Das Gefühl macht sich breit, dem deutschen Establishment liegt nicht an der nahen östlichen Umgebung, es hat Mittelosteuropa zugunsten des Nahen Ostens abgeschrieben.
Ein Aspekt der deutschen Migrationskrise ist ein außenpolitischer. Es sieht so aus, als hätte sich Berlin umorientiert, anstatt der langjährigen Ausrichtung auf Osteuropa will sich Deutschland mehr nach dem Nahen Osten ausrichten.
Das wenigstens ist der Eindruck, den man als Beobachter im sogenannten Mittelosteuropa hat. Historisch gesehen trug Deutschland die Aufnahme der Staaten der „Visegrád-Gruppe“, auch V-4 genannt, zuerst in die NATO und dann die EU wohl mit. Es war für beide Seiten ein Gewinn. Ihr habt Vorfeld, wir haben Verankerung und Rückgrat gewonnen. Es sah auch so aus, dass Deutschland mit dem Beitritt von Tschechen, Slowaken, Ungarn und vor allem Polen eine Gruppe von natürlichen Verbündeten bekam.
Gerade weil genau das in Frankreich vermutet wurde, wollte Paris die Ost-Erweiterung nicht und versuchte, sie wenigstens zu bremsen. In der Euro-Krise, als sich Angela Merkel und Wolfgang Schäuble immer mehr einer Koalition des verschwenderischen Südens, von Frankreich angeführt, ausgeliefert sahen, ging es soweit, dass man die Visegrádler in die Eurozone locken wollte: Jedenfalls hat das Angela Merkel dem damaligen tschechischen Ministerpräsidenten Petr Nečas im September 2010 vorgeschlagen – und zuvor dem Polen Donald Tusk. Beide waren als zukünftige Verbündete gegen den verschwerischen Süden in der Eurozone von ihr gefragt. Beide haben sich bedankt (wer hätte 2010 und danach beitreten wollen?), aber was für ein Wandel im Vergleich zu der Zeit vor 2008, wo man immer davon ausgegangen ist, V-4 Mitglieder sind, was den Euro betrifft, die Bittsteller, denen man Bedingungen stellen kann. Trotzdem war z.B. die ganze Berichterstattung über die Griechenlandkrise in Prag von einer grundsätzlichen Sympathie für die sparsame Bundesrepublik getragen.
Jetzt kommt die Flüchtlingskrise und Mttelosteuropa tritt bei den EU-Gipfeltreffen in geschlossener Reihe gegen Berlin auf: Das erste Mal, seit die Neuzeit 1989 begann.
Zäune an der Ostgrenze gut, aber an der Südostgrenze schlecht
Mittelosteuropa fühlt sich als zweite Liga behandelt. Bevor die V-4 im Jahre 2008 in den Schengenraum hereingelassen wurden, mussten sie sich ganz schön anstrengen. An der Grenze zwischen der Slowakei und Ukraine wurde viel Geld investiert, die Grenze ist heute zum Teil mit Zäunen und/oder Sensoren versehen, die jeden Übertritt der grünen Grenze registrieren. Den Slowaken stehen an den 90 Kilometern ihrer Schengen-Außengrenze stets eine Flotte von Hubschraubern zur Verfügung. Es wurden auch diverse Familien- und Wirtschaftsbeziehungen zu den angrenzenden Bezirken in der Ukraine geopfert. Dasselbe gilt für Polen und seine viel längere Grenze zur Ukraine und zu Weissrussland – 900 km insgesamt. Zäune werden heute auch von den Balten gebaut, um nach der Krim-Annektion gegen Russland abgeschirrmt zu sein.
Ähnliches gilt für den deutschen Arbeitsmarkt. Als die V-4 im Jahre 2004 der EU beitraten, haben Deutschland und Österreich Übergangsregelungen genutzt und ihren Arbeitsmarkt acht Jahre lang nicht aufgemacht. Weil sich gleichzeitig Großbritannien als erstes und auf gewisse Zeit einziges Land den Osteuropäern öffnete, rollte die Lawine aus dem Osten konzentriert auf die britische Insel. Während der ersten drei Jahre kamen 500.000 Leute nur aus Polen, viele Balten zog es nach England – in Relation zu ihrer Bevölkerungszahl ganz massiv.
Insgesamt waren die Migranten aus den neuen Mitgliedsländern 20 mal so viele, als es zuvor Blair´s Regierung offiziell einschätzte (anstatt 15.000 jedes Jahr 600.000 in zwei Jahren). Natürlich sorgte so ein Exodus für Ressentiments, und falls Großbritannien nächstes Jahr aus der EU austritt, mögen Historiker beim Rückblick feststellen, der Alleingang von Blair 2004 war hier ein wichtiges Moment. Es hätte natürlich anders kommen können, wenn auch Deutschland, Österreich und Frankreich ihre Arbeitsmärkte geöffnet hätten. Dann hätte sich der Druck auf mehrere Staaten verteilen können.
Ich glaube nicht, dass „wir Osteuropäer“ intensiver auf die Öffnung der Arbeitsmärkte pochen sollten. Als Tscheche stehe ich vielleicht auch nicht im Verdacht, hier ein nationales Süppchen aufzuwärmen. (Tschechen haben keine bedeutende ökonomische Auswanderung nach 1989 erlebt, und sind die einzige unter den postkommunistischen Gesellschaften, die sich seit 1989 vergrössert hat, trotz einer niedrigen Geburtenrate. Die Einwanderung nach Tschechien ist höher als die Auswanderung.) Nur würde ich bereuen, in einer EU ohne England, dafür mit einem destabilisierten Deutschland und einem Frankreich, welches auf einen Konflikt zwischen Nationalisten und Muslimen zusteuert, leben zu müssen.
Heute, inmitten der Migrationskrise, sprechen deutsche Wirtschaftsverbände und Politiker vom Mangel an Arbeitskräften, und davon, dass der Zuzug aus dem Nahen Osten und Nordafrika das Problem lösen kann. Klar, 2004 war Arbeitslosigkeit in Deutschland ein größeres Thema als Arbeiter-Losigkeit. Aber was sagt es über das heutige Deutschland aus? Entscheiden sich deutsche Eliten und Politiker in derart strategischen Fragen nur aufgrund momentaner ökonomischer Lage und Zyklen, die bekanntlich nur ein paar Jahre dauern?
Gegen Berlin
Gleichzeitig kommt es auch im V-4-Europa zu interessanter politischer Entwicklung. Die Härte, mit der Regierungen in Prag, in Bratislava, in Budapest und in Warschau vor die Quotenregelungen gestellt wurden, trug wesentlich dazu bei, sich klarzumachen, dass dieser Vorschlag wirklich nicht in „unserem Interesse“ liegt.
Schon die Energiewende – natürlich kam sie ohne jede Warnung – hat zum Beispiel in Prag Entfremdung verursacht. Tschechien ist Transitgebiet für den grünen Strom aus Nord- nach Süddeutschland. Seit zwei Jahren baut es deshalb an der energetischen Grenze sogenannte Phasenschieber-Transformatoren, also Anlagen, die imstande wären, eine Lawine grünen Stroms aus Deutschland zurückzuschicken. Aber eine Gefahr der Blackouts ist den Leuten zu abstrakt, so lange man keinen Blackout erlebt. Die Vorstellung, dass man hier schwierige islamische Minderheiten per Anordnung aus Brüssel und aus Berlin bekommt, ist viel unmittelbarer. Probleme mit der Integration in Westeuropa, vor allem in Frankreich, sind in der tschechischen Öffentlichkeit sehr wohl bekannt, und auch Sarrazins „Deutschland schafft sich ab“ wurde umgehend ins Tschechische übersetzt.
Der Druck, sich dieses Problem importieren zu lassen, hat den V-4-Regierungen vor Augen geführt, dass ausgerechnet Berlin von ihnen etwas verlangt, was sie als klaren Nachteil empfinden. Die schlichte Kombination der Worte der Kanzerin, dass die Aufgabe einer europäischen Lösung bedarf, mit der Einschätzung der EU-Kommission, dass in den nächsten zwei Jahren drei Millionen Asylanten erwartet werden, lässt ahnen, was auf Mitteleuropa zukommen könnte.
Auch die herablassende Weise, mit der manche Westpolitiker darüber laut nachgedacht haben, dass man bei der Aufnahme der Osteuropäer vielleicht zu schnell war, dass man ihnen aus Vergeltung Subventionen streichen könnte, irritiert. Sie irritiert nicht zuletzt Politiker, die bisher automatisch „proeuropäisch“, also prodeutsch waren.
Zum ersten Mal seit 1989 steht V-4 als Ganzes zu Berlin in Opposition – seitdem jetzt in Polen die Konservativen des Jaroslaw Kaczynski die Wahl gewonnen haben, gilt das umso mehr. Das Gefühl macht sich in Mittelosteuropa breit, dem deutschen Establishment liegt nicht an der nahen östlichen Umgebung, es hat Mittelosteuropa zugunsten des Nahen Ostens abgeschrieben. Und das ausgerechnet unter einer Kanzlerin, die auch eine Ossi ist und bei der man immer ein stilles Verständnis vorausgesetzt hatte.
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