Staatsversagen, ein Schlagwort, aufwendig hervorgekramt aus der Mottenkiste der Politikwissenschaft, macht im Windschatten der Flüchtlingskrise erneut Karriere. Allerdings, nicht der „neoliberale Zeitgeist“ hat die Staatsautorität niedergerungen. Vielmehr erleben wir die Überforderung des spätmodernen, allumsorgenden Etatismus. Begründet Oliver Weber.
„Herbst der Kanzlerin“ titelte die „Welt“ im November letzten Jahres und konstatierte: „Die Geschichte der Flüchtlingskrise ist vor allem die Geschichte eines Staatsversagens.“ Damit war der Ton gesetzt. Kein Versagen der Bundesregierung, kein Verwaltungsversagen. Nein, es ist das „an und für sich Göttliche, die absolute Autorität und Majestät des Staates“ (Georg Wilhelm Friedrich Hegel), das auf breiter Front sein Unvermögen offenbart. Dabei ist dies keinesfalls Auswuchs konservativer Rhetorik. Auch in der Linkspartei ist man sich inzwischen einig, wie jüngst die Fraktionsvorsitzende Sarah Wagenknecht verlauten ließ, dass das Land „zu zerreißen“ drohe, angesichts eines „völligen Staatsversagens“ sowohl „auf sozialem Gebiet wie auf dem der inneren Sicherheit.“ Der Begriff ist so spektakulär, weil er auf die Grundfesten des Nationalstaates zielt: Die normative Legitimation des Staates selbst.
Ein riesiger Staatsapparat mit falschen Prioritäten
Mit Blick auf das staatliche Budget, scheinen derartige Vorwürfe fast schon absurd. Die Staatsquote liegt bei stolzen 44% des Bruttoinlandsproduktes, das wiederum selbst das viertgrößte der gesamten Welt ist. 4,65 Millionen Angestellte und Beamte arbeiten in hunderten Behörden und Ämtern des Öffentlichen Dienstes. Es herrscht eine gewaltige Staatswirtschaft und Bürokratie, die mittlerweile fast die Hälfte der volkswirtschaftlichen Schaffenskraft einkassiert und umverteilt. Nach „failed State“ klingt das nun nicht gerade.
Und dennoch ist der Vorwurf Staatsversagen kein zu groß gewähltes Kanonenrohr, wie die Kapitulation der Staatsmacht in der Silvesternacht von Köln eindrücklich verdeutlicht. 16.000 Stellen der Polizei wurden in den letzten Jahren in Deutschland gestrichen. „Wir werden kaputtgespart!“ verkündete jüngst Jörg Radek von der Polizeigewerkschaft GdP.
Die Richter und Staatsanwälte Schleswig-Holsteins warnten erst vor wenigen Wochen vor einer „katastrophalen Unterbesetzung“, da nicht einmal 90% der Stellen besetzt seien. Gleichzeitig ist in der Flüchtlingskrise die Verwaltung grandios überfordert. Über 370.000 unbearbeitete Asylanträge liegen allein beim Bundesministerium für Flüchtlinge und Migration (BAMF), über 400.000 Migranten haben noch gar keinen Antrag gestellt. Die Bundeswehr ist nach den Reformen der letzten Jahre zum erheblichen Teil nicht einmal einsatzbereit. An der deutschen Grenze ist mittlerweile hunderttausendfacher illegaler Grenzübertritt zu beobachten, begangen von Menschen, die unter anderem von den fetten Früchten des Sozialstaates angezogen werden, während ständig behauptet wird, die Staatsgrenze sei weder zu kontrollieren, geschweige denn, dass man die Massenmigration irgendwie stoppen könne.
„Der Fürsorgestaat blüht, der Rechtsstaat darbt.“
Wie passt das zusammen? Auf der einen Seite ein überbordender Staatsapparat, der mitmischt, einkassiert und bestimmt wo er nur kann, auf der anderen Seite umfangreiches Versagen im Bereich der nationalen Sicherheit, der Rechtsprechung und öffentlichen Ordnung. Es ist offenbar eine Frage von Prioritäten – und Staatsphilosophie. Das deutsche Staatsverständnis hat sich seit Gründung der Bundesrepublik drastisch verschoben. Von den Reformen der Agenda 2010 abgesehen, befindet sich Deutschland seit den frühen 70er Jahren im ständigen Ausbaumodus was Sozialleistungen, Staatsplanung und Wohlfahrtsstaat betrifft. Gigantische Summen – allein 300 Milliarden im letzten Jahr – verschiebt der wohlmeinende Sozialstaat mittlerweile, während er sich 1970 noch mit 42 Milliarden begnügte. Oder wie Rainer Hank es vor kurzem in der „FAZ“ treffend formulierte: „Kein Risiko, für das es keine staatliche Versicherung gäbe – Alter, Arbeitslosigkeit, Krankheit, Pflege. Keine soziale Gerechtigkeitslücke, die nicht mit Steuervorteilen oder Subventionen aufgefüllt würde – alleinerziehend, kinderreich, sonst wie benachteiligt. Der Fürsorgestaat blüht, der Rechtsstaat darbt.“
Ist der Staat der oberste Beglücker der Nation? Muss er für Wohlstand sorgen, Kinder erziehen, die Energiewirtschaft lenken, gesunde Ernährung fördern und den heroischen Kampf gegen die „Volksdroge“ Tabak anführen, oder muss er für Recht und Ordnung sorgen? Die deutsche Politik hat in den letzten Jahrzehnten beides versucht – und ist grandios gescheitert. Trotzdem ist der „Nanny State“, der allumsorgende Vormund seiner zu bemutternden Bürger, zum Allgemeinplatz geworden. Der spätmoderne Etatismus, ein vornehmlich linkes Projekt, wird nicht müde neue Subventionen zu fordern, Transferleistungen zu erfinden und Marktpreise zu regulieren.
Dass sich der Staat damit maßlos überfordert und dabei seine eigentlichen Kernaufgaben vergisst, liegt in der Natur der Sache. „So viel Staat wie nötig, so wenig Staat wie möglich“ klingt wie der Leitspruch längst vergangener Tage. Staatsphilosophien des frühen Liberalismus, beispielsweise eines Wilhelm von Humboldt, der einst festhielt: „Der Staat gehe keinen Schritt weiter, als der Sicherstellung der Bürger gegen sie selbst und gegen auswärtige Feinde notwendig ist“, sind zwischen „Sozialausbau“ und Paternalismus verloren gegangen.
Wenn der Staat nun in Fragen der Verwaltung, Justiz und inneren Sicherheit versagt, wenn er in einer Staatskrise steckt, dann ist das nicht Folge „neoliberalen Denkens“, das dem Staat das Geld für seine Wehrhaftigkeit vorenthalten würde, wie jüngst der „Spiegel“ verkündete, sondern Resultat eines falschen Staatsverständnisses. Eines Staates, der sein Gewaltmonopol lieber gegen Mindestlohndokumentationspflichtverletzungen einsetzt, als gegen Bedrohungen seiner Bürger von innen und außen.
Ein Staat, der sein Gewaltmonopol lieber gegen Mindestlohndokumentationspflichtverletzungen als gegen Bedrohungen der Bürger einsetzt
In der öffentlichen Debatte ist diese Legitimationskrise nicht angekommen. Es gibt sogar Rechtsgelehrte – an ihrer Spitze der Bundesjustizminister -, die derartige Debatten strikt unterdrücken wollen. Über Legitimation und Legalität sei nicht zu diskutieren, stellte er Ende Januar in der „FAZ“ harsch fest. Ja, Diskussionsteilnehmer die darüber reden, seien sogar selbst eine Bedrohung für Recht und Ordnung. Fast so als seien sie es, die Gesetze brechen und Normen beugen. Umso wichtiger ist es wieder nach der Legitimation des Staates zu fragen. Warum sollte er das ganze Land mit Energie versorgen können, wenn er noch nicht einmal seine Grenze schützen kann?
Ein Staatsversagen gibt es wirklich. Aber nicht, weil der Kapitalismus die Staatsautorität zu Grunde gerichtet hätte, sondern weil die ständige, wie selbstverständliche Expansion des Staates in alle Teile des Privatlebens, längst ihn selbst überfordert und auf dramatische Weise von seinen Kernaufgaben abhält. Nicht der Neoliberalismus kann als Totengräber von Recht und Ordnung identifiziert werden. Es ist der allumfassende Etatismus selbst, der die „Majestät des Staates“ in die gegenwärtige Fundamentalkrise stürzte.
Parallel zu seinem Abitur schreibt Oliver Weber als Autor und freier Journalist über Themen aus Politik, Wirtschaft und Kultur. Als Schüler steht für ihn der Blick auf die Zukunft der Republik im Zentrum seiner Überlegungen.
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