"Populisten" bedienen ein Bedürfnis. Die bestehenden Machtverwalter haben ein Vakuum entstehen lassen. Populisten füllen dieses Vakuum. Um die Populisten zu verstehen, muss man die Lücke verstehen, in die sie stoßen.
Detroit, eine Straßenecke, ein müder Mann in besten Jahren, das Jahr 1930. Er ist arbeitslos. Er ist krank. Und weil er krank, arbeitslos und in besten Jahren ist, suchte seine Frau einen anderen. Der Mann hat noch ein paar Dollar übrig und alles, was er in diesem Augenblick vom Leben möchte, ist ein Glas Whisky.
Im Jahr 1930 war es in den USA eigentlich verboten, in einer Bar einen Whisky zu trinken. Es war das dunkle Zeitalter der Prohibition. Also wird jener Mann eine der Kaschemmen aufsuchen, die ihm trotz aller Verbote einen solchen servieren. Im Nachhinein muss man sagen, dass es eine schlechte Idee war, Prohibition und Große Depression überlappend stattfinden zu lassen.
Die Prohibition war, neben dem Frauenwahlrecht, einer der größten politischen Erfolge des westlichen Feminismus. Wie so häufig, leisteten auch bei der Prohibition wieder einmal Frauen die ganze Vorarbeit, erwähnenswert etwa die „Woman’s Christian Temperance Union“ – sie wollten übrigens auch Tabak verbieten und kämpften gegen die „Lust“ in der Ehe – bis dann Männer, bekannt etwa die baptistisch geprägte „Anti-Saloon League“, das Momentum an sich rissen und die Lorbeeren kassierten.
Prohibition vor Wirtschaftsförderung für die Mafia
Die Prohibition war offiziell von 1920 bis 1933 in Kraft. Das Alkohol-Verbot, wie so viele moralisch begründete Verbote, war nicht wirklich zu Ende gedacht. In der Praxis war die Prohibition vor allem Wirtschaftsförderung für die Mafia. Wirklich funktioniert hat sie nie. Verbote schränken doch nur die Anständigen ein, die Unanständigen halten sich ja per Definition nicht dran. Die Lehre aus der Prohibition ist: Wenn die Menschen etwas wirklich, wirklich wollen, ist der Versuch, es zu verbieten, wenig produktiv.
In Deutschland und Europa findet derzeit eine andere Ware besorgniserregenden Absatz, die alle „Anständigen“, besonders jene mit Verbotshintergrund, am liebsten per Gesetz eliminiert sähen. Auf moralischer Ebene ist es ja schon längst verboten. Wir reden vom „Populismus“.
Unsere neuen „Populisten“ gewinnen Wahlen und besetzen auf ganz legalem Weg in Deutschland und Europa ein Parlament nach dem anderen.
In den Zentralen alter Macht rauft man sich die teuer auftoupierten Haare, so vorhanden. Was tun? Wie mit den Bengeln umgehen? Soll man ihre Ehre besudeln? Soll man sie entmenschlichen, ihre gute Absicht verneinen und ihre Wähler beschimpfen? Soll man sie mit dem Leibhaftigen vergleichen? Das wurde alles schon versucht. Es funktionierte alles nicht. Mit den Populisten und ihren Wählern ist es wie mit dem Whiskey und den Trinkern: Was wirklich zueinander kommen will, wird zueinander kommen, da können sich die Gouvernanten vor Wut ins gesteifte Kräglein beißen.
Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts (und zu jeder anderen Zeit wohl auch) gab es in der amerikanischen Gesellschaft ein Bedürfnis der Menschen, Alkohol zu trinken. Um es mit König Salomon zu sagen: „Gebt starkes Getränk denen, die am Umkommen sind, und den Wein den betrübten Seelen, dass sie trinken und ihres Elends vergessen und ihres Unglücks nicht mehr gedenken.“ Betrübte Seelen gab es am Vorabend der Großen Depression genug und die Mafia stand bereit, den Auftrag Salomons zu erfüllen.
Populisten sind ein Epiphänomen
Auch die „Populisten“ heute bedienen ein Bedürfnis. Die bestehenden Machtverwalter haben ein Vakuum entstehen lassen. Populisten füllen dieses Vakuum. Um die Populisten zu verstehen, muss man die Lücke verstehen, in die sie stoßen. Die Populisten sind ein Epiphänomen, sie sind nicht das Phänomen selbst.
Wer Populisten bekämpfen will, ohne den Grund ihres Erfolgs anzugehen, ist wie einer, der in seinem Haus bei Regen die Eimer aufstellt, aber sich nie an die Arbeit macht, das Dach selbst zu reparieren. Das Loch im Dach wird bei jedem Regen weiter aufgerissen, egal wie fleißig du die Eimer wechselst. Egal, wie sehr du das Wasser studierst, dein eigentliches Problem ist das Dach, nicht das Wasser.
Wirksamer Populismus ist ein Kompositum, eine Droge mit mehreren, in Kombination wirkenden Komponenten. Die drei wichtigsten Bestandteile des Populismus sind Versprechen, die der Populist ex- und implizit seinen Wählern gibt:
1. „Ich sage die Wahrheit.“
2. „Ich verteidige dich und was dir wirklich wichtig ist.“
3. „Ich nehme dich ernst und spreche für dich.“
Diese Kombination aus Wahrheit, wirklicher Wichtigkeit und Stimme-des-einfachen-Mannes bedient zutiefst menschliche Sehnsüchte. Die „Etablierten“ haben – aus welchem Grund auch immer – über längere Zeit versäumt, diese Bedürfnisse zu bedienen. Ein Vakuum ist entstanden.
Versprechen 1: „Ich sage die Wahrheit.“
Nicht wenige Menschen haben derzeit das Gefühl, schlicht belogen zu werden. Wir dürfen das „Lügenpresse“-Gebrüll nicht als rein destruktive Medienkritik missverstehen. „Lügenpresse“ ist eine Forderung, ein Schrei nach Wahrheit. Vergessen wir nicht, dass auch das Weglassen relevanter Information eine Lüge ist. Der Beispiele sind viele. Stellvertretend sei nur ein Satz de Maizières zitiert, der wohl erklären sollte, wieso es geradezu Pflicht ist, dass die Mächtigen das regierte Volk ganz bewusst im Dunkeln lassen: „Ein Teil dieser Antworten würde die Bevölkerung verunsichern.“ Wenn die vorhandenen Mächte den Wunsch nach Wahrheit nicht befriedigen können, werden die Menschen eben neue Quellen suchen, so lange, bis sie endlich wieder „die Wahrheit“ zu fühlen meinen.
Versprechen 2: „Ich verteidige dich und was dir wirklich wichtig ist.“
Kein System, keine Gruppe von Dingen, Tieren, Pflanzen oder Menschen wird überleben, wenn dieses System nicht jederzeit versucht, von außen einwirkende Risiken abzuwehren. Die erste Legitimation der Macht ist es, dass der Mächtige die Untertanen beschützt. Das System Wählerschaft gibt dem Mächtigen seine Macht, damit dieser das System vor Gefahr bewahrt. Nun stellen sich Regierende wie Angela Merkel vor ihr Volk, und scheinen zu sagen: Ich riskiere eure Sicherheit zum Wohl einer ganz anderen Menschengruppe! Einige fragen nun: Ist es nicht die erste Aufgabe der Kanzlerin, Schaden von uns abzuwenden? Viele sind verstimmt. Der Schaden, den die Kanzlerin abwendete, als sie die Grenze öffnete und die Welt einlud, war vielleicht nur von moralischer Natur, nicht konkret, nicht praktisch. Sie folgte vielleicht höherem Ethos. Doch ist das die Aufgabe der/s Regierenden?
Der Drang nach Sicherheit sitzt und wirkt tiefer als der Drang nach dem Guten. Um Brecht zu bemühen: Erst kommt das Fressen, dann die Moral. Merkel sagt: Ich verteidige dein gutes Gewissen! Ihre populistischen Widersacher aber sagen: Ich verteidige dich. In Zeiten der Bedrohung sehnt sich das wählende Volk nach einem/r, der/die sie verteidigt, nicht nach einem/r, der/die sie in Gefahr bringt. Merkel ließ ein Fürsorge-Vakuum entstehen. Die Populisten können mit Michael Jackson rufen: They (sprich: die „Etablierten“) don’t really care about us. Die Populisten versprechen, wenn sie an die Macht kommen, uns endlich wieder zu beschützen.
Versprechen 3: „Ich nehme dich ernst und spreche für dich.“
Das schöne Wort „Volksvertreter“ enthält ja einen offiziellen Grund, warum und wozu wir Politiker und Parteien wählen: Er/sie soll uns „vertreten“. Der Volksvertreter soll an unserer Stelle für uns sprechen, wie ein Anwalt für uns spricht. Wer jedoch selbst keine Kinder hat und schon gar keine in Problemviertel-Schulen, sein Leben in edlen Limousinen und beschützt von Bodyguards verbringt, doch zugleich die realen Ängste realer Bürger angesichts realer Gefahren als lächerlichen Wahn abtut, wird sich fragen lassen müssen, für wen außer seiner selbst er spricht. Er macht es auf jeden Fall den Populisten einfach, denn seine Ignoranz lässt jene rufen: Wir hier sind die wahren Demokraten! Wir nehmen dich Bürger ernst, wir sprechen für dich, auch wenn als Strafe dafür keine der „Altparteien“ mehr mit uns spricht.
Die Parteigranden starren hilflos auf den Populismus. Doch der Populismus ist nicht der eigentliche Gegner. Man möchte ihnen zurufen: Schaut euch einige der simpel gestrickten Pöbler an, die euch Wählerstimmen abjagen! Es ist nicht immer unbedingt ihr Genius, der sie erfolgreich macht. Ihr Alten seid es, die ein Vakuum habt entstehen lassen. Die Bürger haben Durst. Sie wollen Wahrheit fühlen, Schutz fühlen und sich endlich ernst genommen fühlen. Bei einigen dieser Bürger ist der Durst so groß, dass sie bei jedem, buchstäblich jedem kaufen werden, der diesen Durst zu stillen verspricht. Zur Zeit der Prohibition haben die Bürger nicht deshalb bei der Mafia gekauft, weil sie die Mafia so nett fanden. Sie verbündeten sich mit den Unanständigen, weil die Anständigen ihnen nicht mehr verkauften, wonach sie fragten.
Wenn man alle Populisten Europas verböte, würden in wenigen Wochen neue Bewegungen entstehen, um das dann noch immer vorhandene Vakuum zu füllen.
Den Parteien sei gesagt: Starrt nicht auf den Populismus. Diskutiert nicht mit ihm, bekämpft ihn nicht, und versucht schon gar nicht, ihn zu emulieren – zumindest nicht, bevor ihr versteht, was seine Kraft ist.
Fragt euch lieber: Wie ist dieses Vakuum entstanden? Wie kommt es, dass täglich mehr Bürger das Gefühl haben, ihr sagtet ihnen nicht „die Wahrheit“? Wieso denken Menschen, die Interessen anderer Länder und ihrer Bevölkerungen seien euch wichtiger als das Wohl jener, die zu verteidigen ihr geschworen habt? Wieso meinen immer mehr Bürger, ihr würdet nicht mehr für sie sprechen?
Versucht nicht, den Whiskey zu verbieten, nicht per Gesetz und nicht per Moral, wenn Armut und Verzweiflung das eigentliche Problem sind.
Versucht nicht, den Populismus zu verbieten, nicht per Gesetz und nicht per Moral, wenn eure abgetakelte Glaubwürdigkeit das eigentliche Problem ist.
Populismus ist nur das Symptom. Das Symptom hat eine Ursache. Liebe Platzhirsche, die Ursache des neuen Populismus liegt in euch selbst. Greift nicht die Populisten an. Versucht nicht, den Wähler umzuerziehen. Um es mit den Philosophen zu sagen: Erkennt euch selbst. Und dann: Ändert euch selbst.
Dushan Wegner ist Texter und Autor. Sein aktuelles Buch ist »Talking Points – Die Sprache der Macht«, erschienen im Westend Verlag.
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