Geht es um die mediale Bewältigung der Ukraine-Krise, zeigen sich Unterschiede zwischen verschiedenen europäischen Ländern. Der Unterschied zwischen Deutschland und unserem unmittelbaren östlichen Nachbarn Polen ist dabei besonders aufschlussreich. Was in deutschen Medien eher als abstrakte Gefahr für den Frieden in Europa wahrgenommen wird, wird in Polen als reale Bedrohung gesehen. Wo in Deutschland um die Versorgungssicherheit mit russischem Erdgas gefürchtet wird, sieht man sich in Polen von russischen Raketen bedroht. Wo in Deutschland fast verzweifelt diplomatische Spielräume beschworen werden, die es im Augenblick gar nicht gibt, äußern die Medien in Polen eher die Sorge vor allzu großer Nachgiebigkeit, zu der westliche Nato-Länder aus polnischer Sicht neigten.
Bedrohung
Der gelernte Historiker, ehemalige polnische Außenminister und heutige PiS-Europaabgeordnete, Witold Waszczykowski, sagt in einem Interview gegenüber dem Nachrichtenmagazin „wPolityce“ am 22. Februar, Polen müsse sich nicht erst seit der berüchtigten Rede Putins am Montag bedroht fühlen. Das Vorspiel zur heutigen Lage habe Lukaschenko abgeliefert mit seiner Aktion, Migranten über die Grenze nach Polen zu treiben. Vor wenigen Wochen habe es sich auch herausgestellt, dass russisches Militär bereits an der weißrussisch-polnischen Grenze stehe. Dort seien außerdem Luftlandekräfte disloziert, die die Ukraine aus Richtung der weißrussisch-polnischen Grenze angreifen könnten.
Das alles bedeute, dass Polen auf lange Sicht gesehen russischen Truppen nicht nur an seiner Grenze zum Kaliningrader Gebiet, also dem Nordteil Ostpreußens, gegenüberstehe, sondern möglicherweise auch an der polnisch-ukrainischen Grenze. Der Journalist Marek Pyza kritisiert in derselben Ausgabe von wPolityce, dass weder Washington noch Berlin noch die polnische Regierung unter Donald Tusk die Salamitaktik der Russen hätten sehen wollen: „Der rote Teppich wurde ausgerollt, und Putin betrat ihn mit seinen blutverschmierten Stiefeln. Nächster Halt – die baltischen Staaten. Und später?“
Die augenblickliche Lage
Eine interessante Beurteilung der augenblicklichen Lage stammt vom ehemaligen Chef der polnischen Landstreitkräfte, General Waldemar Skrzypczak. In einem Interview mit wPolityce sagt der General am Dienstag, Putin werde die Ukraine vermutlich in Etappen schlucken. Allerdings nicht die gesamte Ukraine, sondern nur ihren östlichen Teil. Im Westen der Ukraine habe Putin nicht genügend Anhänger; deshalb könnte er es bei einer Besetzung der Westukraine mit einer antirussischen Partisanenbewegung zu tun bekommen. Das wiederum könnte zu einer Situation führen vergleichbar mit der, mit der die russische Armee in Afghanistan konfrontiert war.
Die gesellschaftlichen Auswirkungen der in Polen als Bedrohung empfundenen russischen Ukrainepolitik thematisiert ein Artikel, der am Montag (21.02.2022) in der angesehenen katholischen Wochenzeitung „Tygodnik Powszechny“ erschienen ist: „Die Gefahr einer russischen Invasion der Ukraine hat in unserer Gesellschaft tief verborgene Traumata geweckt.“ Immer mehr polnische Kinder fragten ihre Lehrer, ob es zum Krieg kommt. Von ähnlichen Befürchtungen wüssten Psychotherapeuten zu berichten.
Im Unterschied zum Konflikt um die Krim 2014 sei der Konflikt jetzt „an den Schwellen unserer Haustüren“ angekommen. Diese Lage vertiefe die Beunruhigung der polnischen Gesellschaft, weil sie nur kurze Zeit nach dem Ende der Migrationskrise an der polnisch-weißrussischen Grenze entstanden sei. In der Generation der ältesten Mitbürger würden dadurch Kriegstraumata wieder freigesetzt. Traumatische Ängste, die nie die Chance auf eine psychotherapeutische Aufarbeitung hatten, weil die Kriegsgeneration völlig in Anspruch genommen war mit dem Wiederaufbau des Landes.
Die Autoren des Artikels in „Tygodnik Powszechny“ gewinnen der jetzigen Lage aber auch eine gute Seite ab. Seit Jahren hätten Polen und die baltischen Länder erfolglos versucht, den europäischen Mainstream davon zu überzeugen, dass Putin nur totales Misstrauen verdiene. Der Westen habe sich taub gestellt, wie etwa bei Nord Stream 2 zu sehen war. Er habe passiv zugesehen, wie die russische Armee modernisiert wurde und ihre zahlenmäßige Stärke zugenommen habe. Er habe passiv zugesehen, wie „aus Bataillonen Regimenter und aus Regimentern Divisionen“ geworden seien. Heute stünden in Weißrussland Eliteangriffsverbände, die von der chinesischen Grenze abgezogen worden seien. Diese Truppenverlegungen verängstigten den Westen, aber sie bewirkten immerhin, dass selbst ehemalige Anhänger einer vorsichtigen Politik gegenüber Russland, wie etwa Frankreich und Deutschland, heute anders auf Putin blickten. Jetzt sei Polen im Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit.
Genugtuung und Freude über die Ankunft der US-Soldaten teilt mehr oder weniger das gesamte politische Spektrum der polnischen Medien. In der traditionsreichen linksliberalen Wochenzeitung „Polityka“ erscheint am Dienstag ein Artikel unter dem Titel „Austin reist auf einem Abrams-Panzer nach Polen. Das muss Russland nervös machen“. Der Sicherheitsexperte der Zeitung, Marek Świerczyński, befürchtet in seiner Analyse, dass sein Land nur noch wenig von einem heißen Krieg trenne. Mit unverkennbarer Befriedigung kommentiert er deshalb die Tatsache, dass US-Verteidigungsminister Lloyd Austin am 18. Februar mit einer „guten Nachricht nach Polen gekommen ist“: Diese Nachricht besteht in der Zustimmung der USA zur Lieferung von 250 Abrams M1-Panzern an die polnischen Panzertruppen. Deren Stolz wiederum bisher, neben 700 Panzern russischen Typs, 250 deutsche Leopard II gewesen sind. Die Tatsache, dass Austin den russischen Verteidigungsminister in Moskau angerufen hat, verleitet den Autor dazu, in schadenfroh-ironischem Unterton zu vermuten: „Es ist nicht sicher, ob sich Minister Schojgu ganz wohl fühlte bei seinem Telefonat mit Austin aus Polen.“
Bezeichnend für die im Falle einer äußeren Bedrohung konsensuale politische Kultur Polens ist eine Nebensächlichkeit, die erst auf den zweiten Blick auffällt. Świerczyński scheint die Aktivitäten des derzeitigen „Ministers für nationale Verteidigung“, Mariusz Błaszczak, der dem rechten politischen Lager angehört, durchaus würdigen zu können, um sich dann aber in den rüstungstechnischen Einzelheiten verschiedener Arten von panzerbrechender Munition mit einer Hingabe zu verlieren, die von den Lesern eines linksliberalen Blattes in Deutschland als geradezu obszön empfunden worden wäre.
Was tun?
Die Wochenzeitung „Tygodnik Solidarność“ der Unabhängigen Selbstverwalteten Gewerkschaft Solidarność berichtet am Dienstag von einem Statement, das der ehemalige polnische Verteidigungsminister, Antoni Macierewicz, gegenüber „Polskie Radio 24“ abgegeben hat. Macierewicz äußerte darin die Befürchtung, dass Putin auch Polen angreifen könne. Er geht davon aus, dass Russland „danach strebt, ganz Europa zu beherrschen, zuerst die Ukraine, dann Mittelosteuropa, am Ende auch den von Deutschland geschaffenen europäischen Bundesstaat.“
Als Gegenmittel empfiehlt der ehemalige Verteidigungsminister seinem Land, sich auf die eigene nationale Sicherheit zu konzentrieren. Um dieses Ziel zu erreichen und um die polnische Armee im gebotenen Umfang zu stärken, hält Macierewicz die Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht für unverzichtbar. In diesem Sinne, so die polnische Armeezeitung „Polska Zbrojna“ am 22. Februar, hat die Regierung beschlossen, ein „Gesetz zur Verteidigung des Vaterlandes“ auf den Weg zu bringen. Dieses Gesetz soll sicherstellen, dass Polen über Streitkräfte verfügt, die in der Lage sind, einen Angriff aus dem Osten abzuwehren oder am besten so stark sind, dass es zu einem Angriff gleich gar nicht kommt.
Die deutsche Politik kommt nicht gut weg
Nicht verwundern dürfte auch die Tatsache, dass die polnischen Analysen der Ukraine-Krise auch die Rolle und das Verhalten Deutschlands ins Auge fassen. In seinem Interview mit wPolityce vom 22. Februar bekennt General Skrzypczak auch, dass er von den Sanktionen, die der Westen gegen Putin verhängt, nichts halte. Alle entsprechenden Verlautbarungen der USA und Westeuropas schreckten niemanden. Sie seien westliche Heuchelei. Der Westen habe Putin faktisch erlaubt, ukrainisches Territorium zu annektieren.
Besonders beunruhigt zeigte sich Waszczykowski über das Verhalten des deutschen Bundeskanzlers. Der sei wankelmütig und habe lediglich die Aussetzung von Nord Stream 2 beschlossen, nicht aber die gänzliche Einstellung des Projektes. Das unsichere Verhalten der europäischen Eliten, der EU, der europäischen Institutionen und Deutschlands müsse also mit Vorsicht betrachtet werden. Denn eigentlich wäre es angebracht, sämtliche Überlegungen zu Nord Stream 2 oder zu einer weiteren Zusammenarbeit mit dem imperialen Russland sofort abzubrechen.
Bei einem auch nur flüchtigen Blick auf die polnischen Medien fällt ein weiterer Unterschied zu den deutschen Verhältnissen auf. Wo sich die Nation bedroht fühlt, wo die Unabhängigkeit Polens auf dem Spiel steht, schwinden die Unterschiede zwischen rechts und links. So zerstritten das Land gerade in letzter Zeit innenpolitisch ist, so verbissen die innenpolitischen Auseinandersetzungen ausgetragen werden, die Sorge um Freiheit und Unabhängigkeit der polnischen Republik, die Souveränität des Staates und die Wirksamkeit der nationalen Verteidigung ist nahezu durchgehend partei- und richtungsübergreifender nationaler Konsens. Die polnische Armee gilt als Garant der Freiheit und genießt dabei traditionell das höchste Ansehen aller staatlichen Institutionen, was die Befragungen des wichtigsten polnischen Meinungsforschungsinstituts CBOS immer wieder bestätigen.
Nachtrag, Donnerstag, 24. Februar: Nun bestimmt Kriegsberichterstattung die polnischen Medien. Die „Polityka“ erscheint mit der Schlagzeile: „Panzer auf dem Weg nach Kijew. Russland hat gewaltige Kräfte bereitgestellt. Wo wird Putin anhalten?“ wPolityce meldet, dass ein Raketenangriff auf Charkow stattgefunden habe und die Ukrainer vier russische Panzer in der Umgebung der Stadt vernichtet hätten. Der polnische Verteidigungsminister Błaszczak habe die polnischen Streitkräfte in erhöhte Alarmbereitschaft versetzt.