Füllt eine politische Ideologie mit religiösen Zügen das geistige Vakuum Europa?

Die widerstandslose Toleranz der Deutschen gegenüber dem Fremden entspricht einem uneingestandenen Bedürfnis nach Selbstaufgabe. Unser Kontinent war immer schon ein Nährboden der Extreme – und extrem ist heute der Zweifel an der eigenen Lebensform.

Zwischen dem 17. und dem 20. Jahrhundert, als die Wissenschaften ihren Siegeszug antraten, machte sich der moderne Europäer zunehmend weniger aus dem überkommenen Erbe der Religionen. Er konnte den köstlichen Zustand einer Aufklärung genießen, die ihm erlaubte, in ihnen nicht mehr zu sehen als eine Art besonderer Museumsstücke, die man toleriert und vielleicht sogar bewundert, aber sich keineswegs ins eigene Haus stellen muss. Vor dem Hintergrund dieser Toleranz bereitet es keine Schwierigkeit, den Islam als zu Deutschland gehörig zu bezeichnen, oder zu Österreich, Frankreich oder England. Wer fürchtet sich schon vor einem Museumsstück?

Die USA bleiben seltsam christlicher Kontinent – aber wie steht es um Europa?

Diese Haltung der toleranten Sorglosigkeit kam nicht von ungefähr. Sie war das Ergebnis einer Revolution, die einen alternativen Weg zur Wahrheit aufgezeigt hatte: die Wissenschaft von der Natur und darauf fußend jener außerordentliche materielle Fortschritt und Wohlstand, der gleichsam die Wahrheit der neuen Weltsicht verbürgte. Die Verheißungen der Wissenschaften wirkten ebenfalls wie eine Art der Religio oder Gemeinschaftsbindung.

Denn Wahrheit wird ja wesentlich an ihrem Erfolg bemessen, so hat es Ludwig Boltzmann einmal gesagt: „Nicht die Logik, nicht die Philosophie, nicht die Metaphysik entscheidet in letzter Instanz, ob etwas wahr oder falsch ist, sondern die Tat. Darum halte ich die Errungenschaften der Technik nicht für nebensächliche Abfälle der Naturwissenschaft, ich halte sie für logische Beweise. Hätten wir diese praktischen Errungenschaften nicht erzielt, so wüssten wir nicht, wie man schließen muss. Nur solche Schlüsse, welche praktischen Erfolg haben, sind richtig.“ (Boltzmann, zit. aus Max Scheler. 1926.)

Im Umkehrschluss bedeutet dies allerdings – und das hatte Boltzmann wohl nicht vorhersehen können -, dass der Glaube an die heilsbringende Macht der Wissenschaft in dem Augenblick erodieren musste, wo dieser Erfolg auszubleiben begann oder sich gar in einen Misserfolg verwandelt. Seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erleben wir diese Erschütterung: Wissenschaft und Technik, die neuen Heils- und Hoffnungsträger, können als Beschreibungen des Seins keine Lieferanten von Sinn und Sollen sein. Sie stellen deswegen auch keine affektiven Bindungen zwischen Menschen her (außer den funktionalen des techno-ökonomischen Apparats), anders als Religionen schaffen sie auch keine auf Werten begründete Gemeinschaften. Was die Natur angeht, so haben sie sich aus Herrschaftsinstrumenten mehr und mehr in unheimliche, zerstörerische Mächte verwandelt. Die Erschöpfung der natürlichen Ressourcen, die Erwärmung des Klimas, die Vernichtung der Arten, die Vergiftung von Luft, Wasser und Erde, vor allem aber die Gefahr der Selbstauslöschung durch ein nukleares Potenzial, das in einer polyzentrischen Welt sprungartig anwächst, sind die unmittelbaren Folgen unseres exponentiell gewachsenen technologischen Wissens und Könnens. Der ursprüngliche Segen, der noch vom fortschrittsgläubigen 19. Jahrhundert mit religiöser Inbrunst beschworen wurde, droht heute in einen Fluch umzuschlagen. Die materielle Sättigung, die immer weniger den Bedürfnissen eines erfüllten Lebens dient, immer mehr dagegen der Selbsterhaltung der ökonomischen Maschinerie selbst, wird von vielen als bedrückend wahrgenommen.

So ist es wenig erstaunlich, dass der wunderbar schwebende Zustand einer aufgeklärten Gesellschaft, die sich den Luxus leistet, alles zu tolerieren und nichts wirklich ernst zu nehmen, in Dämmerung übergeht. Die Menschen sehen sich wieder nach Wahrheiten um, die mehr verlangen als bloße Toleranz, sie suchen nach herrischen, fundamentalen, unantastbaren Wahrheiten, die von jedem Unterwerfung unter bestimmte Identitäten verlangen. In den USA ist diese Entwicklung längst unübersehbar. Der Kreationismus und eine Vielzahl religiöser Erweckungsbewegungen zielen in die Richtung neuer Gemeinschaftsbildung: Religion als Religio. Auf der politischen Ebene sind es die Konservativen, welche die Rückbesinnung auf fundamentale Werte einfordern. Im Visier ist der „Scheißliberale“, nämlich genau jener Mensch, der die Vieldeutigkeit der Welt ebenso akzeptiert wie die Vielfalt der Werte. Die echten Gläubigen hassen ja den Andersgläubigen, der ihnen im Grunde ähnlich ist, nicht so sehr wie den toleranten Ungläubigen, der den Glauben als solchen in Frage stellt. Die US-amerikanische Gesellschaft ist zutiefst gespalten in das Lager der „Scheißliberalen“ und das der selbstdeklarierten Gläubigen. Das Christentum trägt dort höchst aggressive Züge, wobei der Zweifel an den Wissenschaften ausgeprägt antiwissenschaftliche Umtriebe produziert (natürlich außerhalb der immer noch führenden Spitzenuniversitäten des Landes). Mit großer Wahrscheinlichkeit werden die Vereinigten Staaten auch in Zukunft das bleiben, was sie seit ihrer Gründung sind: ein seltsam christlicher Kontinent.

Für Europa scheint mir das keineswegs ausgemacht, obwohl Zeugnisse von überwältigender Schönheit, sei es in der Architektur, der Musik, der Malerei und Skulptur, sowie Zeugnisse von überragender geistiger Eminenz vor allem hier entstanden sind: im christlichen Europa. Unser Kontinent war allerdings immer schon ein Nährboden der Extreme – und extrem ist heute der Zweifel an der eigenen Lebensform. Wie sehr der vernunftbestimmte, aufgeklärte Relativismus inzwischen mit dem Überdruss an sich selbst kämpfen muss, beweist jeder noch so oberflächliche Blick in unsere Buchhandlungen: Am meisten verkauft werden Werke der Esoterik. Das Bedürfnis nach Wahrheiten, seien sie auch noch so abstrus, die man nicht nur toleriert (und damit letztlich negiert), sondern die eben deswegen wahr sind, weil sie keinen Widerspruch dulden, dieses Bedürfnis scheint inzwischen in weiten Teilen der Bevölkerung verbreitet. Das Eigene wurde suspekt, die Kirchen sind leer, der Fortschrittsglaube des 19. Jahrhunderts ist einem Fortschrittspessimismus, ja einer Fortschrittsangst gewichen. Wenn das Eigene und die Vernunft nichts mehr gelten, dann erhofft man sich insgeheim die Rettung von deren Leugnung: nämlich vom esoterisch Fremdartigen. Die widerstandslose Toleranz der Deutschen gegenüber dem Fremden hat in meiner Sicht einen tieferen Grund: Sie entspricht einem uneingestandenen Bedürfnis nach Selbstaufgabe. (Über einen Witz kann und sollte man lachen. Aber der Film „Fuck you Goethe“ ist mindestens ebenso ein Symptom wie ein Witz.)

Große Umwälzungen geschehen oft überraschend schnell. Zu Beginn des siebten Jahrhunderts war der gesamte vordere Orient einschließlich Nordafrikas – insgesamt ein Gebiet nahezu von der Größe Europas – christliches Territorium. Ich nehme an, es war ein sattes, an sich selbst zweifelndes Christentum, denn der Islam hatte wenig Mühe, dieses Gebiet in kürzester Zeit zu überrennen. Ohne die Bereitschaft zur Soumission (Selbstaufgabe) – so der Titel eines Bestsellers von Michel Houellebecq -, wäre eine so gründliche, innerhalb weniger Jahrzehnte abgeschlossene Transformation ganz gewiss nicht möglich gewesen. Nicht weniger blitzartig erfolgte die Eroberung der halben Welt durch den Kommunismus – auch in diesem Fall stieß die erobernde Macht in ein Vakuum. Ich fürchte, dass Europa sich gegenwärtig in einer ähnlichen Lage des geistigen Vakuums und Selbstzweifels befindet. Die Ausfüllung dieses Vakuums muss nicht vom Islam ausgehen; eine politische Ideologie mit religiösen Zügen wie vor einem Jahrhundert der Kommunismus vermag den Zweck einer neuen Religio oder identitären Bindung ebenfalls zu erfüllen.

Wenn solche Vorahnungen richtig sind, werden wir wieder dorthin gelangen, wo menschliche Gesellschaften sich die längste Zeit ihrer Geschichte ja stets befinden: Das Bedürfnis nach Religio setzt sich gegen die tolerante Gleichgültigkeit durch, die ja immer nur für ganz wenige Menschen ein köstlicher Zustand geistiger Weite ist.

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