Meinungseliten und Entscheidungsträger aus dem alten Machtzentrum der EU müssten viel mehr an Wissen, Erfahrung und Verständnis für die Ideen und Befindlichkeiten der Menschen in den Ländern Ost- und Mitteleuropas entwickeln. Aus ungarischer Sicht stellen sich fünf große Herausforderungen. Von Bence Bauer
Mit dem Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine haben sich die Prioritäten europäischer Sicherheits-, Verteidigungs- und Außenpolitik schlagartig geändert. Strategische Souveränität, Verteidigungsbereitschaft und außenpolitische Resilienz sind die oft genannten Schlagworte. Während in Europa in diesen Fragen selten gesehene Einigkeit herrscht und ein gemeinsamer Sanktionsmechanismus etabliert werden konnte, herrscht in vielen weiteren strategischen Punkten der Zukunft Europas weiterhin Gesprächsbedarf. Gerade den Ungarn ist mit dem Abklingen der zweijährigen Corona-Pandemie ein reger Austausch über viele europäische Grundsatzfragen immer wichtiger geworden. Im Folgenden sollen die aus ungarischer Sicht relevanten Herausforderungen der Europäischen Union kurz dargestellt werden. Diese sind als Diskussionsansätze und Anregung zu verstehen, in einen neuen gemeinsamen europäischen Diskurs einzutreten.
1. Die Spaltung der Europäischen Union in Ost und West
Während Francis Fukuyama 1989 noch vom Ende der Geschichte sprach, der Westen als Sieger aus dem Kalten Krieg hervorging und mit der Wiedervereinigung von Ost und West eine neue Dimension der europäischen Zusammenarbeit erreicht worden ist, scheint mittlerweile eine Ernüchterung eingetreten zu sein. Diese ist dem Umstand geschuldet, dass womöglich das Zusammenwachsen des Kontinents nach der zwei Generationen währenden Spaltung ein langsamerer und mühseligerer Prozess werden konnte als zunächst antizipiert. In den neuen Mitgliedsländern, insbesondere in Polen und Ungarn, übersteigt die Zustimmung zur Mitgliedschaft in der Europäischen Union die entsprechenden Kennziffern aus den westeuropäischen Ländern bei Weitem.
Trotzdem macht sich der Eindruck breit, man sei zu einer westlich geprägten Union gestoßen und müsse deren Mentalität, Verfahrensweisen und Politikgestaltung ohne Widerrede akzeptieren, während der „Westen“ selbst nicht wahrhaben will, dass die erweiterte Europäische Union sich in Substanz, Charakter und Wahrnehmung verändert haben könnte. Belegt wird diese These durch entsprechende Narrative in den Ländern Mittel- und Osteuropas, aber auch durch jüngste Veröffentlichungen in den akademischen Diskursen, wie etwa Krastev/Holmes: „Das Licht, das erlosch: Eine Abrechnung“ oder Mappes-Niediek: „Europas geteilter Himmel: Warum der Westen den Osten nicht versteht“. Diesem allgemeinen Gefühl des Nicht-Verstanden-Werdens liegt kaum eine materielle, vielmehr aber eine ideelle Verarmung der Europäischen Union zugrunde.
2. Ein neuer Kulturkampf?
Die von westeuropäischen liberalen Meinungseliten gestellten Forderungen der Identitätspolitik, des Antirassismus, des Feminismus, der Genderideologie, der offenen Grenzen und Gesellschaften und ähnlichen Ansichten stoßen in den Ländern Mittel- und Osteuropas auf Skepsis. Sind diese Ideologien wirklich unabdingbarer Bestandteil der freien Welt, der man sich nach 1989 anschließen konnte? Und vertreten diese ideologisierten Debatten zwischen Medien, Kultur, Nichtregierungsorganisationen und Teilen der Politik wirklich den europäischen Bürger und den europäischen Geist?
Vermengen sich diese vielleicht gar nicht die europäischen Mehrheitsgesellschaften repräsentierenden Ansichten mit einem Missionierungsdrang gen Osten, gepaart mit Arroganz und Besserwisserei, wird die Kernsubstanz der Europäischen Union unmittelbar angegriffen – die Qualität dieses Duktus wird insbesondere von den Gesellschaften Mittel- und Osteuropas als dringende und ernste Gefahr wahrgenommen. Da diese Meinungseliten auch nicht über hinreichende demokratische Legitimation verfügen, aber dennoch für eine vermeintliche tonangebende Elite sprechen, wird der Glaube an die Europäische Union spürbar untergraben. Dieser viel auf Meinung, wenig auf Fakten basierende politische Diskurs wird von einigen wenigen dominiert, daher ist die Gefahr virulent, dass das europäische Projekt sich selbst delegitimiert und nicht mehr als demokratisches Gemeinwesen verstanden wird.
3. Der demographische Wandel und die Zukunft unserer Kinder
Ein großer Staatsmann pflegte einst zu sagen, er plane nicht bis an sein eigenes Lebensende, sondern bis zu dem seiner Kinder und sogar bis zum Lebensende seiner Enkel und Kindeskinder. Diese Aussage verdient Wertschätzung, da sie den Horizont von Politikplanung und Politikgestaltung erweitert und zugleich die Interessenlagen zukünftiger Generationen mitberücksichtigt. Europa altert, kinderlose Familien sind keine Seltenheit mehr. Auch ermangelt es mehreren politischen Führungspersönlichkeiten westeuropäischer Länder überhaupt des Nachwuchses, obwohl dies vor einigen Jahrzehnten noch die Norm war. Wenn aber vielerorts Kinder schlicht nicht mehr zahlreich geboren werden und in den Dimensionen politischen Handelns auch nicht vorkommen, untergräbt Europa seine Zukunftsaussichten.
Diese Herausforderung ist für sich genommen eine der größten der modernen Industriegesellschaften und unterminiert langfristig in fast allen europäischen Ländern den Glauben an die eigene Zukunftsgestaltung. Umso mehr tut eine kindergerechte und kinderfreundliche Politik gut daran, mit Steueranreizen, der Förderung des Kinderkriegens und des Eigenheimbaus einen Bewusstseinswandel in der Gesellschaft herbeizuführen, in der Kinderlärm wie Musik in den Ohren klingt und nicht als eine Störung der liebgewonnenen kinderlosen Ruhe wahrgenommen wird. Die Gefahren des demographischen Wandels können schnell zu einer realen materiellen Bedrohung ausarten, sofern nicht langfristig ausgerichtete Abwehrmaßnahmen getroffen werden. Wenn bei Entscheidungen die zukünftigen Generationen nicht mehr berücksichtigt werden, schwindet auch die demokratische Akzeptanz unweigerlich.
4. Migration
Unmittelbar mit der oben skizzierten Herausforderung des demographischen Wandels zusammenhängend steht die Bedrohung durch die massenhafte Zuwanderung. Während uns die linksliberalen Meinungseliten glauben lassen wollen, dass die Migration aus allen Teilen der Welt etwas Gutes sei, sieht der Querschnitt der Bevölkerung Europas dieses Ansinnen doch mehr als kritisch, ausdrücklich aber die Menschen in den Ländern Mittel- und Osteuropas. In der Migrationskrise kumulieren sich Problemlagen wie die Spaltung Europas in Ost und West, die Meinungsführerschaft der linksliberalen Narrative im neuen Kulturkampf sowie die Frage um die Zukunft unserer Kinder. Nach der Idee der stimmgewichtigen Narration der „anywheres“, eines Amalgams aus gutverdienenden und moralisierenden neulinken Großstadteliten, soll die Bevölkerung mehr und mehr mit Menschen vor allem aus geburtenstarken, aber leistungsschwachen Ländern der ganzen Welt vermengt und vermischt werden.
Dementgegen möchten die immer noch die Mehrheit ausmachenden, aber einer effektiven politischen Artikulation ermangelnden „somewheres“ die Verhältnisse möglichst bewahren und nur schrittweise ändern, vor allem aber selber bestimmen, mit wem sie zusammenleben. In dieses Paar der Gegensätze gliedern sich die Menschen aus Mittel- und Osteuropa ein, wobei sie überwiegend die „somewheres“ repräsentieren, die mit ihrem Land, ihrer Heimat, ihrer Nation, ihrer Religion und Kultur, ihrer natürlichen Lebensumgebung, ihrem Brauchtum sowie ihren Gewohnheiten Europa bewahren wollen, wie es ist. Für sie fußt Europa mit seinem judeo-christlichen Erbe auf nationalen Identitäten, die erst den European Way of Life möglich machen.
5. Terrorismus und Antisemitismus
Vor dem Hintergrund der bedrohlichen Folgen der Migration ergibt sich mitunter die Gefahr des islamistischen Terrorismus, gepaart mit einer bereits jetzt absehbaren zunehmenden Tendenz des Antisemitismus, der vor allem in den Großstädten Westeuropas zugegen ist. Während etwa Budapest als einer der ganz wenigen Großstädte in Europa mehr Juden als Muslime beheimatet, hat sich dieses Bild im Westen verkehrt. Dort etwa geht ein nicht enden wollender Antisemitismus von radikalen und gewaltbereiten muslimischen Einwanderern aus. Diese Gefahr hängt mit einer erhöhten Vulnerabilität der Europäischen Union zusammen, deren prominente Mitgliedsländer jahrzehntelang der Illusion hinterhereilten, gemischte Gesellschaften und globalisiertes Multikulti seien doch Gewinn und Bereicherung. Das Gegenteil ist der Fall: Einige europäische Länder drohen angesichts ihren intoleranten, voraufklärerischen Parallelgesellschaften in ihrem sozialen Gefüge auseinanderzubrechen, zudem wächst auch der Boden für den Terrorismus.
Was als eine immaterielle Gefahr beginnt, wird schnell zu einer materiellen, die Lebensgrundlagen bedrohenden Gefahr, die schon längst gravierende Folgen entfaltet hat. Betroffen sind in erster Linie die Einwanderungsländer, in denen eine zahlenmäßig relevante muslimische Minderheit lebt. Wie die Einwanderung treffen der Terrorismus und der Antisemitismus zunächst die verletzlicheren Teile der Gesellschaft, ehe diese sich auf alle Teile auswirken. Auch hier stehen die Glaubwürdigkeit und die demokratische Legitimation der Europäischen Union auf dem Spiel, da jene diese Probleme nicht glaubwürdig zu lösen vermochte, ja noch vielmehr mit ihrer Politik die Einwanderung und die Migration aus außereuropäischen Ländern Tür und Tor öffnete – sehr zum Leidwesen der mittel- und osteuropäischen Gesellschaften, die an diesem Menschenexperiment nicht teilzunehmen gedenken.
Schlussfolgerung
Diesen hier beschriebenen Tendenzen und Gefahren effektiv entgegenzuwirken, bedarf es eines umfangreichen Neuansatzes. Die Meinungseliten und Entscheidungsträger aus dem alten Machtzentrum müssten viel mehr an Wissen, Erfahrung und Verständnis für die Ideen, Herangehensweisen und Befindlichkeiten der Menschen in den Ländern Ost- und Mitteleuropas entwickeln. Sie müssten sich einlassen auf die von zweierlei Diktaturerfahrung geprägten Länder, sie müssten verinnerlichen, dass der Osten nicht nur dazugestoßen ist, sondern auch zu einer Bereicherung des Kontinents beiträgt. Europa muss aus seiner lebendigen Mitte heraus neu gedacht und erzählt werden, hierfür stehen auch die Ungarn bereit.
Deutschland hat hierbei als Land mit einer historischen, sprachlichen und kulturellen Nähe zu Ungarn beste Voraussetzungen, als ehrlicher Makler aufzutreten, zumal ein Teil Deutschlands die Diktaturerfahrung Ungarns teilt.
Bence Bauer LL.M., Jg. 1979, Jurist, Publizist, Autor und politischer Analyst mit langjähriger Erfahrung in den deutsch-ungarischen Beziehungen, europäischer Politik, Begabtenförderung, Verlagswesen und politischer Bildungsarbeit in Berlin, Brüssel und Budapest. Seit 2020 leitet er das Deutsch-Ungarische Institut für Europäische Zusammenarbeit.
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