Kurdistan und die deutschen Perspektiven

Deutschland wird sich entscheiden müssen, ob es bei der Unterstützung und Festigung der kurdischen Demokratie eine aktive Rolle spielt oder aus Rücksicht auf eine zunehmend präsidialdiktatorische Türkei die junge Demokratie im Stich lässt.

Teil 2 – Chancen und Risiken des kurdischen Wegs

IV. Chancen und Risiken der kurdischen Autonomie

Es macht wenig Sinn, darum herum zu reden: In der Vergangenheit standen einer kurdischen Autonomie nicht nur die zahlreichen Regionalmächte entgegen – auch und gerade die innere Zerrissenheit der Kurden durch Sippenkonflikte machte es den Autonomiegegnern leicht, die kurdische Eigenstaatlichkeit zu unterbinden. So ist auch heute festzustellen, dass die Solidarität nicht nur zwischen yezidischen, alevitischen, christlichen und sunnitischen Kurden im Irak nur begrenzt hält – in der Vergangenheit bildeten gerade fundamental-sunnitische Kurden oftmals die Speerspitze gegen die von ihnen als „Ungläubige“ oder „Teufelsanbeter“ verketzerten Volksgruppen.

Die Solidarität zwischen der im Irak agierenden Barzani-Sippe und der von Abdulah Özcalan geprägten türkischen PKK erschöpfte sich in der Vergangenheit ebenso oftmals in Macht- und Stammeskonflikten – eine Situation, auf die der türkische Präsident Erdogan setzte, als er im Sommer 2015 den massiven, bewaffneten Kampf gegen die PKK im Stile seiner nationaltürkischen Vorgänger reaktivierte, um die bei den Wahlen erfolgreiche türkisch-kurdische Partei HDP des Selahatin Demirtash politisch zu vernichten.

Gleichzeitig aber führt der radikalsunnitische IS den Kurden zwischen Nordsyrien und Westiran vor Augen, dass für sie eine dauerhafte, eigenstaatliche Zukunft zwingend daran geknüpft sein wird, die inneren Konflikte und Konkurrenzen zu überwinden. Dazu gehört angesichts der kurdischen Glaubensvielfalt auch und insbesondere die Abkehr von dem insbesondere von den islamischen Sunniten tradierten Anspruch, die eigene Religionsauffassung als einzig zulässige zu akzeptieren und Andersgläubige im Namen Allahs zu diskriminieren und zu verfolgen.

Die Öffnung der Peschmerga-Armee für Frauen im Jahr 1996 stellt dabei einen Tabubruch mit den islamischen Traditionen dar und kann, wenn sich die Kurdinnen ihrer von den Forderungen des Koran deutlich abweichenden Gleichwertigkeit als Gleichberechtigung bewusst werden, ebenso zum Entstehen eines modernen, säkularen Staates Kurdistan beitragen wie jene Erkenntnis der gemeinsamen Gegnerschaft nicht nur zum fundamental-islamischen IS.

Trotz seiner demokratischen Verfassung, anerkannt freier Wahlen, Minderheitenschutz und einer Frauenquote im Parlament von 30 Prozent ist die Autonome Region Kurdistan im Irak dennoch nicht mit westeuropäischen Maßstäben zu messen. Nach wie vor gilt es, das fragile Gleichgewicht zwischen den Sippen und Glaubensrichtungen sorgsam auszutarieren und zu einem für alle Seiten tolerablen Interessenausgleich zu kommen. Hierbei allerdings hat sich der amtierende Präsident Masud Barzani, Sohn des 1961 aufständischen Mustafa Barzani , trotz der von politischen Gegnern des Nepotismus geziehenen, politischen Dominanz seiner Sippe wiederholt als diplomatisch geschickt und pragmatisch erwiesen.

Unabhängig davon, ob es den irakischen Kurden gelingt, ihren Autonomiestatus mittelfristig in die offizielle Eigenstaatlichkeit zu führen, darf nicht verkannt werden, dass von Arbil deutliche Signale in die Region ausgehen, die nicht nur auf Gegenliebe treffen. Während sich der schiitische Irak damit abgefunden zu haben scheint, den Weg in die kurdische Unabhängigkeit im Norden nicht mehr aufhalten zu können und auf Druck der USA zunehmend mehr bereit ist, auf gleichberechtigter Basis den gemeinsamen Kampf gegen die Radikalsunniten abzustimmen, ist die Entwicklung im Nordirak insbesondere den Nationaltürken um Erdogan ein Dorn im Auge. Denn eine funktionsfähige kurdische Demokratie im Irak sendet an die in türkischem Staatsgebiet lebenden Kurden das ständige Signal eines „Es geht!“. Je mehr die staatliche Unabhängigkeit der irakischen Kurden Realität wird, desto weniger werden die türkischen Kurden bereit sein, ihre bis zur bewaffneten Unterdrückung gehende Ausgrenzung durch die Nationaltürken zu akzeptieren. Ähnliches gilt weiterhin für die im Nordwest-Iran und in Nord-Syrien lebenden Kurden, die sich ebenfalls an Arbil orientieren.

Für die regionalen Vertreter der Gottesstaatsidee nicht nur im Iran wäre eine funktionsfähige, kurdische Demokratie darüber hinaus nach Israel das zweite nahöstliche Menetekel zur Überwindung mittelalterlich-religionstotalitärer Staatsvorstellungen. So wie der russische Präsident fürchtet, den totalitären Zugriff auf sein Volk durch erfolgreiche Demokratien in ex-sowjetischen Republiken zu verlieren, so geht von einer erfolgreichen Demokratie in einem islamisch geprägten Nahoststaat eine konkrete Einsturzgefahr für das Gottesstaatsdiktat aus. Nicht nur die des Glaubensdiktats mehr als überdrüssige junge Generation der iranischen Kulturnation blickt insofern voller Spannung nach Arbil – und bereitet den in ihrer religionsfundamentalistischen Erstarrung verharrenden, alten Männern in Teheran und Ghom schlaflose Nächte.

V. Russische und westliche Fallgruben

Sah es lange Zeit so aus, als würde die kurdische Eigenstaatlichkeit im Irak zum Selbstgänger, werden durch das Eingreifen der Russen in Syrien auch die kurdischen Karten neu gemischt. Die Türkei muss das russische Vorgehen als eindeutig gegen seine Interessen gerichtet sehen. Sollte Putin in seinen imperialen Bestrebungen an die zaristisch-sowjetische Tradition anknüpfen wollen, sich künftig auch als Schutzmacht zumindest der in der Türkei lebenden Kurden zu empfehlen um damit die russische Einflusszone über das von ihm beanspruchte Georgien-Armenien und ein PKK-Kurdistan bis in seinen im Aufbau befindlichen syrischen Alewitenstaat auszudehnen, käme dieses quasi einer Kriegserklärung an die Türkei gleich. Jedoch würde ein solches Vorgehen den aktuellen Verbündeten im Iran wie den Schiiten im Irak abschließend vor Augen führen, dass es Russland bei seinem Engagement nicht um freundschaftliche Unterstützung der syrisch-schiitischen Alawiten des Bashar alAssad, sondern ausschließlich um eigene Interessen geht.

Putin dürfte insofern eine offene Unterstützung der PKK vorerst zurückstellen.
Die europäischen NATO-Staaten – und darunter insbesondere die Bundesrepublik – haben dagegen durch eine geschickte Politik der Unterstützung und Einwirkung auf den Kurdenstaat von Arbil die Möglichkeit, über das Vorbild eines funktionsfähigen, demokratisch-säkularen Kurdenstaats maßgeblich zu einer demokratischen Entwicklung im Nahen Osten beizutragen. Die bundesrepublikanische Außenpolitik ist durch ihre Unterstützung der Peschmerga – ob gewollt oder ungewollt – selbst bereits zum Player in der Region geworden. Sie steht dabei mit ihrer Politik nicht nur in der Konkurrenz zu erklärten Gegnern einer demokratischen Entwicklung wie Russland und dem Iran, sondern auch zu vorgeblichen Verbündeten wie der Türkei.

Deutschland wird sich im Zweifel entscheiden müssen, ob es bei der Unterstützung und Festigung der kurdischen Demokratie eine aktive Rolle spielen will oder aus Rücksicht auf eine zunehmend präsidialdiktatorisch auftretende Türkei die junge Demokratie im Stich lassen wird. Maßgeblich wird dabei sein, die Kurden nicht nur waffenlogistisch zu unterstützen, sondern die Hilfe durch adäquate Angebote auch auf zivile Bereiche wie Bildung, Verwaltung und Wirtschaft zu erweitern.

Ein Problem der Deutschen und mit ihnen der Europäer kann jedoch neben den türkischen Widerständen, die bereits in der stillschweigenden Beförderung des Flüchtlings-Exodus durch die Erdogan-Administration ihren Niederschlag finden, auch die durch traditionelle Wankelmütigkeit geprägte Außenpolitik der USA werden. Zwar haben die USA die Autonomie der irakischen Kurden bislang aktiv unterstützt und setzen im Konflikt gegen den IS ähnlich Deutschland aktiv auf die Peschmerga als verbündete Bodentruppen, jedoch steht – ähnlich dem türkischen Fake der tatsächlich gegen die PKK gerichteten, vorgeblichen Luftschläge gegen den IS – zu befürchten, dass die außenpolitisch perspektivlos agierende Obama-Administration erneut einknickt und die Kurden zugunsten scheinbarer NATO-Interessen verrät. Das allerdings wäre dann die optimale Einstiegsoption Russlands, seinen Einfluss in der Region bis tief in das nahöstliche Hinterland zu erweitern.

Will der Westen diese geopolitische Perspektive Moskaus unterbinden, wird nicht nur die aktive und auszubauende Unterstützung der Arbil-Kurden von hoher Bedeutung sein. Es ist auch dringend an der Zeit, das Verhältnis zur PKK zu überdenken und diese über Kooperationsangebote in eine gemeinsame, auf friedliches Zusammenleben von Türken und Kurden orientierte Perspektive einzubinden. Diese Perspektive muss nicht zwangsläufig in eine nationalstaatliche Einheit aller Kurden oder eine eigene, staatliche Unabhängigkeit der türkischen Kurden führen – jedoch wird dem NATO-Partner Türkei unmissverständlich klar gemacht werden müssen, dass er mit „seinen“ Kurden wie mit anderen Minderheiten endlich zu einer Situation des Ausgleichs und der Rechtsgleichheit kommt. Diese muss autonome Selbstverwaltungsrechte ebenso umfassen wie die uneingeschränkte Gleichberechtigung der kurdischen Kultur in der türkischen Gesellschaft. So lange dies nicht der Fall ist, kann ein seinen Grundsätzen verpflichtetes Europa weder die EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei ernsthaft fortsetzen noch die Erpressungsversuche der türkischen Regierung in Sachen Flüchtlingspolitik und NATO akzeptieren.

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