Roland Appel empfiehlt den Grünen zurück zu ihren Wurzeln, skizziert eine Partei der linken Mitte. Innerhalb aller schon länger etablierten Parteien rumort es.
Die meisten Inhalte des Wahlkampfes 2017 waren angesichts der Zukunftsaufgaben eine Verhöhnung der Wahlbürger*ìnnen. Europa steht vor einer der radikalsten technischen Revolutionen durch die sogenannte Wirtschaft 4.0.. Bildung, Bürgerrechte, Arbeit und soziale Sicherheit stehen zur Disposition, aber für CDU und SPD fand das Thema im Wahlkampf nicht statt. Die Kriegsgefahr auch in Europa, vor allem aber in Nahost wächst, aber die Friedenspolitik spielte keine Rolle. Niemand betreibt wirkliche Fluchtursachenbekämpfung. Sklavenhandel und Abschottung Europas sind Programm aller Parteien außer der Grünen. Ob es eine GroKo gibt oder ob andere Formen der Zusammenarbeit die nächste Regierung stützen, es zeichnet sich ab, dass der Abbau von Bürgerrechten, die Erleichterung der Überwachung von Bürger*innen durch Staat und private Konzerne in den kommenden Jahrern weiter wachsen werden. CDU und CDU okkupieren seit 1982 – mit einer kurzen, aber nicht programmatisch anderen Unterbrechung durch Otto Schily – die Innenministerien. Trotzdem oder gerade deshalb gibt es kein Jota mehr Sicherheit, weil niemand die Frage den Ursachen von Terror und Gewalt stellt. Stattdessen wurden bei NSU und Anis Amri Behördenschlampereien zielgerichtet vertuscht. Die Grünen haben es bisher jedoch nicht verstanden, sich dem illiberalen Treiben entgegen zu stellen und wie einst Gerhart Baum eindeutig für Bürgerrechte in diesem Land strategisch zu positionieren – ein politisches Armutszeugnis!
Das erfordert, dass sie als Partei nicht nur in den Parlamenten und Regierungen handeln, sondern wieder stärker in außerparlamentarischen Bewegungen, Gewerkschaften und Institutionen zugehen, außerparlamentarisch präsent sind, wie es einmal ihre erfolgreiche Strategie war. Es muss wieder selbstverständlich werden, dass Grüne als Aufrufer und als Redende in außerparlamentarischen Bündnissen, z.B. bei „Freiheit statt Angst“ gegen den Überwachungsstaat, bei der Unterstützung der Braunkohlegegner im Rheinland und in Brandenburg, bei Aktionen der Friedensbewegung, feministischen Aktionen und sozialen Initiativen gegen Arbeitsplatzabbau, in der Flüchtlingsbewegung und gegen Neonazis und Pegida aktiv dabei sind. Auch der G-20 Gipfel wäre vielleicht anders verlaufen, wenn sich Grüne im Vorfeld und mit gewaltfreien Aktionen anders eingemischt und sich danach nicht kritiklos auf die Seite der Polizei gestellt hätten. Viele solcher Initiativen werden an Bedeutung gewinnen.
Aber wie soll das geschehen? Es ist an der Zeit, die Grünen Strukturen, die noch aus der Zeit der 90er – parteiinternen Grabenkämpfe um Regierungsbeteiligung oder nicht – stammen, zu reformieren. Grüne müssen den politischen Diskurs in der Partei und nach außen direkter und klarer organisieren, wenn sie 2021 ein besseres Ergebnis als 2017 bei der Bundestagswahl erzielen und nicht wieder kleinste Fraktion bleiben wollen. Und sie müssen wieder gesellschaftlich auch außerparlamentarisch wahrgenommen werden, als Partei agieren, indem sie gesellschaftliche Debatten anstoßen. Zuhören, statt zu belehren. Den eigenen Parteisumpf verlassen und wieder Unternehmer*innen, Künsterl*innen und Intellktuelle ansprechen. Was Willy Brandt einst schaffte – welcher anderen Partei wäre es zuzutrauen als den Grünen?
Der Parteivorstand selbst muss sein Gewicht zur Integration von gesellschaftlichen Initiativen stärken. Er muss der Partei ein eigenes Gewicht verschaffen, das über die Tagespolitik der Fraktionen hinaus reicht. Ein Fehler der Grünen war es seit dem Einzug in die Parlamente, dass sie es nie verstanden haben, dass es einen Unterschied von klarer Parteiprogrammatik einerseits und kurzfristigen Kompromissen in Koalitionen gibt. Sie haben diese Diskrepanz selbst kaum ausgehalten und ihren Wähler*innen nie erklären können. Das hat zu unnötigen Frustrationen geführt und das müssen sie ändern. Es reicht hierzu nicht aus, wenn außer den SprecherInnen, Geschäftsführer und Schatzmeister nur die Frauenpolitik und Kirchen- oder Religionspolitik als gewähltes Personal den Bundesvorstand bilden. Die Zukunft der Arbeit in der Wirtschaft 4.0 mit neuen Arbeitsformen im Dialog mit den Gewerkschaften ist ebenso entscheidend wie die Grund-, Freiheitsrechts- und Medienpolitik in der digitalen Gesellschaft. Die Stärkung und Unterstützung der energiepolitischen und verkehrspolitischen Bürgerinitiativen ebenso wie die Zusammenarbeit mit Initiativen gegen Rassismus, Antisemitismus und gegen Rechts. Das gilt ebenso für Initiativen im Sozialbereich, von Hebammen bis zu den Pflegekräften. Malte Spitz hat übrigens vorgemacht, wie es geht. Hier muss die Grüne Partei wieder kampagnenfähig und interventionsfähig vor Ort präsent werden und für Initiativen ansprechbar sein und koordinierend wirken. Es bedarf einer Zahl von mehreren politischen Positionen – stellvertretenden Bundesvorsitzenden etwa – um gesellschaftlich als Partei interventionsfähig zu werden. Einer ehemaligen Gesundheitsministerin Barbara Steffens etwa wäre eine solche Aufgabe wie auf dem Leib geschrieben, wieso gehören die Grüne Gewerkschafterin Annelie Buntenbach oder Bürgerrechtler wie Peter Schaar nicht einem solchen Gremium mit beratender Stimme an? Grüne lassen, so könnte man meinen, ihre politische Kompetenz verkommen!
Die Grünen müssen sich innerparteilich stärker für inhaltliche Diskussionen und Strategiefragen öffnen. Nicht zur entschiedenen Frage Regieren ja oder nein, sondern wie sie als richtig erkannte Themen nach außen tragen. Es macht keinen Sinn, nach verbrecherischen Abgasmanipulationen der Automobilindustrie die Dieselfahrer, die selbst Opfer sind, mit belehrenden Grünen Vorschlägen zu verprellen oder sie gar zu Tätern zu machen. Die DUH hat hier als außerparlamentarische Initiative die eindeutig bessere Strategie als die Grünen mit ihrer – inzwischen zurückgenommenen – Forderung nach dem Verbot des Verbrennungsmotors ab 2030. Deswegen wäre eine Parteireform sinnvoll, die den Mitgliedern an der Basis und Experten von außerhalb mehr Mitwirkungsmöglichkeiten an strategisch wichtigen Diskussionen ermöglicht. Der „Länderrat“ ist ein rein auf die Regierungspraxis zugeschnittenes Gremium, in dem die Parteibasis so gut wie nicht vertreten ist, Fraktionen und Regierungsmitglieder im eigenen Saft schmoren. Das ist ein Gremium, das sich selbst unter Wert handelt. Es muss breiter aufgestellt und für die Parteibasis attraktiver werden, sich dort bei den Grünen zu engagieren. Stattdessen sollte es wieder einen „kleinen Parteitag“ geben, dessen Mandate proportional zur Mitgliederzahl und den Landesverbänden vergeben werden und dem auch die Mitglieder des erweiterten Bundesvorstandes angehören.
An Robert Habecks Kandidatur findet dieses alte Spiel möglicherweise eine unselige Fortsetzung. Es ist zu befürchten, es wird keine Diskussion darüber geben, welche Persönlichkeit die Partei an der Spitze braucht, um in den kommenden vier Jahren erfolgreich zu sein, sondern es ist bereits von wem auch immer vorherbestimmt, dass die Satzungsfrage „Lex Habeck“ zum „letzten Kampf“ der Fundamentalisten, erklärt wird. Die Öffentlichkeit sucht eine Gattung, die längst ausgestorben ist und am Ende wird es – egal wie es ausgeht – wieder „Sieger“ und „Verlierer“ geben. Es geht um 70% für eine Satzungsänderung und es wird „Verrat“ geschrien werden und selbst wenn es nur wenige wären, die in dieser „Entscheidungsschlacht“ unterliegen. Es werden wieder gute Leute die Grünen verlassen, die wir doch eigentlich brauchen, die zusammengeführt werden sollten. Wünschbar wäre, dass das sich die Partei gemeinsam auf einen Weg der Diskussion begibt, um das zu ändern. Manche „Realos“ scheinen das nicht zu wollen, sondern wollen die Gelegenheit nutzen, um auch noch die Frauenquote zu schleifen – ein Signal, das an politischem Selbstmord grenzt.
Stattdessen sollten Grüne lieber beginnen, in der Diskussion um ihr Grundsatzprogramm mit der angeblichen Geschichtslosigkeit aufzuräumen, die sich als Legende seit der Gründung um die Partei rankt. Die Grünen sind entstanden aus der Ökologiewegegung, der Frauenbewegung, der Friedensbewegung und der Bürgerrechtsbewegung. Sie waren strukturell von ihrer Gründung an eine linksliberal-sozialökologische Partei des bürgerlichen Spektrums. Arbeiter und Arbeiterkinder waren und sind bei ihnen ebenso in der Minderzahl wie in den CDU-Sozialausschüssen, den Jungdemokraten, den Jusos und der „Linken“. Soziologisch wie programmatisch sind sie heute die linksliberale Partei, die es in verschiedenen Formen seit 1848 in Deutschland immer wieder gegeben hat, ob als linker Flügel in der Paulskirche, ob als zwei Parteien des Liberalismus in Weimar, des linksliberalen Flügels, als die FDP noch den politischen Liberalismus im Sinne von Dahrendorf und Flach umfasste oder der basisdemokratischen Partei „Die Grünen“ mit vielen 68ern und Aussteigern aus SPD und FDP nach Ende der sozialliberalen Koalition sowie als Erbin der DDR-Bürgerrechtler.
Das Label „Partei der linken Mitte“, ist viel zu oberflächlich, reicht bei weitem nicht aus, um Grünes Profil und Verortung im Parteienspektrum zu beschreiben und sollte in der Diskussion über ein neues Grundsatzprogramm mit Mut zur Geschichte neu definiert werden. Zumal sich in den Sondierungen gezeigt hat, dass die FDP nicht abgeneigt scheint, in den kommenden Jahren in Teilen und zeitweise noch weiter nach rechts zu gehen.
Wenn die Grünen das „radikaldemokratisch“ von Radix (lat. die Wurzel) ernst nähmen, würde dies in der Tat keinen Rechtsruck, sondern eine Rückbesinnung auf die eigenen Werte und Wurzeln bedeuten, die der Partei in der Regierungsarbeit aus der Sicht von Kritikern inzwischen verloren gegangen sind. Die Grünen haben ebenso wie die SPD eine Menge Wählerinnen und Wähler zurück zu gewinnen, die sie durch den Kosovo-Krieg und die Zustimmung zu vielen Auslandseinsätzen der Bundeswehr, durch die Agenda 2010 und auch durch bevormundend erscheinende Politikkonzepte, wie den Veggie-Day oder dem Verbot von Verbrennungsmotoren ab 2030 verprellt haben. Vor allem aber müssen sie sich bemühen, die gesellschaftliche Basis zurück zu gewinnen, denn für viele Grüne der 80er Generation ist die Grüne Partei inzwischen zum bürgerlichen Karriereinstrument geworden, die zwar mit „Jamaica“ kein Problem hat, aber den Rückhalt bei mancher außerparlamentarischen Initiative verloren hat.
Roland Appel ist einer der Sozialliberalen, die 1982 die FDP verließen. Von 1990 bis 2000 war er Mitglied des Landtages von NRW und ab 1995 einer der beiden Fraktionsvorsitzenden der Grünen. Seit 2000 ist Appel Unternehmensberater.
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All das, was Herr Appel hier ausbreitet, liest und hört man doch nicht zum ersten Male; denn überall und jederzeit werden schließlich seit vielen Jahren die Bürger dieses Landes mit solchen Wahrnehmungsstörungen belästigt.
Mittlerweile lese ich solche Artikel, die in die Nähe von Glaubensbekenntnissen geraten, nicht mehr zu Ende.
Äh… ist das Satire? Falls nein, wäre dieser Text nicht in der „Zeit“ oder in „Neues Deutschland“ besser aufgehoben als hier? Ich mein ja nur…
Die Grünen waren schon immer Realitätsverweiger und ihren Grünen Ideologie verfallen. Jahrzehnte sich der Vernichtung der Kernkraft auf die Fahne geschrieben, Technologiefeindlichkeit und Bevormundungen des Bürgers. Gewählt hat diese Klientel der / die gutverdienende gutsituierte Gesellschaft von Beamten und im öffentlichen Dienst stehende linksdenkenden Gesellschaftsteile. Fern ab jeglicher Realität wurde am Industriestandort Deutschland gesägt und das mit stetigen Erfolg. Die anderen Parteien folgten diesen Unsinn mit zeitlicher Verzögerung und es wurden Milliarden Euro an Investitionen zu Grunde gerichtet. Von Wiederaufbereitungsanlage mit weltweit fortschrittlichster Technologie über modernsten sichersten KKW’s, Transrapid, Aluminiumwerke, Schwerindustrie Komponentenbau, kein Industriestandort der nicht betroffen ist. Nun geht’s… Mehr
Lieber Herr Krall, die „Annäherung an die Flüchtlingsfeindlichen“ ist schlichter Unsinn. Niemand hat etwas gegen Flüchtlinge die auf der Flucht vor politischer, religiöser oder rassistischer Verfolgung sind. Die AFD und Pegida haben aber mit Recht etwas gegen Kriminelle, welche auf der Flucht vor der heimischen Justiz sind und Einwanderer in die Sozialsysteme, die lediglich bis an das Ende ihrer Tage abkassieren wollen. Diesen Unsinn sollten die Grünen nicht fortsetzen, wenn sie irgendwann mal mitregieren wollen. Wenn sie den Sozialstaat mit ihrer derzeitigen Politik ruiniert haben, wird aus der Regierungsbeteiligung auch in tausend kalten Wintern nichts werden.
Meine Meinung dazu: die Grünen sind heute komplett überflüssig. Warum? Weil die Themen, mit denen sie groß geworden sind, inzwischen alle abgearbeitet sind. Und nur deshalb braucht es auch einen so langen Artikel, um zu erkären, warum sie doch nicht überflüssig sind. Als sie noch gebraucht wurden, hätten drei Worte gereicht: Atomstaat – Waldsterben – Natonachrüstung.
Herr Appel und wie er die Welt sieht. 🙂
Selten so gelacht am frühen Morgen. Fast wäre mein Kaffee in der Tastatur gelandet.
Aber nun ja, fanget den Tag fröhlich an! Steht das nicht schon so in der Bibel? 🙁
Ein wunderbarer Blick in die völlig verworrene Welt der Grünen. Sehr schön.
Abschottung habe ich gelesen. Neo-Nazis von der AfD. Soll ich dem Mann jetzt mit einem Scheibenwischer antworten? Soviel an Wirklichkeitsverlust. Flüchtlinge. Wieviele, von denen die hierher kommen und zuhause bitter gebraucht würden, sind Flüchtlinge in des Wortes wahrer Bedeutung. Aber zurück. Eine solche Verharmlosung der Nationalen Sozialisten (und gleichzeitig Hetze gegen andere) verlangen schon mehr als eine angegrünte Brille. Neigt Tichys Einblick mittlerweile zum Masochismus, einem solchen Mann Raum zu geben??? Nein!!!! Es ist wichtig und gut, damit dem geneigten Leser wieder einmal klar wird, woher die Gefahren drohen. Übrigens, Herr Appel möchte doch bitte einmal in die Gründungsgeschichte seiner… Mehr
Brillianter Artikel. Mir hat folgende Passage am besten gefallen: „Soziologisch wie programmatisch sind sie heute die linksliberale Partei, die es in verschiedenen Formen seit 1848 in Deutschland immer wieder gegeben hat, ob als linker Flügel in der Paulskirche, ob als zwei Parteien des Liberalismus in Weimar, des linksliberalen Flügels, als die FDP noch den politischen Liberalismus im Sinne von Dahrendorf und Flach umfasste oder der basisdemokratischen Partei „Die Grünen“ mit vielen 68ern und Aussteigern aus SPD und FDP nach Ende der sozialliberalen Koalition sowie als Erbin der DDR-Bürgerrechtler.“ Mal abgesehen davon, dass „linksliberal“ möglicherweise ein Oxymoron ist, finde ich es… Mehr
Sehr geehrter Herr Appel, Danke für Ihren Artikel. Sie bestätigen, daß es Zeit wird, daß die Öko – Sozialisten schnell und endgültig von der politischen Bildfläche verschwinden. Die Zeit für konservativ – liberale Kräfte ist gekommen, um Demokratie und Rechtsstaatlichkeit wieder herzustellen. Gruß PD