Keine Aufarbeitung: Warum es so schwer ist, über Coronapolitik zu diskutieren

Nicht nur von offizieller oder halboffizieller Seite scheint die Bereitschaft der Verantwortlichen, sich mit den Abläufen und Vorgängen während Corona sowie entsprechenden Folgen auseinandersetzen zu wollen, mit „Null“ noch reichlich euphemistisch umschrieben. Daniela Seidel beschreibt die dabei zum Einsatz kommenden Neutralisationstechniken.

IMAGO/IPON

Die Corona-Aufarbeitung ist also – zumindest im Bundestag und wenigstens bis zur nächsten Legislaturperiode – erst einmal vom Tapet. Angeblich bedauerlich für Christian Drosten, der ja treuherzig für eine solche plädierte, denn „jede Pandemie sei zwar anders, aber es gebe Elemente, die man übertragen könne“. Zudem bekräftigte er: „Wir wissen, was wir getan haben, das ist auch jetzt im Nachhinein noch richtig, und es wird beim nächsten Mal natürlich auch wieder notwendig sein“ (ab Minute 23:59). Was unser aller Virus-Papst aus seinen Erfolgen bei der Schweinegrippe 2010 gelernt hat, bei Corona vertiefte und zukünftig zur Vollkommenheit führen möchte, bleibt indes leider im Ungefähren.

Unklar bleibt ebenfalls, wie bitter sich die ausgesetzte Aufarbeitung für Alena Buyx, die ehemalige Ethikrat-Vorsitzende, wohl anfühlt. Denn: „Wir sollten das tun, wir machen das auch, aber wir sollten, ich halte das für wichtig, welche Art, das muss dann, wenn man es politisch macht, wirklich gut gestaltet sein.“ So sprach sie erst kürzlich, wenn auch wenig druckreif, fügte aber mit drohendem Fräulein-Rottenmeier-Zeigefinger in Richtung der Medienschaffenden noch hinzu: „Und im Übrigen, Sie wären da ja nicht außen vor, das wissen Sie ganz genau.“

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Viel falsch gemacht haben kann sie selbst aber wohl kaum, trägt sie doch nun das Bundesverdienstkreuz, da sie „den Konflikt zwischen staatlichen Schutzmaßnahmen und individuellen Freiheitsrechten verständlich erläutert habe“. Verständlich für wen?, fragt sich nicht nur an dieser Stelle der geneigte Leser. Zeit-Autor Nils Markwardt schien sich die kryptischen Worte allerdings unmittelbar zu Herzen genommen zu haben und forderte mit einem „Vergesst es!“ zum kollektiven und persönlichen „Schwämmchen drüber“ auf. Und jeder Betroffene und Leidtragende bleibt sprach- und fassungslos zurück.

Doch nicht nur von offizieller oder halboffizieller Seite scheint die Bereitschaft, sich mit den Abläufen und Vorgängen während Corona sowie entsprechenden Folgen auseinandersetzen zu wollen, mit „Null“ noch reichlich euphemistisch umschrieben. Sowohl im privaten Umfeld als auch insbesondere bei Social Media ist ein genervtes Augenrollen eine häufige, aber bei weitem nicht die schauderhafteste Quittung, sobald das Thema zur Sprache kommt.

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Abwertung, Verächtlichmachung, Bagatellisierung, Schuldumkehr, Hohn und Spott sind an der Tagesordnung. Kritiker sollten sich langsam mal ein neues Hobby zulegen. Wer nicht darüber hinwegkomme oder überhaupt das Gefühl habe, beeinträchtigt worden zu sein, solle sich mal einen guten Therapeuten suchen, so meint zum Beispiel die einfühlsame Barbara Domke von den Grünen. Und nur, weil man irgendwann vor tausend Jahren mal ein paar Wochen nicht ins Restaurant durfte, gäbe es ja wohl heute nichts mehr rumzuheulen. Dass in dieser Zeit viele ihren Betrieb oder ihre kompletten Altersrücklagen verloren, Menschen einsam sterben mussten, man weder diesen noch seinem kranken Kind noch seiner gebärenden Frau angemessen Beistand leisten durfte, die sich mit Maske im Kreißsaal quälte, wird bestenfalls mit einem Schulterzucken, schlimmstenfalls mit einem süffisanten Grinsen abgetan. Von Impfnötigung und 2G-Terror sei jetzt noch gar nicht angefangen.

Warum nur fallen mir in diesem Zusammenhang immer und immer wieder die in der Kriminalpsychologie hinlänglich bekannten und von den Soziologen Sykes und Matza im Jahre 1957 entwickelten, sogenannten Neutralisationstechniken ein? Diese erklären, wie Menschen, die kriminelle Handlungen begehen, es schaffen, Gewissensbisse zu verdrängen, kognitiven Dissonanzen, die aus dem Widerspruch zwischen einem Wertesystem und dem eigenen Verhalten entstehen, entgegenzuwirken, ihre Taten zu rationalisieren und sich selbst oder anderen gegenüber zu rechtfertigen.

Es handelt sich dabei um

  1. Leugnung der Verantwortung,
  2. Leugnung des Unrechts,
  3. Leugnung des Opfers,
  4. Verdammung der Verdammenden,
  5. Berufung auf höhere Instanzen

In einer moderneren Version wurden sie noch um, unter anderem, moralische Neutralisierung erweitert. Allein die Bezeichnungen sind schon so selbsterklärend, dass es keiner weiteren Ausführung mehr bedarf, wobei diese im Einzelnen hier nachzulesen sind.

Im weiteren Forschungsverlauf fanden diese Betrachtungen Anwendung im organisationalen Kriminalitäts-Kontext, bei sozialen Normverletzungen oder auch in Hinblick auf totalitäre oder repressive Regime, bei denen politische Führer, Behörden und staatliche Institutionen die Techniken verwenden, um ihre Handlungen zu rechtfertigen und Verantwortung abzuwehren. Häufig auch, um sich im Nachhinein vor juristischen oder moralischen Konsequenzen zu schützen.

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Ich möchte natürlich nicht behaupten, dass eifrige Mitläufer, vorauseilend gehorsame Unterstützer oder selbsternannte, mehr-als-zwei-Personen-meldende Blockwarte Kriminelle wären. Geschweige denn, unsere geliebten Volksvertreter und hochgeschätzten Experten. Das wäre ja delegitimierend ohnegleichen und könnte nicht nur dem Gemeinwohl, sondern vor allem meinem Kontostand oder meiner räumlichen Bewegungsfreiheit erheblichen Schaden zufügen. Mir sind die Parallelen eben nur aufgefallen, mehr nicht. Ehrlich!

Auch möchte ich keinesfalls die Kompetenz der konsultierten Fachleute in Frage stellen. Universalgenie Heinz Bude, seines Zeichens Soziologe, Psychologe und Publizist beriet die um unser Wohl unfassbar besorgte Bundesregierung schon hinsichtlich des berüchtigten Panikpapiers. Nicht nur plauderte er nahezu verschmitzt von einem wissenschaftsähnlichen Modell daher, das „Folgebereitschaft“ erzeugen solle, er schaffte es auch frühzeitig, das Thema Aufarbeitung direkt ins rechte Eck zu stellen.

Der Mann hat Ahnung, keine Frage. Dass er und seine Kollegen sich die psychosozialen, individuellen und gesellschaftlichen Kollateralschäden von Todesangst-Erzeugung, Corona-Maßnahmen und Impfgegner-Ausgrenzung nicht vorstellen konnten, halte ich für unwahrscheinlich. Auch sind die oben beschriebenen Techniken nicht gerade das bestgehütete Geheimnis der Psychologie. Denn zum einen sind Mechanismen der Bewältigung, Abwehr und Verdrängung, die lediglich eine Reduktion von Schuldgefühlen bewirken, destruktiv und erhöhen nach einhelligem Forschungsstand das Risiko einer Wiederholungstat.

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Zum anderen ist der Effekt auf die Geschädigten verheerend. Eine fehlende Anerkennung des erlittenen Leids durch die Täterseite sowie ausbleibende Reue, Entschuldigung und Wiedergutmachung haben schwerwiegende, kurz- und langfristige emotionale und psychische Konsequenzen. Dies betrifft nicht nur die individuellen Opfer, sondern auch das gesellschaftliche Klima. Derartige Techniken verschärfen das Trauma und behindern die Heilung, sie beschädigen nachhaltig das Vertrauen in staatliche Institutionen und in die Gerechtigkeit. Sie führen zu Gefühlen der Ohnmacht und Wut, der Isolation und Entfremdung, chronischen psychischen Erkrankungen, Verlust der Lebensfreude, erschwerter Verarbeitung und Heilung, fortbestehenden Konflikten und letztlich zur Erosion des sozialen Zusammenhalts. Die Fachliteratur spricht Bände.

Man muss aber auch nicht alles pathologisieren und psychologisieren. Wobei man nicht einmal Küchenpsychologe zu sein braucht, sondern einem die Alltagserfahrung schon sagt, dass es der Verzeihens- und Versöhnungsbereitschaft nicht eben zuträglich ist, wenn asoziales Verhalten anschließend durch noch asozialeres Verhalten gekrönt wird. Ich möchte jedoch auch nicht zu zynisch werden. Selbst wenn Zynismus eine, laut etlichen Studien, ebenfalls sehr häufig auftretende Begleiterscheinung einer solchen Erfahrung ist.

Außerdem ist ja bald schon wieder Weihnachten. Und wahrscheinlich habe ich daher (ich wüsste sonst wirklich nicht warum) den gutmütigen Feuerzangenbowle-Lehrer Bömmel im Ohr, der mit den schlichten, ergreifenden Worten den Raum verlässt: „Bah, wat habt ihr für ne fiese Charakter!“

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Kommentare ( 2 )

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Heiner Mueller
4 Stunden her

Die 5 genannten Punkte sind Kennzeichen einer abgrundtiefen Bösartigkeit. Hannah Arendt schrieb wăhrend der Auschwitzprozesse von der „Banalität des Bösen“. Diese trifft mam hier wieder.

Kampfkater1969
4 Stunden her

Wer soll hier den Fehdehandschuh werfen?
Ich bin nicht geimpft, auch meine Familie ist komplett nicht geimpft. Die Geimpften bezahlen akutell mit der Übersterblichkeit, damit mit Leid und Elend. Ich für meinen Teil werde schweigen, auch wenn wir diskriminiert und schikaniert wurden, aber ich will den Geschädigten nicht ihr vermeintliches Seelenheil stören. Da müssen die Geimpften selbst tätig werden und ihre Schädiger zur Veranwortung ziehen, aber die meisten werden sich ihren Seelenfrieden weiter zu erhalten versuchen.