Der kleine Zirkus Belly läuft Gefahr, nach 35 Jahren sein Familienmitglied Robby zu verlieren. Schuld daran sind Aktivisten, die sich zwar „Tierrechtler“ nennen, in Wahrheit aber nicht tierfreundliche, sondern menschenfeindliche Positionen vertreten.
Wenn der Musikclown in die Manege stolpert, in der das spotbeleuchtete Xylophon schon wartet, und die ersten Töne der zeitlosen „Erinnerungen an Circus Renz“ von Gustav Peter erklingen, beginnt die Reise durch eine Welt voller Wunder fernab des Alltags. Die Klänge, die Lichter, die Farben, der Geruch nach Sägemehl und Tieren, die Spannung im Publikum und das Versprechen des Außergewöhnlichen verbinden sich in Zeitlosigkeit – man ist wieder Kind und doch auch Vater.
Der Zirkus ist in der Stadt.
Natürlich bin ich nicht alt genug, um den historischen Circus Renz zu kennen. Meine Erinnerungen sind verknüpft mit Williams-Althoff, Busch-Roland und Siemoneit-Barum, in dem der Chef selbst seine Löwen präsentierte. Es sind die schärfsten und klarsten Eindrücke, die mir aus der frühen Kindheit noch verblieben sind, der Salto Mortale unter der Kuppel, die mächtigen Elefanten hautnah und die gefährlichen Raubtiere in einer spektakulären Choreographie. Clownerie, Artistik und Tierdressuren – aus dem klassischen Dreiklang der großen Zirkuskunst sind es vor allem die Tiere, die sich in mein Gehirn eingebrannt haben.
Ich sehe sie wie heute vor mir, das Spiel der kräftigen Muskeln unter dem goldenen Fell, die weiß glänzenden Zähne, wenn sie ihre Wut dem Dompteur entgegenbrüllen, der Wunsch, zu springen und zu töten, nur mühsam gebändigt durch den einsamen Mann im Käfig, der all seinen Mut benötigt, um die großen Katzen zu Dingen zu zwingen, die sie freiwillig niemals täten. Und dann der Angriff. Eines der Löwenweibchen hat genug. Nur drei, vier Meter trennen sie von diesem Ärgernis im weißen Hemd, eine Distanz, die sie in Sekundenschnelle zurücklegt, fauchend, mit weit aufgerissenem Maul, die Tatze schon zum Schlag erhoben. Im letzten Moment aber stoppt sie dann doch, durch die Angst vor Peitsche und Stock zurückgetrieben und in ihre Schranken verwiesen. Die Gefahr ist gebannt, der Mensch hat die wilde Kreatur einmal mehr bezwungen und der tosende Applaus von tausenden Händen brandet über Gerd Siemoneit-Barum hinweg.
Halt, halt!
Es ist Martin Lacey jr., nicht Gerd Siemoneit. Ich bin auch nicht im Zirkus Siemoneit-Barum, sondern im Zirkus Krone. Ich bin auch nicht mit meinen Eltern dort. Wir schreiben das Jahr 2011 und nicht 1976. Ich bin jetzt selbst Vater und es ist mein Kind, das staunend und begeistert neben mir sitzt und in dem ich all das wiederfinde, was früher einmal war. Und seit mindestens drei Stunden weiß ich um die Perfektion der Illusion hinter alledem.
Denn Löwen haben keine Angst vor irgendwelchen Peitschen und Stöcken. Das hat Martin Lacey jr. bei einer öffentlichen Dressurvorführung am Morgen selbst erklärt und demonstriert. Tatsächlich haben Löwen in der Manege überhaupt keine Angst, vor nichts und niemandem. Und schon gar nicht vor ihrem Lehrer. In dem sie wohl nicht mehr sehen, als einen ziemlich merkwürdigen Artgenossen mit noch merkwürdigeren (aber durchaus lustigen) Spielideen. Ängstliche Löwen würden nämlich attackieren, und dies, so versichert uns der Tierlehrer, könne er auf keinen Fall überleben. Die Unfälle, die gelegentlich Schlagzeilen machen, sind tatsächlich nur das: Unfälle und keine Attacken. Wenn ein Löwe töten will, dann tötet er. Die Tiere aber, die uns bei der Probe begegnen, vermitteln anderes. Da ist der Chef, ein elfjähriger Kater mit prächtiger Mähne. Er stolziert in aller Seelenruhe zu seinem erhöht aufgebauten Thron und legt sich erst einmal schlafen. Das macht der Mähnenträger übrigens nicht nur während der Probe, sondern auch während der Vorstellung. Völlig unbeeindruckt und völlig gelangweilt. Er taut erst am Ende auf, wenn er mit Martin Lacey jr. alleine in der Manege ist. Dann werden noch ein paar Zärtlichkeiten ausgetauscht, zwischen zwei Lebewesen, die, wie man auch in der Probe erfährt, gemeinsam groß geworden sind. Die Weibchen haben da schon etwas mehr zu tun. Sie sollen ihre Positionen in bestimmter Folge wechseln, sich aufrichten und springen. Und sie tun das mit großer Lust, denn immerhin gilt es, Stöckchen und Peitsche zu fangen. Martin Lacey jr. gewöhnt sie an diese Instrumente, indem er sie mit Fleischstückchen und Fleischgeruch versieht. Geschlagen und gezwungen aber werden die Tiere nicht. Niemals. Sie präsentieren nur ihr natürliches Verhalten. Die Dressur bindet dies in eine bestimmte Choreographie ein. In der der Peitschenknall der Taktgeber und Peitsche und Stock interessante Spielzeuge sind.
Tiere sind Schauspieler
Und so ist auch der spektakuläre Angriff gestellt. Ein Spiel, vom Dompteur per Handzeichen oder Zuruf gestartet und auch wieder beendet. Viele Tiere sind hervorragende Schauspieler. Sich verstellen zu können, ist Teil ihrer Fertigkeiten für den Überlebenskampf in freier Wildbahn.
Was man natürlich weiß, wenn man regelmäßig Kontakt zu Tieren hat und diese als eigenständige Wesen respektiert. PETA und andere sogenannte Tierschützer aber wissen das nicht. Sie nehmen die Illusion in der Manege für bare Münze. Sie glauben, gedemütigte, ausgenutzte und gequälte Kreaturen zu sehen, die des schnöden Mammons wegen der Lächerlichkeit preisgegeben werden.
Und daher wiederholen sich alljährlich zur Herbstzeit, wenn die großen und kleinen Zirkusse durch das Land reisen (mehr als 300 soll es allein in Deutschland geben), reflexhaft dieselben Rituale. Meist sind es nur eine Handvoll Aktivisten, die lautstark in der örtlichen Presse und durch mehr oder weniger kreative Aktionen auf sich aufmerksam machen. Tiere, so heißt es da, dürften nicht mehr in den Zirkus. Ihr Leiden müsse beendet werden. Ein altes Kulturgut wird an den Pranger gestellt, der klassische Zirkus als Hort gewissenloser Geschäftemacher ohne Ethik und Moral verunglimpft.
Die Haltungsbedingungen werden kritisiert. Zu kleine Käfige und Gehege werden ausgemacht, in denen die Geschöpfe der Natur ohne jede Hoffnung dahinvegetieren. Gut, man kann ja mal nachschauen. Noch jeder Zirkus, den ich in den letzten Jahren besucht habe, öffnete seine Pforten bereitwillig und ermöglichte den Blick hinter den Kulissen, ganz gleich, ob Familien- oder Großunternehmen. Weitläufige, saubere Zelte gab es da zu sehen, mit ausgedehnten Freilaufbereichen, große Käfige für die Räuber, voller Spiel- und Rückzugsmöglichkeiten mit allem erdenklichen Komfort. Ketten und Fesseln? Fehlanzeige. Manches Huf- und anderes Getier (bei Krone die Seelöwen, denen natürlich auch ein fast schon für Kurzbahnwettbewerbe tauglicher Pool zur Verfügung stand) konnte die Zirkusanlage ohnehin frei durchstreifen. Keine Seltenheit ist es, wenn ein Zirkus in der Nähe einer Grünfläche sogar den Elefanten Auslauf gewährt.
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