Polens Politiker zieht es ins Parlament der EU

Viele prominente Politiker, die teils gerade erst bei den Parlamentswahlen vom 15. Oktober letzten Jahres ins Parlament, den Sejm, eingezogen waren, darunter sogar schon wieder ehemalige Minister der neuen Regierung von Donald Tusk, drängen nach Brüssel. Von Jens Boysen

picture alliance / ZUMAPRESS.com | Volha Shukaila

Während nicht nur Roland Tichy zurecht feststellt, dass das Kandidatenaufgebot der deutschen Parteien für die Wahlen zum Parlament der EU (EP) fast ausnahmslos entweder als Ausdruck von Ignoranz, als Entsorgungsaktion oder aber als schlichte Wählermissachtung zu werten sei, bietet sich im Nachbarland Polen ein ganz anderes Bild. Hier finden sich auf den Wahllisten – neben bereits dem EP angehörenden Personen – auffallend viele prominente Politiker, die teils gerade erst bei den Parlamentswahlen vom 15. Oktober letzten Jahres ins Parlament, den Sejm, eingezogen waren, darunter sogar – schon wieder ehemalige – Minister der neuen Mitte-Links-Regierung von Ministerpräsident Donald Tusk.

Die bekanntesten Personen im Regierungslager dürften der bis zum 13. Mai 2024 – dem Tag der Festlegung der Wahllisten – als Innenminister amtiert habende Vertreter von Tusks Bürgerplattform bzw. Bürgerkoalition (Platforma/Koalicja Obywatelska – PO/KO), Marcin Kierwiński (Listenplatz 1 im Wahlbezirk Warschau) und der zeitweilige (ebenfalls bis zum 13. Mai) Minister für Kultur und nationales Erbe – denn so etwas gibt es in Polen – Bartłomiej Sienkiewicz (ein Urenkel des Literaturnobelpreisträgers Henryk Sienkiewicz) sein.

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Letzterer war der formal Hauptverantwortliche für die direkt nach seiner Ernennung am 13. Dezember 2023 erfolgte und wegen ihres rabiaten, überfallartigen Charakters umstrittene Auswechslung der Führungen des Polnischen Fernsehens TVP, des Polnischen Rundfunks Polskie Radio sowie der Polnischen Presseagentur PAP. Seine Kandidatur für das EU-Parlament vom sicheren Listenplatz 1 des südpolnischen Wahlbezirks Małopolska-Swiętokrzyskie (Kleinpolen-Heiligkreuz) aus wird von den jetzt in der Opposition befindlichen Parteien der Vereinigten Rechten (Zjednoczona Prawica) um die Partei Recht und Gerechtigkeit (Prawo i Sprawiedliwość – PiS) als Flucht und Ausdruck eines schlechten Gewissens interpretiert, was er selbst zwar zurückgewiesen hat, ohne allerdings seine Motivation anders begründen zu können.

Offenbar ebenfalls ‚absetzen‘ will sich der frühere Fraktions- sowie (kurzzeitige) Parteichef der PO, Borys Budka, der bis zum 13. Mai das Ministerium für die staatlichen Aktiva leitete, dem unter anderem die großen Staatskonzerne wie LOTOS, ORLEN, PGE, die Polnische Post (Poczta Polska) oder die polnische Fluggesellschaft LOT unterstehen.

Aber auch unter den einfachen Angehörigen der Regierungsfraktionen sind etliche gewillt, nach lediglich einem halben Jahr als Sejmabgeordnete auf die supranationale Ebene des EP zu wechseln, so etwa der prominente KO-Abgeordnete Michał Szczerba (Listenplatz 4 im Warschauer Wahlbezirk). Obwohl als junger Mann in den 1990er Jahren ursprünglich, wie Donald Tusk, von der eher konservativen Seite kommend, hat er sich in den Jahren der nationalkonservativen PiS-Regierung (2015 bis 2023) gemeinsam mit seinem politischen ‚Zwilling‘ Dariusz Joński zu einem der massivsten Kritiker bzw. ‚Jäger‘ der Rechtsparteien entwickelt und leitet gerade die Sejmkommission zur Untersuchung der mutmaßlichen irregulären Vergabe von Visa an Drittstaatler durch die frühere Rechtsregierung.

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Noch bedeutender im Hinblick auf eine angestrebte internationale Karriere ist der Umstand, dass Szczerba seit vielen Jahren der Parlamentarischen Versammlung der NATO angehört und im November 2023 zu deren Vorsitzendem gewählt wurde. In dieser Funktion setzt er sich energisch für die westliche Unterstützung der Ukraine und anderer von Russland bedrohter Staaten wie zum Beispiel Georgiens ein. Auf diesem Gebiet dürfte er von Seiten der PiS kaum Widerspruch ernten, da die Sicherheits- und Verteidigungspolitik als einziges Politikfeld in Polen von einem breiten überparteilichen Konsens getragen wird. Dem seit langem als „polnisch-polnischer Krieg“ bekannten weltanschaulichen Konflikt nimmt dies aber nichts von seiner Schärfe; so kündigte Szczerba in einem Interview mit der Gazeta Wyborcza an, analog zum Sejm auch das Europäische Parlament „säubern“ zu wollen – nämlich von Vertretern der Rechtsparteien, „Populisten“ und „Russlandfreunden“.

Szczerbas Kollege Joński stellt sich ebenfalls zur Wahl, obwohl er erst seit November 2023 die Sejmkommission zur Aufklärung der „Umschlagwahlen“ (wybory kopertowe) von 2020 leitet, das heißt der trotz rechtlicher Bedenken während der Covid-Beschränkungen als Briefwahl durchgeführten Präsidentschaftswahlen von 2020. Er startet vom Listenplatz 1 seines Heimatbezirks Lodz.

Weitere Beispiele sind Michał Kobosko, zweiter Mann und Warschauer Bezirkschef (daher natürlich Listenplatz 1 im Warschauer Wahlbezirk) der noch jungen Partei Polska 2050 (Polen 2050) von Parteichef und Sejmmarschall Szymon Hołownia, die zusammen mit der Polnischen Volkspartei (PSL) das liberal-konservative Fraktionsbündnis Dritter Weg (Trzecia Droga) bildet, sowie die für ihre radikalen linksgrünen Ansichten bekannte Abgeordnete der zur aktuellen Regierungskoalition gehörenden Neuen Linken (Nowa Lewica), Joanna Scheuring-Wielgus, die seit Dezember 2023 Staatssekretärin im Ministerium für Kultur und nationales Erbe ist. Als Nr. 1 der Wahlliste ihrer Partei im Wahlbezirk Wielkopolska (Großpolen/Posen) kann sie wohl mit dem problemlosen Einzug ins Europäische Parlament rechnen.

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Aber auch die im Oktober letzten Jahres abgewählten Parteien der Vereinigten Rechten bieten für die EP-Wahlen zahlreiche bekannte Namen auf. Dies ist insofern nicht verwunderlich, da diesen Parteien in den nächsten Jahren die Regierungsämter als Pfründe voraussichtlich nicht zur Verfügung stehen werden und die wichtigen Parteifunktionäre der nationalen Ebene, sofern sie sich nicht in die Lokalpolitik zurückziehen, ‚geparkt‘ und versorgt werden müssen. Allerdings müssen sich diese Kandidaten wie schon seit Jahren die Häme ihrer politischen Gegner anhören, wonach sie als – bekennende – „Euroskeptiker“ und somit angebliche Feinde der EU im EU-Parlament gar nichts verloren hätten bzw. ihre dortige Anwesenheit Ausdruck von Heuchelei oder etwas noch Schlimmerem, nämlich des Verrats am „europäischen Projekt“ sei. Im Gegenzug halten die rechtskonservativen Angeordneten seit Jahren ihren „proeuropäischen“ Konkurrenten vor, deren Auslegung des „europäischen Projekts“ sei ihrerseits ein Verrat an der nationalen Souveränität Polens (und der anderen Mitgliedstaaten), da im Widerspruch zum Charakter der EU-Verträge als Übereinkunft souveräner Staaten.

Von den sich erneut oder erstmals für das EP bewerbenden Kandidaten der Rechtsparteien seien hier einige exemplarisch genannt: Anna Fotyga (ehemalige Außenministerin, Listenplatz 1 der PiS im Wahlbezirk Danzig); Witold Waszczykowski (ehemaliger Außenminister, Listenplatz 1 im Wahlbezirk Lodz); Beata Szydło (ehemalige Ministerpräsidentin, Listenplatz 1 im Wahlbezirk Małopolska-Swiętokrzyskie (Kleinpolen-Heiligkreuz)); Anna Zalewska (ehemalige Ministerin für nationale Bildung, Listenplatz 1 im Wahlbezirk Niederschlesien-Oppelner Land).

Kritisch betrachtet wird, und zwar auch in konservativen Kreisen, die Kandidatur des früheren Innenministers Mariusz Kamiński (als Nr. 1 der PiS-Liste im Wahlbezirk Lublin) und seines damaligen Staatssekretärs und Geheimdienstkoordinators Maciej Wąsik (analog als Nr. 1 im Wahlbezirk Ermland-Masuren). Beide waren 2015 wegen angeblicher Dokumentenfälschung im Amt im Zusammenhang mit der sogenannten „Liegenschaftenaffäre“ (afera gruntowna) verurteilt worden. Diese Urteile hatte Staatspräsident Andrzej Duda Ende 2015 per Begnadigung aufgehoben. Die Wirksamkeit dieser Gnadenakte blieb umstritten und wurde Teil des ständigen politisch gefärbten Streits zwischen dem Obersten Gericht (Sąd Najwyższy) und dem Verfassungsgericht (Trybunal Konstytucyjny) um die Hierarchie der Rechtsaufsicht und die Legitimität der jeweiligen Richter (die EU hatte diesen Streit zum Anlass genommen, eine Untergrabung der Rechtsstaatlichkeit in Polen zu konstatieren).

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Nach dem Regierungswechsel im Dezember 2023 wurden die Verfahren gegen Kamiński und Wąsik wieder aufgerollt; beide wurden verhaftet und erneut verurteilt. Nach einer erneuten Begnadigung durch Präsident Duda kamen sie aus der Untersuchungshaft frei; ihr Status als Sejmabgeordnete wurde aber, da sie als vorbestraft gelten, vom neuen Sejmmarschall Szymon Hołownia kassiert. Von ihrer Aufstellung für die EP-Wahlen befürchten manche Anhänger der PiS einen Imageschaden. Ebenfalls nicht allen behagt es, dass der frühere Vorstandsvorsitzende des Staatsunternehmens ORLEN, Daniel Obajtek, die Wahlliste der PiS im Wahlbezirk Karpatenvorland (Podkarpackie) anführt. All dies wird aber für die Stammwähler der Partei kaum von Belang sein.

Gewiss lässt sich für alle Kandidaten unabhängig von ihrer Parteizugehörigkeit zumindest ein Motiv recht leicht identifizieren, nämlich die Diäten der EP-Abgeordneten in Höhe von ca. EUR 15.000 inkl. erheblicher Zulagen für Mitarbeiter, Sachmittel usw. Ein Sejmabgeordneter erhält derzeit ca. PLN 17.000 an Diäten plus „Ausstattung“ (Sachmittel), was umgerechnet ca. EUR 4.000 entspricht. Der polnische Staatspräsident erhält PLN 25.000, also ca. EUR 5.800 (zum Vergleich: Die Mitglieder des Bundestages ziehen seit 2022 mit ca. EUR 15.000 aggregierten Monatsbezügen mit denen des EP gleich, und der Bundeskanzler bzw. der Bundespräsident erhalten ca. EUR 22.000 bzw. 23.000).

Aber das Geld ist bei vielen Kandidaten zweifellos keine hinreichende Erklärung, dafür sind die ideologischen Triebkräfte bei den meisten von ihnen zu stark. Die polnischen Parteien haben die Bedeutung des EP nicht nur als Budgetorgan, sondern auch als Kampfarena früh erkannt und liefern sich dort seit Jahren rhetorische Schlachten, bei denen es zwar auch um die profane Machtverteilung zuhause geht, vor allem aber um den Kulturkampf um Werte und Ziele, der in Polen letztlich schon seit 2005 herrscht und jetzt – sofern die rechten bzw. konservativen Parteien bei der anstehenden EP-Wahl eine ausreichende Größe erreichen – auf der europäischen Ebene noch deutlich stärker ausgetragen werden wird.

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Daneben verdienen aber noch zwei andere Punkte Beachtung. Erstens: Anders als es in Deutschland zumindest die Mehrheitsparteien tun, werben alle polnischen Parteien von links bis rechts damit, im EU-Parlament „polnische Interessen“ vertreten zu wollen (auch wenn diese im Einzelnen teils unterschiedlich definiert werden). Insofern dürften auch die in Brüssel als politische Verbündete angesehenen polnischen Regierungsparteien teilweise ‚verdächtig‘ erscheinen; allerdings genießen sie angesichts der ‚bösen‘ Alternative der Rechtsparteien weitgehende Narrenfreiheit. Und zweitens: In diesem Wahlkampf berufen sich fast alle polnischen Parteien auf dasselbe Stichwort: „bezpieczeństwo“ (Sicherheit). Der Krieg in der Ukraine und das Bedrohungsgefühl hinsichtlich Russlands prägen das politische Bewusstsein in einem Maße, wie es auch nach über zwei Jahren Krieg in Westeuropa kaum adäquat wahrgenommen wird.

Trotz der Fokussierung auf die NATO in militärischen Fragen werden daher so gut wie alle polnischen Abgeordneten darauf drängen, dass die EU ihre Außen- und Sicherheitspolitik massiv ausbaut und Russland isoliert. Das in Polen antretende Wahlkomitee Polexit, das den Austritt Polens aus der EU anstrebt, dürfte auch deshalb keinerlei Chancen haben.


Dr. Jens Boysen ist Historiker, Slawist und Europawissenschaftler, seit 2011 in Warschau ansässig, Dozent für Internationale Beziehungen am dortigen Collegium Civitas.

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Kommentare ( 4 )

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brummibaer_hh
20 Tage her

Wenn in Deutschland die Wähler von den Parteien vorgeschlagene Wahllisten ihrer Partei für das EU-Parlament gewählt und somit für ok befunden haben, so ist es wohl kaum Wählermissachtung der Parteien, nur weil die eine andere Form der Auswahl getroffen haben als Polen. Vielmehr ist es eine Missachtung des Willens deutscher Wähler, wenn der Gastautor sich anmaßt, wie wir hier in Deutschland unsere Kandidatenlisten zusammenstellen, die dann vom Wähler mit ihrer Stimme legitimiert wurden. Bitte schreiben Sie uns nicht vor, wie wir mit unseren Stimmen umzugehen haben, werter Herr – das wissen wir schon ganz gut selbst.

Haba Orwell
27 Tage her

> Der Krieg in der Ukraine und das Bedrohungsgefühl hinsichtlich Russlands prägen das politische Bewusstsein in einem Maße, wie es auch nach über zwei Jahren Krieg in Westeuropa kaum adäquat wahrgenommen wird.

Nicht nur in Russland, sondern auch in vielen westlichen Ländern wird dies als krankhafte Russophobie empfunden. Ein Interview, wo viele Mythen zum Thema zerstreut werden:

https://tkp.at/2024/06/09/wahrheitssuche-im-ukraine-krieg-gespraech-mit-buch-autor/

Für mich keine Überraschung, da ich es auch aus vielen anderen Quellen kenne. In Polen wird das alles jedoch munter ignoriert – Deutschland wird übrigens ebenso sehr verzerrt dargestellt.

Last edited 27 Tage her by Haba Orwell
johnsmith
27 Tage her

Ich denke dass es hauptsächlich um die Kohle und die Pensionsansprüche geht. Im EU-Parlament ist man bestens versorgt, neben dem hohen Gehalt, das nur niedrig fiktiv versteuert wird, gibt es hohe Aufwandsentschädigungen und Budgets für mehrere Mitarbeiter (da kann man Freunde und Verwandte zu hohen Gehältern einstellen). Dazu gibt es hohe zusätzliche Sitzungsgelder pro Sitzung an der man teilnimmt (einschreiben in die Liste reicht) und extrem hohe Reisekostenerstattungen auf fiktiver Basis, die über den tatsächlichen Reisekosten liegen können sowie Erstattungen auch für Privatreisen. Und einen üppigen Pensionsanspruch.

Haba Orwell
27 Tage her

> In dieser Funktion setzt er sich energisch für die westliche Unterstützung der Ukraine und anderer von Russland bedrohter Staaten wie zum Beispiel Georgiens ein.

Georgien wurde zwar massiv bedroht, als das aus den USA kopierte Gesetz zur Transparenz der NGO-Finanzen verabschiedet wurde – doch die Drohungen kamen nicht aus Russland, sondern aus dem Westen.