Nach der „Digital India“–Kampagne hat Ministerpräsident Narendra Modi die „Smart City Mission“ als verwandte strategische Vision von urbanen Zentren des Landes ausgerufen, um Indien mit Innovationen in das moderne Zeitalter zu katapultieren. Doch mehr als Ankündigungen sind das bisher nicht. Ronald Meinardus berichtet.
(Neu Delhi) John Kerry ist von Amts wegen ein pünktlicher Mensch. Bei seinem letzten Besuch in Indien musste sich der US-Außenminister jedoch gleich mehrmals für Verspätungen entschuldigen. Anhaltende Monsun-Regen hatten die Straßen überflutet. Auch der VIP-Konvoi des amerikanischen Staatsgastes blieb im Verkehrsstau der Millionenmetropole Neu Delhi stecken. „Ich weiss nicht wie Sie hergekommen sind – mit einem Boot oder einem amphibischen Fahrzeug“, scherzte Amerikas Top-Diplomat und verlängerte seinen Aufenthalt um 48 Stunden.
Auf der Agenda der Gespräche stand auch ein Lieblingsthema des indischen Ministerpräsidenten Narendra Modi: die so genannte „Smart City Mission“, die strategische Vision des indischen Regierungschefs, die urbanen Zentren des Landes mit einer Infusion moderner, digitaler Technologien und weiterer Innovationen in das moderne Zeitalter zu katapultieren.
Im Frühjahr hatte die indische Regierung das ehrgeizige Program nach systematischer Vorabeit an die Öffentlichkeit gebracht. Zunächst sollten 20 auserkorene Städte an dem Projekt mitwirken und den dringend erforderlichen Paradigimenwechsel für Indiens Metropolen einleiten. Berührungspunkte und Überschneidungen zur „Digital India“-Kampagne, einem weiteren futuristischen Lieblingsprojekt Modis sind schwer zu übersehen.
Smart City Mission – ein Ballon?
Ein halbes Jahr ist seither vergangen. Die anfängliche Euphorie für das staatlich gesteuerte Modernisierungsprojekt hat sichtbar nachgelassen. Auf internationaler Ebene sammelt Modi zwar Zuspruch und Zugaben – die Zahl der ausländischen Regierungen, die das Programm mit Rat und Tat unterstützen wollen, belaufe sich auf 33, verlautet aus amtlicher Quelle. An der realen Basis, in den Städten kämpfen die Menschen indes mit Problemen, die nur bedingt unter den Schirm der „Smart City Mission“ fallen. Dort geht es vorrangig nicht um innovative Mobilitäts- und Verkehrssysteme oder die Einführung von neuen Formaten der E-governance – und deren Vermarktung in Hochglanzbroschüren. Es geht um wesentlich Grundsätzlicheres: die Schaffung von Strukturen für das Überleben von Millionen von Menschen in menschenwürdigen Verhältnissen.
Dass Indien von dieser Marke noch weit entfernt ist, erleben wir beispielhaft jedes Jahr wieder, wenn der Monsun über das Land fegt, die urbanen Zentren in Wassermassen versinken und Jahr um Jahr Dutzende, wenn nicht Hunderte Menschen ums Leben kommen. Mit großer Regelmässigkeit schwemmen die Katastrophen das Drama der urbanen Unterentwicklung in das öffentliche Bewusstsein. Auf konkrete Abhilfe im Sinne von dauerhaften Lösungen warten die Menschen vergebens.
„Indiens Städte kollabieren“ kommentieren The Times of India in einem Leitartikel. Die führende Englisch-sprachige Tageszeitung moniert die „arme oder nicht-vorhandene urbane Infrasruktur“. Desolat ist die Situation nicht nur in Neu Delhi, ähnlich katastrophal sei die Lage in Chennai, Mumbai, Hyderabad und Bengaluru. In dem oft als Silicon Valley Indiens bezeichneten ehemaligen Bangalore sind die Hälfte der Haushalte nicht an die öffentliche Kanalisation angeschlossen. Mumbai ist Indiens boomende Finanzmetropole und das Zentrum der Bollywood-Filmindustrie. Übersehen wird bisweilen, dass die Hälfte der Menschen dort in Slums lebt. Die Zahl der Bewohner „inoffizieller Siedlungen“ – wie es amtlich heisst – wächst explosionsartig. Jede Minute zieht es 30 Inder vom Land in urbane Zentren.
Prognosen zufolge wird sich die Zahl der Stadtbewohner in Indien in den kommenden vier Jahrzehnten um eine halbe Milliarde Menschen erhöhen. Der Subkontinent erlebt eine demographische und soziökonomische Transformation, die in der Menschheitsgeschichte ihres Gleichen sucht, meinen Experten. Was dort in Südasien vor sich geht, hat Auswirkungen weit über die Grenzen des Subkontinents hinaus. Wenn eine halbe Milliarde indischer Landbewohner Ochs und Wagen hinter sich lassen und in den explodierenden Metropolen auf Moped oder gar Kleinwagen umsatteln, hat das dramatische Auswirkungen auf das Weltklima. Dieser Zusammenhang erklärt, warum Indien – zusammen mit den USA und China – bei sämtlichen klimapolitischen Verhandlungen in der ersten Reihe sitzt.
In einem aktuellen Bericht der Vereinten Nationen erscheinen mit Neu Delhi und Mumbai gleich zwei indische Metropolen in der Liga der Städte mit mehr als zehn Millionen Bewohnern. In der Projektion auf das Jahr 2030 rechnen die UN-Experten, dass zehn indische Metropolen in diese Kategorie fallen werden – und Neu Delhi dann über 36 Millionen und Mumbai knapp 28 Millionen Einwohner zählen wird. Wichtig ist, dass die Experten von „urban agglomorates“ – also städtischen Ballungsgebieten – sprechen. Denn die Mehrheit der Binnenwanderer wird die Stadtzentren kaum erreichen. Sie bleiben schon jetzt an den Außengrenzen hängen auf ihrer Suche nach einem besseren Leben, einem Job, Gesundheitsversorgung und einer Schule für die vielen Kinder – jenseits des Zugriffs und der Fürsorgepflicht der völlig überforderten Stadtverwaltungen.
Fragmentierte Splitter
Raumordnung und Stadtplanung sind hier nicht bekannt. „Die Infrastruktur unserer Städte ist kein Netzwerk oder ein System. Sie ist eine Sammlung fragmentierter Splitter“ sagt Gautam Bhan vom Indian Institute for Urban Settlements. Das gilt auch für die Hauptstadt Neu Delhi, die ohne Plan gewachsen ist und wo – so Experte Bhan – lediglich ein knappes Viertel der Bewohner außerhalb der „spatial illegality“ – der räumlichen Illegalität – leben.
In diesem System, das die Weltbank als „chaotische und verdeckte Urbanisierung“ bezeichnet, ist der Zugang zu Infrastuktur und Basisversorgung mit öffentlichen Dienstleistungen ein Objekt der politischen Macht und Patronage. Indien trägt zu Recht – und nicht ohne Stolz – den inoffiziellen Titel der größten Demokratie der Welt. Eine Besonderheit dieser lebendigen Demokratie ist ein ausgeprägter Föderalismus, der den Einzelstaaten große Machtfülle gibt. Deweil ist die Demokratie auf der kommunalen Ebene, dort wo Politik für die Menschen greifbar und erfahrbar ist, kaum oder allenfalls embryonisch entwickelt.
Das Fehlen einer starken und funktionalen kommunalen Selbstverwaltung ist die größte Hypothek der indischen Smart City-Vision und damit einhergehend der dringend gebotenen urbanen Erneuerung. Anstelle die Kompetenzen der lokalen Gebietskörperschaften auszuweiten und die viel beklagten Kompetenzdefizite der Kommunalbeamten durch Ausbildungsprogramme systematisch zu bekämpfen, steuert die Zentralregierung in die entgegengesetzte Richtung. Im Kontext der „Smart City Mission“ hat Neu Delhi kurzerhand eine neue, weitere Behörde ins Leben gerufen: Das „Special Planning Vehicle“ wirkt eher wie eine zentralistische Parallelverwaltung als ein Instrument der lokale Autonomie. Nicht zu Unrecht gibt es Unmut, der in einigen Städten zu offenem Widerstand gegen die „Smart City Mission“ angewachsen ist.
„Alle Entscheidungen müssen auf der örtlichen Ebene getroffen werden“, sagt Amir Ullah Khan, der in leitender Funktion in der indischen Verwaltung tätig war und nun als Berater sein Geld verdient. „Solange die Regierung über die Vergabe der Mittel entscheidet, bleibt wenig Hoffnung für das Smart City Projekt“.
Kurzum: Ohne politische Reformen wird Modis Vision das bleiben was sie ist – eine Vision. Ein weiterer Plan ohne Chance der Verwirklichung, von denen es in Indien bereits so viele gibt.
Dr. Ronald Meinardus leitet das Regionalbüro Südasien der Friedrich Naumann Stiftung für die Freiheit (FNF) in Neu Delhi. Zuvor verbrachte er viele Jahre im Nahen Osten, in Ostasien und Griechenland. Der gelernte Hörfunkredakteur nennt journalistisches Schreiben ein Hobby. Für ihn ist die Informierung interessierter Menschen in Deutschland über die Partnerländer auch Teil seines beruflichen Auftrags. Das gelte besonders für Indien, das in den deutschen Medien nicht die Beachtung finde, die ihm wegen seiner Größe, vor allem seines enormen Potentials zustehe.
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