Hochsommer. Der parlamentarische Betrieb ruht im Deutschen Bundestag. Nur noch eine Kantine hat geöffnet. Viele Eingänge sind geschlossen. Man braucht weite Wege, um zum Ziel zu kommen. Alle zehn Meter kommt eine Absperrung für Reparaturarbeiten. Viele Abgeordnete halten ihre Büros in Berlin geschlossen und lassen sich die wenige Post in den Wahlkreis nachsenden. Auch Interessenverbände und Lobbyisten hören für einige Wochen mit der Dauerbespielung der Bundestagsabgeordneten auf.
Den Abgeordneten des Deutschen Bundestages und ihren Mitarbeitern sollten sogar noch ruhigere Tage bevorstehen. In einer E-Mail vom 30. Juli kündigte Bundestagspräsident Norbert Lammert seinen Abgeordnetenkollegen an, dass aufgrund der Cyberattacke auf den Bundestag im Frühjahr das gesamte IT-System zwecks Neuaufsetzung für vier bis fünf Tage abgeschaltet werden müsste. Am 13. August ab 17 Uhr sollte es soweit sein. Ohne Internet und Intranet läuft im Bundestag gar nichts mehr. Die Zeiten von mit Drucksachen überhäuften Postfächern sind lange vorbei.
Zwangsurlaub?
Viele freuten sich über den Zwangsurlaub. Endlich konnte man mal abschalten, ohne die Gewissheit zu haben, dass jeder arbeitsfreie Tag ein nicht bearbeitetes E-Mail-Aufkommen im dreistelligen Bereich bedeuten könnte. Aber aus der fast schon nicht mehr gekannten Entschleunigung aus analogen Tagen wurde nichts. Das deutete sich jedoch erst peu à peu an.
Noch am 5. August werden wir Abgeordnete von der Verwaltung über die konkreten Auswirkungen der Abschaltung des Bundestagsnetzwerkes informiert. Besuchergruppen können an diesen Tagen nicht mehr über das entsprechende Portal angemeldet werden; spontane Kuppelbesuche nicht mehr möglich sein. Obwohl die Bundestagsverwaltung voll auf den Abschalttermin fokussiert ist, kommt in den folgenden Tagen eine latente Unruhe auf, die noch von Volker Kauders Kommentar, Euro-Abweichler als Strafmaßnahme in andere Ausschüsse zu versetzen, verstärkt wird.
Griechenland-Hilfe im Informations-Loch
So erkundigt sich zum Beispiel am 12. August der Mitarbeiter eines Abgeordneten in meinem Büro nach dessen Einschätzung, wann denn die Griechenland-3-Abstimmung anstehen könnte. Der Chef mache in den Alpen mit den Kindern eine Hüttenwanderung und befürchte, dass er den Kurzurlaub abbrechen müsse, obwohl er ihn gerade auf die internetfreie Zeit gelegt hätte. Da über die offiziellen Kanäle nichts zu erfahren sei, solle sich der Mitarbeiter einmal bei mir erkundigen, da ich ja ein gutes Näschen in Sachen Euro-Rettung hätte. Der Kollege ist nicht alleine. Ein anderer ist ohne iPad auf Wanderschaft.
„Vertraulich“ – was Wähler nicht wissen sollen
Just am gleichen Tag, um 12:38 Uhr erhalte ich die Haushaltsausschuss-Drucksache 18/2194. Ich darf zwar aus gewissen Gründen kein Mitglied des Haushaltsausschusses mehr sein, kämpfte aber erfolgreich dafür, wenigstens auf dem Dokumentenverteiler zu bleiben. Das ist an Tagen wie diesen Gold wert. Die Drucksache – weder mit einer Erklärung in der E-Mail noch mit einem plausiblen Dateinamen versehen – besteht aus einem 34-seitigen englischsprachigen Dokument, das den Titel „Memorandum of Understanding for a three-year ESM programme“ trägt. Auf jedem Seitenkopf ist rot vermerkt „VS – Nur für den Dienstgebrauch / Die Bundesregierung macht sich den Inhalt nicht zu eigen.“ Die ersten 30 Seiten beinhalten die Vereinbarung zwischen der Troika und der griechischen Regierung über ein neues 86 Milliarden Euro schweres Hilfspaket. Seitenweise sind dort Maßnahmen aufgelistet, wie Griechenland seine Probleme in den Griff bekommen soll und will.
Wer sich bis zum Ende des Dokumentes durchgearbeitet hat, wird belohnt. Die folgenden vier Seiten sind zwei mit dem MoU zu einem PDF zusammengefügte Anlagen, die beide nochmals mit einem dicken Querbalken als „CONFIDENTIAL“ gekennzeichnet sind. Bei den Anlagen handelt es sich um zwei Zeitpläne für den bevorstehenden Bailout. Für den Zeitraum zwischen dem 14. und 18. August sind dort „National procedures on the MoU, the MD proposal for FFA, the draft FFA, and on first disbursement”, also die Beschlussfassung in den nationalen Parlamenten für das neue Programm sowie die Auszahlung der ersten Tranche, vorgesehen! Am Ende des Ablaufplans steht der 20. August. An diesem Tag werden bei der EZB griechische Staatsanleihen in Höhe von 3,188 Milliarden Euro fällig. Um diesen Termin auf keinen Fall zu reißen, fahren die Euro-Retter zweigleisig. Die zweite Anlage beinhaltete den Ablaufplan für eine erneute Brückenfinanzierung über den EU-Topf EFSM.
Mein Mitarbeiter fragt daraufhin im Büro des Bundestagspräsidenten nach, wann denn die Einberufung der Sondersitzung des Deutschen Bundestags erfolgen und die Verschiebung der Internet-Abschaltung verlautbart würde. Das Präsidialbüro gibt sich bedeckt, verkündet dann doch aber wenige Stunden später: „Um Vorbereitungen für mögliche Sitzungen in der kommenden Woche nicht zu beeinträchtigen, werden die vorgesehenen Arbeiten zunächst verschoben.“ Von einer Sondersitzung ist keine Rede.
Keine Schuldentragfähigkeit
Am Dienstagnachmittag berichtet BILD Online unter der Überschrift „Bundesregierung lehnt Griechen-Rettungsprogramm ab“ über ein Papier aus dem Finanzministerium. In dem Dokument soll das BMF einige kritische Punkte zum ausgehandelten MoU aufgezeichnet haben. Wenn die BILD den Inhalt des BMF-Papiers richtig wiedergibt, kann der Bundestag dem dritten Griechenland-Hilfspaket unmöglich zustimmen. So besteht laut BMF keine Schuldentragfähigkeit, die Rolle des IWF ist offen, hinter den von griechischer Seite versprochenen Privatisierungen sieht das BMF ein großes Fragezeichen. Auch wird bemängelt, dass Griechenland zwar sofort auf eine milliardenschwere erste Tranche schielt, die vereinbarten Maßnahmen aber nicht vor Oktober bzw. November umsetzen will.
Mein Mitarbeiter bittet das Büro des neuen und für die „Euro-Rettung“ zuständigen Parlamentarischen Staatssekretär Jens Spahn telefonisch um die Übermittlung des Dokuments. Das BMF ist dazu gemäß Art. 7 Abs. 2 ESMFinG verpflichtet. Im Gesetz heißt es: „Die Bundesregierung übermittelt dem Deutschen Bundestag alle ihr zur Verfügung stehenden Dokumente zur Ausübung der Beteiligungsrechte des Deutschen Bundestages.“
Das Büro des Staatssekretärs versichert meinem Mitarbeiter, dass es das Dokument „in dieser Form“ nicht gebe. Es gebe nichts zum Übermitteln. Unter der Hotline des bundestagsinternen Europa-Informationssystem EuDoX ist leider am späten Nachmittag niemand mehr zu erreichen. EuDox wurde einst geschaffen, um die Flut von EU-Dokumenten zu kanalisieren. Ich habe dort mehrere Newsletter zu den Themen „ESM“, „Haushalt“, „Griechenland“ usw. eingerichtet. Wer keinen Newsletter eingerichtet hat, muss theoretisch gezielt in der Datenbank nach Dokumenten suchen. Der komplizierte Umgang mit EuDoX stellt Abgeordnete und ihre Mitarbeiter immer wieder vor Probleme, sodass die Verwaltung sogar Schulungen dazu anbietet.
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