Füllt eine politische Ideologie mit religiösen Zügen das geistige Vakuum Europa?

Die widerstandslose Toleranz der Deutschen gegenüber dem Fremden entspricht einem uneingestandenen Bedürfnis nach Selbstaufgabe. Unser Kontinent war immer schon ein Nährboden der Extreme – und extrem ist heute der Zweifel an der eigenen Lebensform.

Kein Handbuch der Physik, der Chemie, der Neurobiologie sagt etwas darüber aus, was wir zu tun oder zu lassen haben. Auch in den Wissenschaften, die sich mit Mensch und Gesellschaft befassen, werden Werte bestenfalls als objektive Gegebenheiten beschrieben, so wie sie etwa zu verschiedenen historischen Zeiten in Geltung waren, aber sie werden nicht aufgestellt, vorgeschrieben, verpönt oder als zehn Gebote gesetzt. In den Wissenschaften ist dies prinzipiell unmöglich: Aus dem Sein der Welt können wir nicht auf ihr Sollen schließen. Werte, die das eigene Handeln bestimmen, sind aus unserem Wissen nicht abzuleiten, mag dieses noch so umfassend sein. Deswegen hat es neben der Wissenschaft, welche die Welt so beschreibt, wie sie ist, auch immer ein Denken darüber gegeben, wie sie sein soll – und, vor allem, wie der Mensch sich in ihr zu verhalten habe. Philosophen haben sich diese Frage gestellt, aber beantwortet haben sie vor allem die Religionen, indem sie ihren Anhängern konkrete Werte vorgaben.

Religionen sind vor allem Handlungsanweisungen

Religionen sind niemals bloße Beschreibungen der Welt – auch wenn sie in der Regel solche Beschreibungen enthalten, z.B. über den Ursprung und das Ende der Welt, die Entstehung der Menschen etc. –, Beschreibungen, die sie in der Regel mit der Wissenschaft kollidieren ließen und ihre Glaubwürdigkeit mehr oder minder in Frage stellten. Diese – meist vorwissenschaftlich-phantastischen Beschreibungen aber begründen keineswegs ihr eigentliches Wesen, denn Religionen sind vor allem Handlungsanweisungen. Ihre Kernsätze lauten immer „Du sollst!“, und „Du sollst nicht!“ Die zehn Gebote des Christentums gehören ebenso zu diesem Kern wie die Scharia des Islam.

Aus ihren konkreten Gesetzen und Verboten beziehen Religionen ihre Bedeutung für die Gesellschaft, bloße Weltbeschreibungen allein stiften keine soziale Gemeinsamkeit. Die Tatsache, dass Russen, Chinesen und Europäer im 21. Jahrhundert im Großen und Ganzen dasselbe wissenschaftliche Weltbild besitzen, schweißt sie nicht zu einer Einheit zusammen, hindert sie auch keinesfalls nicht daran, die Waffen gegeneinander zu richten, die sie mit Hilfe eben dieser gemeinsamen Wissenschaft zu immer größerer Perfektion und Vernichtungskraft entwickeln. Dagegen verfolgen die Handlungsanweisungen und Riten der Religion keinen anderen Zweck als die Bindung von Menschen im Gleichklang der Handlungen und Emotionen (Diese These hatte Emile Durkheim bereits 1912 verfochten – siehe: Die elementaren Formen des religiösen Lebens). Der Gottesdienst in christlichen Kathedralen, in muslimischen Moscheen und in hinduistischen Tempeln besteht wesentlich aus Ritualen, womit die Gläubigen soziale Gemeinsamkeit beschwören, ja überhaupt erst erzeugen. Sie tun dies in Worten, Gesängen, sakramentalen Riten ebenso wie in architektonischen Zeugnissen, die wie Chartres, Straßburg, die Freitagsmoschee von Delhi oder der Kailashnath-Tempel von Kanchipuram die sichtbaren Verkörperungen von Gemeinsamkeit sind.

Gemeinschaft herzustellen, gelingt einer Religion allerdings nur in dem Maße und auch nur so lange, wie sie Gegenstand des Glaubens und der Verehrung ist. Für die meisten Menschen in Europa trifft heute weder das eine noch das andere zu. Vorherrschend ist eine Einstellung, der die Bezeichnung als tolerante Gleichgültigkeit oder gleichgültige Toleranz noch am ehesten gerecht wird. In gewisser Weise ist diese Geisteshaltung beneidenswert, weil sie eine Duldsamkeit gegenüber unterschiedlichen religiösen Auffassungen erlaubt, die in der Geschichte selten ist, aufs Große gesehen, sogar einzigartig. Der moderne europäische Intellektuelle hat keine Scheu, alles zu bewundern und anzuerkennen. In Japan empfindet er Ehrfurcht vor den herrlichen alten Schreine von Ise inmitten eines Hains mehrhundertjähriger Bäume; in Agra erschauert er vor der metaphysischen Schönheit der beiden Moscheen rechts und links des Tadsch Mahals. Wenn er des Arabischen mächtig ist und den Koran lesen kann, dann wird er die literarische Schönheit dieses Textes bereitwillig anerkennen. Er ist imstande, in sämtlichen Zeugnissen der Religion das aufrichtige Bemühen um die Erkenntnis der Wahrheit zu würdigen, doch wird er mit Ephraim Lessing zu dem Schluss gelangen, dass die Wahrheit selbst unerreichbar ist – gerade weil sie sich in so vielgestaltigen Formen manifestiert. Buchstabengläubigkeit, wie sie jede Religion für sich verlangt, ist ihm fremd und unmöglich. Er wird in der Religion – in jeder Religion – das schöne Märchen bewundern, die Annäherung an eine letzte Erkenntnis, die dem Menschen verschlossen bleibt – ein Schluss, zu dem ja gerade auch einige der größten religiösen Denker gelangten, z.B. Pascal: Wie soll ein endliches Geschöpf die Unendlichkeit der Welt und ihres Schöpfers begreifen? Kurt Gödel, Mathematiker des vergangenen Jahrhunderts, hat die Frage auf wissenschaftliche Weise gestellt: Wie soll ein Teil des Systems dieses selbst, also das übergeordnete Ganze entschlüsseln?

Ist es mit der Haltung der distanzierten Toleranz vorbei?

Es scheint mir eine der großen geistigen Errungenschaften der vergangenen drei Jahrhunderte zu sein, dass wir fähig waren, die eigene Ohnmacht gegenüber den letzten Fragen freimütig zu bekennen. Diese Haltung erlaubt es, alle Religionen als Pfade zur Wahrheit anzuerkennen, ohne sich irgendeiner zu unterwerfen. In früheren Kulturen hat es eine solche aufgeklärte Distanz nur selten gegeben, eigentlich immer nur in den Kreisen der sozialen Außenseiter, die eben deswegen verfolgt und geächtet wurden (z.B. Sokrates, Omar Khayyam, Dschalal ad-Din Rumi). Es ist eine Haltung der distanzierten Toleranz, die sich allerdings schroff von der Einstellung der Gläubigen selbst unterscheidet, für die es immer nur ein einziges Bekenntnis zu geben vermag: Sie sind entweder Christen oder Hindus, Muslime oder Buddhisten. Oft waren sie es mit Feuer und Schwert.

Dabei ist es nicht die Weltbeschreibung und geoffenbarte Heilsgeschichte, die das Handeln der echten Gläubigen in diese Bahnen lenkt. Es ist die Funktion der Religion als Religio, d.h. als soziale, Identität stiftende Bindung. Die Außenseiter galten als gottlos, weil sie sich weigerten, ein ganz konkretes Heilsgeschehen, eine ganz konkrete Heilsgeschichte ebenso wie ganz konkrete Handlungsanweisungen als absolut wahr und verbindlich zu akzeptieren. Dadurch sonderten sie sich von der Gemeinschaft ab, denn Religio als Identität stiftende Bindung setzt immer solche Konkretheit des Rituals und der Gebote voraus. In keiner Religion ist Gott irgendwer, er ist der Jahwe des Alten Testaments, der Shiva der Puranas, der Allah des Korans, der Zeus der alten Griechen. Und dieser jeweils einzigartige Gott verlangt von seinen Gläubigen nicht die Befolgung irgendwelcher beliebiger Glaubenssätze und Riten, sondern solche, an denen seine Anhänger einander erkennen, und zwar so unverwechselbar, als trügen sie wie unsere heutigen Konferenzbesucher eine entsprechende Plakette am Revers. Er ist ein Gott, der eine bestimmte Identität besitzt und diese seinerseits von den Gläubigen fordert. Mystiker, die eine abstrakte Gottheit verehrten, mussten dies überall auf der Welt bitter bezahlen. Sie wurden exkommuniziert oder grausam verfolgt, weil sie diese Konkretheit nicht anerkannten, den identitären Ausweis nicht tragen wollten. Sie propagierten den rätselhaften, den unbekannten, den allen weltlichen Begriffen entzogenen Gott, dem man – eben weil er unbekannt ist – nicht einmal eine menschliche Moral zuschreiben dürfe, mit anderen Worten: keine Handlungsanweisungen („Die brahmanische Mystik macht sich nichts aus der Ethik.“ – siehe Albert Schweitzer: Les grands penseurs de L’Inde.).

Die echten Gläubigen sind nie tolerant, weil sie dann zugeben müssten, dass die Wahrheit der anderen gleichwertig mit der eigenen ist. Der Glaube der anderen ist für sie bestenfalls ein halbwahres Märchen, im schlechtesten Fall ein finsterer Aberglaube, als dessen Urheber sie in der Regel den Teufel ausmachen, da Gott – ihr Gott – für solche Verirrungen auf keinen Fall die Verantwortung tragen kann. So sah der Christ des Mittelalters die Juden und den Islam (und ein echter Gläubiger und Bewahrer des rechten Glaubens, Benedikt XVI., schlug in dieselbe Kerbe). So sieht bis heute die Mehrheit der Muslime alle anderen Religionen. So sah der Protestant Luther die Katholiken, so diese die Protestanten. So sah Kierkegaard, der fanatische Protestant, seine der Religion gegenüber allzu gleichgültigen Zeitgenossen.

In der Religion als Religio, welche die Menschen zu identitären Gemeinschaften bindet, kann es immer nur ein Regelwerk von Gesetzen des Sollens und Unterlassens geben und nur eine Autorität, die diese Regeln verbürgt (den jeweiligen Gott und die ihm dienende Priesterschaft), so wie auch jeder Staat von seiner eigenen Regierung und nicht von einer fremden beherrscht werden will. Alle ökumenischen Bemühungen sind aus diesem Grund immer wieder gescheitert, wenn sie von echten Gläubigen statt von distanziert Toleranten angestrebt werden. Selbst eng verwandte Sekten und Strömungen ein und derselben Religion lassen sich nicht amalgamieren, z.B. Protestanten und Katholiken oder Schiiten und Sunniten. Zwar wäre es theoretisch ein Kinderspiel, selbst zwischen den großen Weltreligionen so etwas wie eine philosophische Synthese zu finden. Ist nicht in allen von ihnen das Lügen, Stehlen und Morden gleichermaßen verpönt (jedenfalls solange es den Umgang mit den Menschen desselben Glaubens betrifft)? Dazu könnten die Stellvertreter sämtlicher Religionen ohne weiteres ihr Placet erteilen. Wenn Religionen nichts anderes wären als philosophische Theorie, dann würde man sich im Handumdrehen auf gemeinsame Grundwerte einigen (wie von Hans Küng betont). Der Grund, warum ökumenische Synthesen sich bis heute als undurchführbar erweisen, ist untrennbar mit der Hauptfunktion aller Religionen verbunden, die jenseits der Theorie und damit auch jenseits jeder Wissenschaft liegt: Als Religio bindet Religion die Menschen durch konkrete moralische Werte zusammen. Ihre Riten und überhaupt alle konkreten Gemeinschaftsakte, die den Gläubigen ihre unverwechselbare Identität verleihen, sind weit fundamentaler als ihre heiligen Texte. Was die Letzteren betrifft, so lassen und ließen sie sich im Laufe der Geschichte die erstaunlichsten Umdeutungen gefallen: Ein Evangelium der Liebe konnte man als Aufruf zur Gewalt interpretieren, während eine aggressive Theorie durchaus mit sozialer Friedfertigkeit einhergehen kann.

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