn das kanonische Recht kennt wie die Scharia nur die Souveranität Gottes. Frauen und Männer wären nicht gleichberechtigt, Ehescheidung wäre verboten, ebenfalls Abtreibung unter allen Bedingungen, auch bei akuter Gefahr für das Leben der Mutter. Frauen würden das Kopftuch tragen, so wie es heute bei einer Papst-Audienz vorgeschrieben ist.
Aufklärung und Reformation waren keine rein geistigen Prozesse. Es gab Gewalt und Krieg in Europa. Die alten religiösen Mächte gaben nicht klein bei, weil eine schöne, neue, überzeugende Idee auf den Plan trat und sie von ihr bezaubert waren, sondern sie wurden in die Knie gezwungen.
Dem Islam, der die katholische Kirche als Speerspitze der Gegenaufklärung in Europa abgelöst hat, bzw. ihren konservativen Kräften zur Seite steht, widerfährt heute das Gegenteil. Er tritt in Europa zu einer historischen Zeit auf den Plan, in der die Idee vom Fortschritt schwach geworden ist. Dass der Islam bisher nichts zum Fortschritt beigetragen hat, spricht darum nicht gegen ihn. Es lässt ihn sogar irgendwie sauber und unschuldig aussehen. Er wird behütet und beschützt von toleranten Christen und multikulturellen Agnostikern. Man wartet darauf, dass er sich von innen heraus selbst reformiert und modernisiert – aber warum sollte er?
Bärsch, Claus-Ekkehard.: Die politische Religion des Nationalsozialismus, München 2002
Berman, Paul: Terror und Liberalismus, Hamburg 2004
Bostom, Andrew: Sharia versus Freedom, Amherst 2012
Goldhagen, Daniel: Schlimmer als Krieg. Wie Völkermord entsteht und wie er zu verhindern ist, München 2009
Gray, John: Die Geburt al-Qaidas aus dem Geist der Moderne, München 2004
Köster, Barbara: Der missverstandene Koran. Warum der Islam neu begründet werden muss, Berlin 2015
Nasr, Seyyid Hossein: A Young Muslim’s Guide to the Modern World, Kindle-Edition
Qutb, Sayyid: Milestones, New Delhi 2006
Gastautorin Barbara Köster hat Soziologie und Politikwissenschaften studiert.
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