Ohne Seele kein Leben

Das gefährlichste im Kampf gegen das Böse ist der Einsatz böser Mittel. Gastbeitrag von Thomas Zieringer.

Blick ins Rheintal auf Worms (Entfernung: 22 km). Hier in den ShUM Städten entstand im Hochmittelalter die jüdisch aschkenasische Kultur.

Ohne die Übertreibungen und Foulspiele wäre eine Auseinandersetzung mit den Ideen der PEGIDA glaubwürdiger. Eine Rede von Frau Festerling vor gar nicht langer Zeit, in der sie das Ende des deutschen Schuldkomplexes erklärte, wäre sicherlich geeignet, sich differenziert und kritisch inhaltlich damit auseinanderzusetzen. Doch es gab da keinen solchen medialen Aufruhr, wie bei dem Pappbalken. „Dieses Fass aufzumachen“ traute sich die deutsche Presse nicht. Es gab durchaus auch Richtiges in der Rede von Frau Festerling, das in einer aufgeklärten Gesellschaft offen diskutiert gehörte. Da ging es zum Beispiel um den Zusammenhang zwischen der gerade in Deutschland praktizierten Entgrenzungsideologie und einer schlecht bewältigten deutschen Vergangenheit.

Ein Paradigmenwechsel im Umgang mit der deutschen Vergangenheit tut not

Die Konsequenz einer fehlenden Selbstannahme ist die (Selbst)zerstörung. Ich möchte eine Korrektur vorschlagen. Sie wäre ein Paradigmenwechsel in der deutschen Erinnerungskultur. So fände unser Land wieder zu sich. Es bräuchte der Welt nichts mehr zu beweisen; weder im Schlechten noch im Guten, z. B. mit der neuen deutschen Willkommenskultur als ein Vorbild wieder mal für die ganze Welt. Es bräuchte die Grandiosität nicht mehr. Bleiben wir bei meiner realistischen und praktikablen Idee. Diese Idee würde den größten Schmerz in der deutschen Kultur berühren. Darüber gibt es bereits viele Mahnmale. Ich schlage als eine Lösung ein Friedensmal in den deutsch-jüdischen Beziehungen vor. Die Bedeutung ginge über die deutsch-jüdischen Beziehungen hinaus. Es geht noch mehr um das, was sich daran festmachte.

Bereits 1998, als die Holocaust-Mahnmal-Debatte stattfand, zeigte sich in dieser Debatte, dass die Art und Weise, wie in Deutschland Vergangenheit bewältigt wird, nicht in einem psychotherapeutischen Sinn gut funktioniert. Es diskutierten Politiker, Historiker und Journalisten; allerdings keine Psychotherapeuten. Thema war aber das tiefste Trauma, um das es in der deutschen Gesellschaft gehen könnte. Ein Schmerz, eine Blockade braucht die Lösung. Das wäre ein Wendepunkt für unser Land. Die Metapher „Jerusalem“, mit der ich diesen Wendepunkt bezeichne, berührte nicht nur dieses Trauma, sondern würde auch auf die tiefste Wurzel unserer Kultur hinweisen. Die Entwicklung wieder in ein gesundes Verhältnis zur eigenen Identität wird ohne „Jerusalem“ nicht möglich sein.

„Yerushalayim (...), dass wir die Zäune im Miteinander überwinden und unseren Halt nicht hinter Zäunen der Ideologie suchen” - lautet die Inschrift auf dem Jerusalem Erinnerungsstein. Es sei ein Ruf der Sehnsucht nach Frieden und einem von Respekt geprägten Umgang der Menschen miteinander. Hiermit wird das Thema „gesunde Grenzen” angesprochen.

„Yerushalayim (…), dass wir die Zäune im Miteinander überwinden und unseren Halt nicht hinter Zäunen der Ideologie suchen” – lautet die Inschrift auf dem Jerusalem Erinnerungsstein. Es sei ein Ruf der Sehnsucht nach Frieden und einem von Respekt geprägten Umgang der Menschen miteinander. Hiermit wird das Thema „gesunde Grenzen” angesprochen.

Dieses unbewältigte Trauma ist vielleicht die tiefste Ursache der derzeitigen zu beobachtenden Entgrenzung und Selbstaufgabe in der deutschen Kultur. Der Zustand einer Kultur definiert sich gerade auch durch ihre gesunden Grenzen. Das Fremde zu berühren ist gesund, wenn man sich des eigenen Standpunkts bewusst ist und wenn es ein gesundes Maß gibt. Ohne den eigenen Standpunkt verliert man sich. Die derzeit offenen Grenzen in Deutschland deuten auf einen ganz Europa gefährdenden Defekt in der kollektiven Seele unseres Landes hin und gerade nicht darauf, dass nun endlich die Deutschen ihre dunkle Vergangenheit abgestreift hätten. Ich meine, unser Land hat so wenig die gesunden Grenzen, wie sie vielen Deutschen auch fehlen. So spiegelt sich hier im Zustand der Außengrenzen eines Landes eigentlich der innere Zustand seiner Bewohner.

Wir bräuchten einen anderen Umgang mit der deutschen Vergangenheit, in dem gleichermaßen ein echter Schmerz und eine heilende Liebe spürbar werden dürfen. Es soll darum gehen, die Ursachen zu heilen, warum es überhaupt zu dieser großen Katastrophe in der Vergangenheit kommen konnte. Das ist gerade kein Vergessen, sondern ein neues Wahrnehmen. Das Holocaust-Mahnmal in Berlin zu bauen war sinnvoll und die Gestaltung ist dem Thema angemessen und gelungen. Wozu baut man aber Mahnmale, wenn das nicht in der Folge auch zu Friedensmalen führte? Es sind die Zeichen, die sich eine Kultur setzt, die sie darin gründet und leitet, die sie also bezeichnet.

Mit dem inzwischen fertiggestellten Jerusalem Friedensmal ist nun ein solches Zeichen des Friedens entstanden. Die Einweihung in Deutschland fand am 27. September 2015 mit einer Veranstaltung im Rahmen „50 Jahre diplomatische Beziehungen zwischen Deutschland und Israel“ statt. Mit diesem Friedensmal kommen heilsame Bilder neu in unsere Kultur. Es ist also sehr viel mehr als ein Bauwerk. Wir können nur denken, was an Bildern in unseren Vorstellungen vorhanden ist. Das Friedensmal bringt neue Bilder, in denen Liebe und Freiheit schwingen, in unsere Gesellschaft. Es braucht solche neuen Bilder und Vorstellungen, um den Weg von der Auseinandersetzung mit diesem tiefen Trauma hin zur Integration sichtbar zu machen und die Blockaden im Friedensprozess dauerhaft überwinden zu können. Das Jerusalem Friedensmal zeigt also einen Weg für unser Land, – über „Jerusalem“ – wieder zu einem gesunden Verhältnis zu sich selbst zu finden.

Die langfristigen gesellschaftlichen Folgen eines solchen Impulses können weitreichend sein. Das Friedensmal symbolisiert den Schritt aus der Auseinandersetzung mit der „dunklen deutschen Vergangenheit“ in die Integration. Mit diesem Frieden – „was aus der Vergangenheit gelernt wurde” – ist die Verantwortung für ein gesellschaftliches Engagement für Frieden und Freiheit verbunden, was Zivilcourage erfordert. Dafür soll das Jerusalem Friedensmal stehen. Damit würde es zu einem positiven identitätsstiftenden Symbol für unser Land.

Der Künstler als Philosoph

Kunst als ein Ausdruck von Bewusstsein ist geeignet, in einer Situation der Erstarrung einen Impuls in eine Gesellschaft zu geben, der neue Bewegung schafft. Das beschreibt ganz wesentlich, was die Aufgabe des Künstlers in einer Gesellschaft ausmachen kann. Leider hat sich das Bild über den Künstler in der Gesellschaft gewandelt. Er wird nicht mehr ernst genommen oder er musste zum Unterhalter werden, mit viel Schein und wenig Sein. Die eigentlich wichtige Aufgabe des Künstlers eine Kultur immer wieder zu inspirieren, ist sehr im Kommerz verloren gegangen. Eine gesunde Gesellschaft wüsste um den Wert ihrer Künstler. Sie erlaubte, dass ausreichend über Werke und neue Ideen berichtet wird, so ausreichend, wie es heute vielleicht bei Stars und Sternchen im Showbusiness üblich ist. Man stellte sich vor, wir lebten in einem Land, in dem eine echte, aus dem Geistlichen geschöpfte Kunst, auf die Titelseiten der Zeitungen finden würde. Eine gesunde Gesellschaft wüsste auch ihre Künstler vor einer Staatswillkür zu schützen. Beachtet man die eigentliche und wichtige gesellschaftliche Funktion von Künstlern, sind die Konflikte oder auch die geringe Beachtung, die sie in autoritären und totalitären Staaten in der Regel auszuhalten haben, leicht erklärbar. Kunst kann die Menschen nämlich aufwecken.

„Jerusalem“ ist mehr als ein religiöses Bild

Der Name „Jerusalem“ kann als Metapher verstanden werden, die in unserer Kultur bekannt und die im Seelischen verankert ist. Es geht nicht darum, Menschen in eine bestimmte religiöse Ideologie zu drängen und das als Rettung der Kultur zu benennen. Der Name „schwingt“, er vermittelt unterschwellig ein ganzes Gedankengebäude, auf dem unsere Kultur zu einem guten Teil errichtet wurde. Der aufgeklärte Mensch weiß, dass es in diesem Sinn keinen Unterschied zwischen religiösen Bildern und den Vorstellungen der Wissenschaft gibt: beides sind Versuche, eine Realität so zu erklären, dass es für den Menschen gerade da, wo er steht, einen Sinn ergibt. Es ist nicht „die Wirklichkeit“, sondern Modell und Erklärung. Tiefer Glaube könnte darüber hinaus noch die Ideologie einer Religion, die sich in den Vorstellungen und Bildern ausdrückt, transzendieren.

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